Leitsatz (amtlich)

Werden Beiträge nachentrichtet, die gemäß § 10 Abs 1 S 3 WGSVG als rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit gelten, so ist § 1255 Abs 7 S 2 RVO nicht anzuwenden, wenn die Anrechnung der nachentrichteten Beiträge zu einer höheren Rente führt als die Berücksichtigung einer Ausfallzeit.

 

Normenkette

WGSVG § 10 Abs 1 S 3 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1255 Abs 7 S 2 Fassung: 1971-12-22

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.02.1983; Aktenzeichen L 3 J 224/82)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 22.09.1982; Aktenzeichen S 8 J 71/81)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Anrechnung seiner für die Zeit vom 1. Januar 1933 bis 31. März 1936 nachentrichteten Beiträge bei der Berechnung seines Altersruhegeldes.

Der Kläger ist Verfolgter im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Ab 1. September 1975 erhielt er Rente wegen Berufsunfähigkeit. Seine nachgewiesenen Ausfallzeiten wurden nicht berücksichtigt, weil die erforderliche Halbbelegung (§ 1259 Abs 3 Reichsversicherungsordnung -RVO-) nicht gegeben war. Die Beklagte errechnete eine pauschale Ausfallzeit von einem Monat.

1978 sprach die Beklagte dem Kläger die Befugnis zu, gemäß § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) Beiträge nachzuentrichten (Bescheide vom 28. Februar 1978 und 24. Juli 1978). Der Kläger entrichtete darauf Beiträge nach für die Zeit vom 1. Januar 1933 bis 31. März 1936, für Mai 1953 und für die Zeit vom 1. Januar 1959 bis 31. März 1959. Daraufhin berechnete die Beklagte die Berufsunfähigkeitsrente neu unter Beachtung der nachentrichteten Beiträge. Sie berücksichtigte nun eine pauschale Ausfallzeit von 41 Monaten (Bescheid vom 28. September 1979). Die Beklagte kam auf 249 anzurechnende Monate (20,75 anrechnungsfähige Versicherungsjahre) und auf einen durchschnittlichen monatlichen Vomhundertsatz von 13,69.

1981 wandelte die Beklagte mit Wirkung vom 1. März 1981 die Berufsunfähigkeitsrente in ein Altersruhegeld um (Bescheid vom 30. Juni 1981). Hierbei ließ die Beklagte die für die Zeit vom 1. Januar 1933 bis 31. März 1936 nachentrichteten Beiträge außer Ansatz und rechnete wegen der inzwischen unter Einschluß der israelischen Beitragszeiten erfüllten Halbbelegung, die für die Zeit vom 8. Februar 1932 bis 12. April 1936 nachgewiesenen Ausfallzeiten von 50 Monaten an (Bescheid vom 30. Juni 1981). Sie kam auf 219 anzurechnende Monate (18,25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre) und auf einen durchschnittlichen monatlichen Vomhundertsatz von 12,47. Der Kläger verzichtete auf die Berücksichtigung der israelischen Beiträge. Doch erkannte die Beklagte diesen Verzicht nicht als wirksam an. Mit seiner Klage hat der Kläger begehrt, 20,75 Versicherungsjahre sowie einen Vomhundertsatz von 164,28 (monatlich durchschnittlich 13,69) bei der Berechnung seiner Altersrente anerkannt zu erhalten.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, das Altersruhegeld unter Berücksichtigung der für die Zeit vom 1. Januar 1933 bis 31. März 1936 nachentrichteten Beiträge neu zu berechnen (Urteil vom 22. September 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 25. Februar 1983 die Berufung zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Die Nachentrichtung sei gemäß § 10 Abs 1 Satz 1 WGSVG lediglich für Zeiten ausgeschlossen, die bereits mit Beiträgen belegt oder als Ersatzzeiten anzurechnen seien. Es wäre mit dem Ziel der Wiedergutmachung in der Sozialversicherung unvereinbar, einerseits zwar die Nachentrichtung nach § 10 WGSVG auch für Ausfallzeiten zuzulassen, andererseits solche der Entschädigung dienenden Beitragsnachentrichtungen bei der Rentenberechnung wieder auszuschließen. Ob der Kläger - wie er meine - nach Nummer 9 des Schlußprotokolls zum deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommen berechtigt sei, auf die israelischen Beiträge zu verzichten, um eine günstigere Rentenberechnung zu erreichen, könne unentschieden bleiben.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO.

Sie beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22. September 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Dem Kläger ist es hier von Anfang an sowohl um die Anrechnung höherer Versicherungsjahre als auch um einen höheren persönlichen Vomhundertsatz, eine höhere Bemessungsgrundlage gegangen. Das ergibt sich aus seinem Antrag erster Instanz (Blatt 1 der Akten S 8 J 71/81) wie auch aus dem Umstand, daß die Bescheide, die der Kläger angreift, in beiden Punkten von dem abweichen, was der Kläger von Anfang an begehrt hat. Der vom LSG bestätigte Ausspruch des SG, daß die für die Zeit vom 1. Januar 1933 bis 31. März 1936 nachentrichteten Beiträge bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen seien, betrifft deshalb beide Gesichtspunkte. Hinsichtlich der Nichtberücksichtigung dieser Beitragszeiten stützt sich die Beklagte zu Unrecht auf § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO. Der Senat hat im Urteil vom 28. März 1984 - 5b RJ 30/83 - bereits unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung (vgl SozR 2200 § 1258 Nrn 1 und 2) ausgeführt, daß diese Bestimmung nicht gilt, soweit es um die Feststellung der anrechnungsfähigen Versicherungszeiten geht. Dem hat sich der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 12. September 1984 - 4 RJ 113/83 - angeschlossen.

Aber auch hinsichtlich der Feststellung des persönlichen Vomhundertsatzes kann sich die Beklagte nicht auf § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO stützen, auch wenn man in diesem Zusammenhang unterstellt, daß trotz der Beitragsnachentrichtung noch eine anzurechnende Ausfallzeit im Sinn dieser Vorschrift vorliegt (vgl Beschluß des Großen Senats des BSG vom 9. Dezember 1975 BSGE 41, 41). Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Beschluß vom 8. Februar 1983 - 1 BvL 28/79 - (SozR 2200 § 1255 Nr 17) entschieden hat, ist eine Vergleichsberechnung durchzuführen, wenn zweifelhaft ist, ob es für den Versicherten günstiger ist, die Pflichtbeiträge oder gemäß § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO die mit diesen Beitragszeiten konkurrierenden Ausfallzeiten anzurechnen. Hier sind für den Kläger Beitragszeiten günstiger. Die gemäß § 10 WGSVG nachentrichteten Beiträge werden zwar hinsichtlich ihrer Entrichtung wie freiwillige Beiträge behandelt (vgl BSG-Urteil vom 22. September 1983 - 4 RJ 61/82 -). Sind sie aber entrichtet, so gelten sie als "rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" (§ 10 Abs 1 Satz 3 WGSVG). Es ist aber nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber für Ausfallzeiten nach § 10 WGSVG eine Nachentrichtungsmöglichkeit schaffen und die nachentrichteten Beiträge sodann wegen Zusammentreffens mit den Ausfallzeiten gleichwohl unberücksichtigt lassen wollte. Gelten die hier vom Kläger im noch streitigen Zeitraum nachentrichteten Beiträge gemäß § 10 Abs 1 Satz 3 WGSVG als rechtzeitig entrichtete Pflichtbeiträge, so ist nicht einzusehen, daß sie nach § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO in der vom BVerfG vorgenommenen Auslegung dieser Vorschrift anders zu behandeln sind als die aufgrund eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses entrichteten Beiträge. Eine solche Differenzierung ist weder dem Gesetzeswortlaut noch der Entscheidung des BVerfG zu entnehmen.

Die von dem Kläger für die streitige Zeit nachentrichteten Beiträge verdrängen somit in vollem Umfang die nachgewiesene Ausfallzeit (vgl BSG-Urteil vom 12.9.1984 - 4 RJ 113/83 -). Die pauschale Ausfallzeit nach Art II § 14 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) wird dagegen durch die nachentrichteten Beiträge weder ganz noch teilweise verdrängt. Sie ist - wie der Senat mehrfach ausgeführt hat (vgl SozR 2200 § 1258 Nrn 1, 2 und Urteil vom 28. März 1984 - 5b RJ 30/83 -) - im Gegensatz zu einer nachgewiesenen Ausfallzeit nicht auf einen konkreten Zeitraum fixierbar, so daß sie nicht im Sinne des § 1258 Abs 1 RVO auf dieselbe Zeit wie eine Versicherungszeit entfallen kann. Durch die Anerkennung einer weiteren Beitragszeit auf Grund des § 10 WGSVG ändern sich aber die Berechnungsgrundlagen der pauschalen Ausfallzeit, so daß dem bei der gebotenen Neufeststellung der Rente Rechnung getragen werden muß.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661745

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge