Leitsatz (redaktionell)
Feststellungen nach SchwbG § 3:
Bei Streitigkeiten über die Feststellung einer Behinderung und des Grades der auf ihr beruhenden MdE nach SchwbG § 3 Abs 1 ist ein Vorverfahren nicht zwingend vorgeschrieben (vgl BSG vom 1976-12-16 10 RVs 1/76 = SozR 1500 § 78 Nr 7 und vom 1977-03-29 9 RVs 2/76 = Breith 1978, 802).
Orientierungssatz
1. Der Zulässigkeit der Anfechtungsklage steht nicht entgegen, daß die gleichzeitig mit dem Widerspruch erhoben worden ist. Aus SGG § 78 Abs 2, S 1, Halbs 2 folgt nicht das Gegenteil.
2. Die Durchführung eines Vorverfahrens aus Gründen reiner Formalität ist nicht zwingend erforderlich. Rechtsdogmatische Erwägungen, wonach ein Vorverfahren unentbehrlich ist, sind durch die Neuordnung der SGG §§ 78 Abs 2 und 85 Abs 4 überholt (vergleiche BSG Urteil vom 1977-08-02 9 RV 102/76).
3. Der Begriff der "Leistung" in SGG § 78 Abs 2 S 1 bezieht sich nicht bloß auf Geld- oder Sachbezüge, sondern allgemeiner auf eine von einem öffentlichrechtlichen Verwaltungsträger zu bewirkende Handlung, die dieser Träger aufgrund seiner sozialrechtlichen Aufgabenstellung wahrzunehmen hat und aus der für den einzelnen ein rechtlicher Vorteil erwächst.
Normenkette
SGG § 78 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1974-07-30, § 85 Abs. 4 Fassung: 1974-07-30; SchwbG § 3 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Schleswig (Entscheidung vom 19.03.1976; Aktenzeichen S 5 V 60/75) |
Tenor
Auf die Revisionen des Klägers und des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 19. März 1976 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Es ist darüber zu befinden, ob in Streitigkeiten über die Feststellung einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Schwerbeschädigtengesetz - SchwbG -) vor Erhebung der Anfechtungsklage ein Vorverfahren stattzufinden hat.
Das Versorgungsamt hatte als Behinderungen "geringe Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule und an den Kniegelenken ohne wesentliche Funktionsstörungen" festgestellt. Den Grad der MdE hatte es auf 20 v.H. eingeschätzt (Bescheid vom 27. Juni 1975). Einen erlittenen Herzinfarkt hatte es als vernarbt bezeichnet. Arbeitsunfälle, denen der Kläger in der Vergangenheit ausgesetzt gewesen war, hatten nach Ansicht der Versorgungsbehörde keine fortwirkenden Behinderungen hinterlassen. - Den Bescheid focht der Kläger gleichzeitig sowohl mit dem Widerspruch als auch mit der Klage an. Beide Rechtsbehelfe gingen am 24. Juli 1975 bei dem Versorgungsamt und dem Sozialgericht (SG) ein. Der Beklagte erklärte, daß er ein Vorverfahren nicht für erforderlich halte. Er verteidigte mit Sachargumenten seinen Verwaltungsakt und beantragte die Abweisung der Klage.
Das SG (Urteil vom 19. März 1976) hat den Beklagten verurteilt, den Widerspruch des Klägers zu bescheiden. Es hat ausgeführt, als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage sei der Rechtsbehelf des Klägers unzulässig, weil ihm kein Vorverfahren vorausgegangen sei. Die Ausnahmeregelung des § 78 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), welche demjenigen, der durch einen Verwaltungsakt betroffen sei, ein Wahlrecht zwischen Widerspruch und Klage einräume, greife im Streitfalle nicht ein. Es müsse sich nämlich um einen Verwaltungsakt handeln, welcher eine Leistung betreffe, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Von einer Leistung könne aber bei dem materiellen Begehren des Klägers keine Rede sein: er verlange lediglich die Feststellung seiner Schwerbehinderung; eine solche - § 55 Abs. 1 SGG unterzuordnende - Feststellung stelle lediglich die Aussage über etwas Bestehendes dar, nicht aber eine Leistung, die über eine solche Aussage hinaus ein Mehr an errechenbarem Vorteil beinhalte. Was für die Feststellung gelte, habe gleichermaßen Bedeutung für die Verkörperung des Festgestellten, nämlich für die zu erteilende Bescheinigung (§ 3 Abs. 4 SchwbG vom 29. April 1974, BGBl I 1005; jetzt: "Ausweis", 8. Anpassungsgesetz KOV vom 14. Juni 1976, BGBl I 1481). Mit der Anfechtungs- und Feststellungklage könne der Kläger sein Ziel nicht erreichen. Sein Klagebegehren sei daher so zu verstehen, daß es auf eine Untätigkeitsklage (§ 88 Abs. 2 SGG) abziele. Nur so könne dem Kläger weitergeholfen werden. Die Voraussetzungen der Untätigkeitsklage seien erfüllt, weil der Beklagte den Erlaß eines Widerspruchsbescheides verweigert habe. Deswegen brauche der Ablauf von Fristen, wie sie sonst zur Statthaftigkeit der Untätigkeitsklage eingehalten sein müßten, nicht abgewartet zu werden.
Die - von dem SG zugelassene - (Sprung-) Revision haben Kläger und Beklagter eingelegt. Beide rügen die zu enge Auslegung des Begriffs "Leistung" i.S. des § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Beklagte trägt ergänzend vor, daß der erstinstanzliche Richter mit der Umdeutung der erhobenen Anfechtungsklage in eine Untätigkeitsklage den Beteiligten seine Rechtsansicht aufgedrängt habe. Damit habe er den wirklichen Willen des Klägers verfehlt; denn dieser habe auf eine erneute Prüfung der Angelegenheit durch die Verwaltung keinen Wert gelegt. Er sei auf den gleichzeitig mit der Klage eingereichten Widerspruch nicht mehr zurückgekommen, sondern habe sich im Rechtsstreit unmittelbar zur Sache geäußert.
Beide Beteiligten beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen sind begründet.
Der Zulässigkeit der Anfechtungsklage steht nicht entgegen, daß sie gleichzeitig mit dem Widerspruch erhoben worden ist. Aus § 78 Abs. 2, Satz 1, 2. Halbsatz SGG folgt nicht das Gegenteil. Nach dieser Vorschrift ist ein Rechtsbehelf beim Zweifel darüber, ob es sich bei ihm um einen Widerspruch oder um eine Klage handelt, u.U. als Widerspruch zu behandeln. Hier geht es indessen nicht um die Qualifizierung "eines" Rechtsbehelfs, sondern um das Verhältnis zweier selbständiger, in derselben Sache miteinander konkurrierender Rechtsbehelfe. Es ist also nicht der Tatbestand gegeben, für den das Gesetz eine Verfahrensrichtlinie aufgestellt hat. Vielmehr ist, um eine doppelte Rechtsverfolgung zu vermeiden, das Nebeneinander der Rechtsbehelfe in ein sinnvolles Zueinander zu bringen (BSG Urteil vom 2. August 1977 9 RV 102/76). Dabei ist auf den erkennbaren Willen des Klägers, der zudem mit den Vorstellungen des Beklagten übereinstimmt, Bedacht zu nehmen. Der Kläger drängt auf rasche richterliche Entscheidung. Von einem weiteren Verhandeln mit der Behörde kann er sich keinen Erfolg versprechen. Denn die Behörde, welche den Beklagten im Rechtsstreit vertritt, ist mit derjenigen Stelle identisch, welche gemäß § 85 Abs. 2 Nr. 1 SGG den Widerspruchsbescheid zu erlassen hätte. Sie hat eindeutig erklärt, daß sie den angefochtenen Verwaltungsakt für sachlich gerechtfertigt hält und deshalb Abweisung der Klage beantragt. Infolgedessen wäre die Durchführung eines Vorverfahrens reine Formalität. Rechtsdogmatische Erwägungen, die früher - bei der älteren Gesetzeslage - in einer vergleichbaren Situation angestellt wurden, wonach das Vorverfahren unentbehrlich war, sind durch die Neuordnung in den §§ 78 Abs. 2 und 85 Abs. 4 SGG überholt (dazu eingehend m.N. BSG Urteil vom 2.8.1977 - 9 RV 102/76). Mithin ist die Folgerung erlaubt, daß der Klageabweisungsantrag der Behörde den Widerspruchsbescheid ersetzt, oder es ist gestattet, einen Verzicht des Klägers auf das Vorverfahren anzunehmen.
Entgegen der von dem SG vertretenen Auffassung ist bei Streitigkeiten über die Feststellung einer Behinderung und des Grades der auf ihr beruhenden MdE nach § 3 Abs. 1 SchwbG ein Vorverfahren nicht zwingend vorgeschrieben. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt entschieden (BSG 16. Dezember 1976 - 10 RVs 1/76 = SozR 1500 § 78 Nr. 7; 29. März 1977 - 9 RVs 2/76). Dafür ist § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG maßgebend, wonach in Angelegenheiten der KOV und so auch in Schwerbehindertenfällen (§ 3 Abs. 5 Satz 2; jetzt: § 3 Abs. 6 Satz 2 SchwbG, Fassung gemäß Art. 2 Nr. 1 Buchst. d des 8. AnpG-KOV vom 14. Juni 1976) die Anfechtungsklage "Auch ohne Vorverfahren" zulässig ist, wenn die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Das SG hat diese Vorschrift zu restriktiv ausgelegt. Der Begriff der "Leistung" bezieht sich nicht bloß auf Geld- oder Sachbezüge, sondern allgemeiner auf eine von einem öffentlich-rechtlichen Verwaltungsträger zu bewirkende Handlung, die dieser Träger aufgrund seiner sozialrechtlichen Aufgabenstellung wahrzunehmen hat und aus der für den einzelnen ein rechtlicher Vorteil erwächst. Dazu zählt auch die verbindliche Bestätigung, daß im einzelnen bezeichnete Behinderungen bestehen und einen festgesetzten Grad der Erwerbsbehinderung bedingen. Dieser - von gesetzlich normierten Ausnahmen abgesehen - mit der Qualität der grundsätzlichen Unwiderruflichkeit ausgestattete Ausspruch der Behörde ist die Grundlage für weitere sozial-, arbeits- und steuerrechtliche Berechtigungen und Ansprüche des Betroffenen. Gegen den Inhalt der getroffenen Feststellung dürfen andere Verpflichtete sich nicht in Widerspruch setzen (BSG SozR 1500 § 78 Nr. 7). Der Betroffene erhält eine konkretisierte und gefestigte Rechtsstellung. Darin besteht die "Leistung", auf die er einen Rechtsanspruch hat, und die - wie in den angeführten Entscheidungen des BSG näher erläutert worden ist - von § 78 Abs. 2 Satz 1 SGG erfaßt wird.
Im übrigen irrt das SG, wenn es die "Feststellung", von der in § 3 Abs. 1 SchwbG die Rede ist, ohne weiteres auf das Institut der - subsidiären - Feststellungsklage (§ 55, insbesondere Abs. 1 Nr. 3 SGG) bezieht. Für diese Klage müßte, damit sie zulässig wäre, das Interesse des Klägers an der alsbaldigen Feststellung dargetan sein. Daran fehlt es regelmäßig, da die Feststellung von der zuständigen Behörde zu treffen und dieser Akt auf Anfechtungsklage zu prüfen sowie durch die - unechte - Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) durchzusetzen ist. - Unter den obwaltenden Umständen bestand für eine Untätigkeitsklage kein Anlaß. Vielmehr hätte das SG aufgrund prozeßrechtlich zutreffender Anfechtungs- und Leistungsklage auf die Sache selbst eingehen und die Richtigkeit der Verwaltungsentscheidungen untersuchen sollen. Damit dies nachgeholt werden kann, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.
Fundstellen