Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf Familienhilfe

 

Leitsatz (redaktionell)

Zum Anspruch auf Familienhilfe:

Der Versicherte hat für einen Angehörigen, der in einem Beschäftigungsverhältnis steht und wegen Überschreitung der Versicherungspflichtgrenze nicht krankenversicherungspflichtig ist, keinen Anspruch auf Familienhilfe.

 

Normenkette

RVO § 205 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1970-12-21

 

Tenor

Auf die Revision der beklagten Ersatzkasse werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. Dezember 1969 und des Sozialgerichts Hannover vom 6. November 1968 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Senat hat darüber zu entscheiden, ob dem Kläger, einem freiwilligen Mitglied der beklagten Ersatzkasse, für seine berufstätige Ehefrau in der Zeit von November 1967 bis zum Erlaß des Berufungsurteils (9. Dezember 1969) Familienhilfe zustand. Das monatliche Bruttogehalt des Klägers stieg in der fraglichen Zeit von 1.300 auf 1.400 DM, das seiner Ehefrau von 1.046 auf 1.195 DM. Der kinderlose Haushalt wurde von beiden Ehegatten gemeinsam besorgt.

Die Beklagte hat einen Familienhilfeanspruch des Klägers verneint, weil nach § 29 ihrer Versicherungsbedingungen Familienhilfe nur "für den unterhaltsberechtigten Ehegatten" gewährt werde, die Ehefrau des Klägers aber nach den Einkommensverhältnissen der Ehegatten ihm gegenüber nicht unterhaltsberechtigt gewesen sei. Die Vorinstanzen sind dieser Auffassung nicht gefolgt. Sie haben die Ehefrau des Klägers als unterhaltsberechtigt angesehen, weil ihr Einkommen geringer gewesen sei als das des Klägers; sie habe deshalb zum Familienunterhalt weniger beisteuern müssen als sie daraus erhalten habe. Unerheblich sei, daß ihr Einkommen über der Krankenversicherungspflichtgrenze gelegen habe. Wenn dies zu sozialpolitisch unbefriedigenden Ergebnissen führe, müsse der Gesetzgeber Abhilfe schaffen (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 9. Dezember 1969).

Die Beklagte rügt mit der zugelassenen Revision, die Ehefrau des Klägers sei schon deswegen nicht unterhaltsberechtigt gewesen, weil ihr eigenes Einkommen die seinerzeit maßgebende Versicherungspflichtgrenze überschritten habe, die Familienhilfe aber nur eine Mitversicherung von sozial schutzbedürftigen Angehörigen bezwecke. In diesem Sinne hätten auch schon eine Reihe von Sozialgerichten entschieden. Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist in der Revisionsinstanz nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten gewesen.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Ob dem Kläger, der der beklagten Ersatzkasse als nichtversicherungspflichtiges Mitglied angehört, während der streitigen Zeit (1. November 1967 bis zum Erlaß des Berufungsurteils am 9. Dezember 1969) Familienhilfe für seine Ehefrau zustand, richtet sich nach den Versicherungsbedingungen der Beklagten vom 1. Oktober 1961, deren § 29 ("Familienhilfe - Allgemeine Bestimmungen") in den bis heute unverändert gebliebenen Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 2 Abs. 1 wie folgt lautet:

Die Mitglieder haben Anspruch auf Leistungen der Familienhilfe für den unterhaltsberechtigten Ehegatten und die unterhaltsberechtigten Kinder bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres.

Voraussetzung für die Gewährung der Familienhilfe ist, daß die in § 29 Ziff. 1 genannten Personen nicht anderweitig einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege haben und sich gewöhnlich im Inland aufhalten.

Diese Bestimmungen entsprechen, abgesehen von der Altersgrenze für Kinder, dem § 205 Abs. 1 Satz 1 RVO in der Fassung der Notverordnungen vom 26. Juli 1930 und 1. Dezember 1930 (RGBl I, 311 und 517) mit den späteren inhaltlichen Änderungen durch Abschnitt II Nr. 1 des Erlasses des Reichsarbeitsministers vom 2. November 1943 (AN II, 485: Wegfall der Wartezeit) und Art. 10 der Ersten Vereinfachungsverordnung vom 17. März 1945 (RGBl I, 41: Gleichstellung der Familienangehörigen mit den Versicherten bei Krankenpflege und Krankenhauspflege); vgl. auch die Neufassung des § 205 Abs. 1 durch Art. 2 Nr. 11 des Gesetzes vom 27. Juli 1969 (BGBl I, 946).

Ob der Kläger, wie das LSG angenommen hat, seiner Ehefrau gegenüber unterhaltspflichtig war, läßt der Senat unentschieden (zur Frage der Unterhaltsberechtigung im Sinne des § 205 RVO vgl. BSG 10, 28; 11, 198; 19, 282). Selbst wenn die Ehefrau des Klägers nach den Einkommensverhältnissen der Ehegatten unterhaltsberechtigt gewesen sein sollte, hatte der Kläger keinen Familienhilfeanspruch, weil der regelmäßige Jahresarbeitsverdienst seiner als Angestellte tätig gewesenen Ehefrau über der Krankenversicherungspflichtgrenze lag, die seit dem 1. September 1965 10.800 DM im Jahr betrug und mit Wirkung vom 1. August 1969 auf 11.880 DM erhöht wurde (Gesetze vom 24. August 1965 und 27. Juli 1969, BGBl I, 1965, 912 und 1969, 946).

Ob Familienhilfe auch für einen Ehegatten zu gewähren ist, der bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen (Unterhaltsberechtigung, Inlandsaufenthalt) mit seinem Einkommen die Versicherungspflichtgrenze überschreitet, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Auch die Entstehungsgeschichte des § 205 RVO (vgl. dazu BSG 22, 252, 253 f) gibt insoweit keinen Aufschluß. Anscheinend hat der Gesetzgeber die Frage bei der Umwandlung der Familienhilfe in eine Regelleistung im Jahre 1930 entweder nicht gesehen oder das Problem nicht für regelungsbedürftig gehalten, weil es damals, vor allem mit Rücksicht auf die vergleichsweise hohe Versicherungspflichtgrenze, keine praktische Bedeutung hatte. Drängend geworden ist es dagegen nach dem Kriege durch die zunehmende Berufstätigkeit von Ehefrauen und die sprunghaften Steigerungen der Gehälter, mit denen die gesetzlichen Anpassungen der Versicherungspflichtgrenze nicht Schritt hielten.

Um die dadurch entstandene Regelungslücke zu schließen, hat der Senat erwogen: Wenn die Anwendung der Vorschriften über die Krankenversicherungspflichtgrenze für Angestellte (§ 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO) und die Mitversicherung von Familienangehörigen (§ 205 RVO) nicht zu Ergebnissen führen soll, die in sich widersprüchlich sind, dann können Personen, die wegen der Höhe ihres Einkommens von der Versicherungspflicht freigestellt sind und deshalb keinen eigenen "gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege" (§ 205 Abs. 1 RVO) mehr haben, nicht wegen eben dieser, mit der Versicherungsfreiheit notwendig verbunden Rechtsfolge durch Mitversicherung beim Ehegatten wiederum in die Versicherung einbezogen werden. Das wäre um so weniger gerechtfertigt, als die beitragsfreie oder, wie bei den freiwilligen Mitglieder der Ersatzkassen, beitragsbegünstigte Mitversicherung aus Mitteln der Versichertengemeinschaft getragen werden müßte, die versicherungspflichtigen Kassenmitglieder also den Versicherungsschutz von Personen mit zu finanzieren hätten, die der Gesetzgeber wegen Überschreitung der Einkommensgrenze aus der Versicherungspflicht entlassen und auf den Weg der Selbstvorsorge verwiesen hat. Damit würde das Prinzip der Solidarität der Versicherten, das die wirtschaftlich Leistungsfähigeren zum Einstehen für die Schwächeren verpflichtet und mit Recht als ein konstituierendes Merkmal der sozialen Krankenversicherung angesehen worden ist, in sein Gegenteil verkehrt worden (vgl. zu einem ähnlichen Fall eines "inversen sozialen Ausgleichs" innerhalb der Krankenversicherung auch die kritischen Bemerkungen im Bericht der Sozialenquete-Kommission S. 239 f unter Nr. 686). Um dieses sinnwidrige Ergebnis zu vermeiden, müssen Beschäftigte, die wegen Überschreitung der Krankenversicherungspflichtgrenze versicherungsfrei sind, von der Familienhilfe ausgeschlossen bleiben (ebenso Barttlingck, BKK 1969, 104 und Gagel, "Der Sozialrichter", Beilage zur SGb, S. 16; a. A. LSG Nordrhein-Westfalen, Breithaupt 1969, 915, 920; vgl. ferner Bogs, Sozialer Fortschritt 1969, 275).

Eine Ausnahme kann auch dann nicht gemacht werden, wenn der versicherungsfreie Ehegatte im Einzelfall trotz der Höhe seines Einkommens unterhaltsberechtigt gegenüber dem anderen - versicherten - Ehegatten sein sollte. Wer die Verdienstgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung überschreitet und deshalb für ihren Bereich als nicht mehr schutzbedürftig gilt, wird in der Regel wegen seines Krankheitsrisikos auch nicht auf die Hilfe des anderen Ehegatten angewiesen sein, so daß dieser seinerseits nicht notwendig einer - von der Familienhilfe bezweckten - Entlastung bedarf (zur Entlastungsfunktion der Familienhilfe vgl. BSG 17, 186, 190; 22, 252, 254).

Stand dem Kläger hiernach für seine Ehefrau, deren Einkommen während der streitigen Zeit die Versicherungspflichtgrenze überschritt, ein Anspruch auf Familienhilfe nicht zu, dann ist sein auf eine entsprechende Feststellung gerichtetes Klagebegehren unter Aufhebung der Vorentscheidungen als unbegründet abzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650306

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