Entscheidungsstichwort (Thema)
Hilfsmittel iS der KV. Ausgleichswirkung
Leitsatz (amtlich)
Ein faltbarer Krankenfahrstuhl ist ein Hilfsmittel iS der KV (KVLG § 16 Abs 2, RVO § 182b), wenn ihn der Behinderte im Rahmen der normalen Lebensführung zum Ausgleich einer Gehbehinderung benötigt.
Leitsatz (redaktionell)
Begriff "Hilfsmittel" iS des RVO § 182b (Faltfahrer):
1. Bei schulpflichtigen Kindern schließt der Lebensbereich, in dem ihnen die Fortbewegung mittels Krankenfahrzeug ermöglicht werden muß, den Schulort ein.
2. Neben dem für den ständigen Gebrauch zu Hause zu gewährenden Krankenfahrzeug ist bei Bedarf ein Faltfahrer für den außerhäuslichen Gebrauch zur Verfügung zu stellen.
Orientierungssatz
Ist ein Hilfsmittel unmittelbar auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet, dann erscheint es nicht gerechtfertigt, gesellschaftliche, berufliche oder private Bedürfnisse des Behinderten beim Ausgleich seiner Behinderung schlechterdings unbeachtet zu lassen.
Eine derartige Einengung kommt in KVLG § 16 Abs 2 (= RVO § 182b) nicht zum Ausdruck; das Gesetz verlangt die Ausstattung mit einem Hilfsmittel, das erforderlich ist, um die körperliche Behinderung auszugleichen.
Normenkette
KVLG § 16 Abs. 2 Fassung: 1974-08-07; RVO § 182b Fassung: 1974-08-07
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 15.09.1978; Aktenzeichen L 1 Kr 27/77) |
SG Kiel (Entscheidung vom 25.11.1977; Aktenzeichen S 3 Kr 17/77) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. September 1978 und des Sozialgerichts Kiel vom 25. November 1977 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 1.453,58 DM zu zahlen.
Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten um die Kosten für die Anschaffung eines faltbaren Krankenfahrstuhls.
Die bei der Beklagten gegen Krankheit pflichtversicherte Beigeladene zu 2. hat einen seit Geburt behinderten Sohn, dem infolge der Behinderung freies Stehen und Gehen nicht möglich sind. Deshalb gewährte die Beklagte im September 1976 im Wege der Familienhilfe einen Krankenrollstuhl.
Der Sohn besucht seit August 1976 eine Sonderschule außerhalb seines Wohnortes. Auf dem Weg zur und von der Schule kann der Rollstuhl nicht im Auto mitgenommen werden. Der Kläger übernahm darum im März 1977 als überörtlicher Träger der Sozialhilfe die Anschaffungskosten für einen ärztlich verordneten faltbaren Krankenfahrstuhl in Höhe von 1.453,58 DM; zugleich begehrte er von der Beklagten gern § 1531 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Kostenersatz. Die Beklagte lehnte ab, weil im Rahmen der Krankenversicherung eine Zweitausstattung nicht möglich sei.
Die Klage und die - zugelassene - Berufung hatten keinem Erfolg (Urteile des Sozialgerichts -SG- Kiel vom 25. November 1977 und des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts -LSG- vom 15. September 1978). Nach der Ansicht des LSG scheitert der Ersatzanspruch des Klägers daran, daß die Versicherte nicht von der Beklagten die Anschaffung des faltbaren Krankenfahrstuhls verlangen konnte; dieser sei nämlich kein Hilfsmittel iS der Krankenversicherung, Der erste Fahrstuhl habe bereits die Behinderung ausgeglichen; er erlaube es dem Behinderten, sich zuhause und auch auf der Straße zu bewegen. Anlaß für die Anschaffung de£ zweiten Fahrstuhls sei die Teilnahme am Schulunterricht gewesen. Dieser Anlaß beträfe den Bereich der Schule, für den nicht die Beklagte als Träger der Krankenversicherung, sondern der Kläger als Träger der Sozialhilfe zuständig sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die zugelassene Revision des Klägers. Er rügt Verletzung der §§ 13, 16 und 82 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG). Der Kläger meint, die Ausstattung mit einem Fahrstuhl, der nicht im Kraftwagen mitgenommen werden könne, sei unzulänglich. Einer Ausstattung mit einem zweiten Fahrstuhl hätte es nicht bedurft, wenn die Beklagte den Behinderten von vornherein mit einem faltbaren Fahrstuhl ausgerüstet hätte.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung der Anschaffungs-kosten des Fahrstuhls in Höhe von 1.453,58 DM zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beigeladene zu 1. hat keinen Antrag gestellt, die Beigeladene zu 2. hat sich im Revisionsverfahren wie schon im Berufungsverfahren nicht geäußert.
II
Die Revision ist begründet.
Der Kläger hat als überörtlicher Träger der Sozialhilfe den Sohn der Versicherten nach gesetzlicher Pflicht im Rahmen der Eingliederungshilfe für Behinderte gern §§ 39 ff des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) durch Anschaffung des faltbaren Krankenfahrstuhls unterstützt. Wie das LSG zutreffend erkannt hat, hängt der vom Kläger erhobene Ersatzanspruch nach § 82 Nr 1 KVLG iVm § 1531 Sätze 1 und 2 RVO somit davon ab, ob die Versicherte - die Beigeladene zu 2. - von der Beklagten die Ausstattung ihres Sohnes mit diesem Fahrstuhl verlangen konnte. Nach § 32 Abs 1, 33 iVm §§ 13 Abs 1 Nr 3, 16 Abs 2 KVLG hat ein Versicherter für sein unterhaltsberechtigtes Kind Anspruch auf Ausstattung mit einem Hilfsmittel, wenn dieses erforderlich ist, um eine körperliche Behinderung auszugleichen. Entgegen der Auffassung des LSG ist der vom Kläger gewährte faltbare Krankenfahrstuhl ein solches zum Ausgleich der Behinderungen des Kindes benötigtes Hilfsmittel.
Allerdings ist - darin ist dem LSG zu folgen - bei der Anwendung des § 16 Abs 2 KVLG der eingeschränkte Aufgabenkreis der Krankenversicherung zu beachten, soweit Art, Zweck und Notwendigkeit der in Frage kommenden Maßnahme zu beurteilen sind; das hat der 3. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits für die allgemeine gesetzliche Krankenversicherung bei Anwendung der entsprechenden Vorschrift des § 182b RVO entschieden (vgl SozE 2200 § 182b Nrn 5, 6 und 8). Danach schuldet die Krankenversicherung nur Hilfsmittel, die unmittelbar auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind; Hilfsmittel dagegen, die erst Folgen der Behinderung in einzelnen Lebensbereichen, insbesondere auf beruflichem, gesellschaftlichem oder privatem Gebiet ausgleichen, fallen nicht in ihren Leistungsbereich (zB elektrische Schreibmaschine - BSGE 37, 138 - ; Blindenführhund - BSGE 45, 133 - ; Blindenschriftschreibmaschine -SozR 2200 § 182b Nr 5).
Ein faltbarer Krankenfahrstuhl ist jedoch ebenso wie der einfache Krankenrollstuhl ein Hilfsmittel der erstgenannten Art. Dem steht nicht entgegen, daß beide nicht unmittelbar am Körper ausgleichend wirken (BSGE 45, 133, 134), auch nicht, daß sie nicht das Gehen selbst ermöglichen. Denn ausgefallen (oder erschwert) ist nicht nur die Möglichkeit des Gehens, sondern damit zugleich die der Fortbewegung (durch Gehen); entscheidend ist daher, daß die genannten Fahrstühle für die ausgefallene (oder erschwerte) Möglichkeit der Fortbewegung einen Funktionsausgleich bieten, der unmittelbar auf den Ausgleich dieser Behinderung gerichtet ist. Dabei bietet der faltbare Krankenfahrstuhl den regelmäßig umfassenderen Ersatz, weil er im Gegensatz zum einfachen Krankenfahrstuhl auch in Verkehrsmittel transportiert werden kann; er erlaubt somit dem Behinderten - nach Fahrten mit solchen Verkehrsmitteln - die Fortbewegung auch in Orten außerhalb seines Wohnortes.
Damit stellt sich nur noch die Frage, welche Art von Krankenfahrstuhl die Beklagte zur medizinischen Rehabilitation des Kindes der Versicherten gern § 16 Abs 2 KVLG bereitzustellen hatte. Das hängt davon ab, welchen Bedürfnissen nach Fortbewegung sie dabei Rechnung tragen mußte. Bei der Auslegung des § 187 RVO aF wurden Bedürfnisse der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und bei Kindern der Teilnahme am Schulunterricht mit berücksichtigt (vgl SozR Nr 3 zu § 187 RVO; SozR 220C § 187 Nr 1). Demgegenüber läßt die Rechtsprechung zu § 182b RV( nicht sicher erkennen, ob nur noch "elementaren" oder "alltäglichen Grundbedürfnissen" Rechnung getragen werden soll; soweit Hilfsmittel zur Befriedigung von gesellschaftlichen, beruflichen oder privaten Bedürfnissen vom Leistungsbereich der Krankenversicherung ausgeschlossen wurden, hat es sich weitgehend um Fälle gehandelt, in denen das Hilfsmittel erst bei den Folgen der Behinderung in diesen Lebensbereichen wirken konnte.
Ist jedoch - wie hier - ein Hilfsmittel unmittelbar auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet, dann erscheint es nicht gerechtfertigt, gesellschaftliche, berufliche oder private Bedürfnisse des Behinderten beim Ausgleich seiner Behinderung schlechterdings unbeachtet zu lassen. Eine derartige Einengung kommt in § 16 Abs 2 KVLG nicht zum Ausdruck; das Gesetz verlangt die Ausstattung mit einem Hilfsmittel, das erforderlich ist, um die körperliche Behinderung auszugleichen. Da die Krankenversicherung auch allgemein nicht ihren Schutz bei Tätigkeiten im gesellschaftlichen, beruflichen oder privaten Bereich versagt, muß sie nach der Meinung des erkennenden Senats dem Versicherten ein zum unmittelbaren Behinderungsausgleich benötigtes Hilfsmittel so gewähren, daß es den Funktionsausfall möglichst weitgehend im Rahmen einer normalen Lebensführung ausgleicht. Insofern sind bei Kindern auch Bedürfnisse der Fortbewegung zur und von der Schule zu befriedigen. Bei ihnen schließt daher der Bereich, in dem ihnen die Fortbewegung ermöglicht werden muß, den Schulort ein. Dabei ist zu beachten, daß bereits seit längerem auch bei normalen Schulen der Schulort sich nicht selten außerhalb des Wohnortes befindet.
Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob sich die Anschaffung eines zweiten Krankenstuhls erübrigt hätte, wenn die Beklagte von vornherein einen faltbaren Krankenfahrstuhl gewährt hätte, wie dies der Kläger behauptet. Da das LSG hierzu keine Feststellungen getroffen hat, muß das Revisionsgericht die Möglichkeit einbeziehen, daß zu dem ständigen Gebrauch zuhause neben dem faltbaren Krankenfahrstuhl ein stabiler Rollfahrstuhl notwendig ist, daß also der faltbare Krankenfahrstuhl dem Behinderten nur zum Gebrauch. außerhalb des Hauses bzw des Wohnortes dient. Selbst wenn dies aber zutrifft, so ergibt sich aus den obigen Darlegungen, daß die Beklagte auch in diesem Falle zur Bereitstellung des faltbaren Krankenfahrstuhls verpflichtet war.
Nach alledem sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und ist der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen