Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch. Angehöriger eines NATO-Truppenmitglieds. Einbeziehung in das deutsche System der sozialen Sicherheit und Fürsorge
Leitsatz (amtlich)
Ein Angehöriger eines NATO-Truppenmitglieds wird als Arbeitgeber in Deutschland nicht nur hinsichtlich sozialer Pflichten, sondern auch hinsichtlich sozialer Rechte in das deutsche System der sozialen Sicherheit und Fürsorge einbezogen. Er hat daher auch Anspruch auf deutsches Kindergeld.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
NATOTrStatZAbk Art. 13 Abs. 1 Sätze 1, 3, Abs. 2; BKGG § 1 Abs. 1 Nr. 1 F: 1990-01-30, § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 F: 1990-01-30; GG Art. 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Januar 1995 und des Sozialgerichts Stuttgart vom 22. Juni 1994 sowie der Bescheid vom 19. November 1992 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 1993 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Kindergeld für die drei Kinder J (J), M (M) und B (B) für die Zeit vom 1. August 1991 bis 31. Dezember 1995 zu zahlen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits in allen Instanzen zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger ist im Jahre 1937 geboren, deutscher Staatsangehöriger und seit mehr als 20 Jahren als selbständiger Rechtsanwalt in einer größeren Sozietät in der Bundesrepublik tätig; er wohnt in S (S). Seit dem 13. September 1990 ist er mit der US-Amerikanerin D (D) verheiratet, die Mitglied der US-amerikanischen Streitkräfte und seit 1988 als Krankenschwester im Militärhospital in S tätig ist. Dem Haushalt des Klägers und seiner Ehefrau gehören seit der Eheschließung auch die aus erster Ehe der Ehefrau stammenden Kinder J ≪J≫ (geb. 1985) und M … … ≪M≫ (geb. 1987) sowie das gemeinsame Kind B ≪B≫ (geb. 1990) an.
Den im Februar 1992 gestellten Antrag des Klägers auf Kindergeld (Kg) für alle drei Kinder lehnte die Beklagte ab, da nach Art 13 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut (NATOTrStatZAbk) NATO-Truppenmitglieder und deren Ehegatten keinen Anspruch auf Kg haben (Bescheid vom 19. November 1992 und Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 1993). Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben die Klage abgewiesen (Urteile vom 22. Juni 1994 bzw 27. Januar 1995). Das LSG hat ausgeführt, nach der genannten Vorschrift seien innerstaatliche Bestimmungen über soziale Sicherheit und Fürsorge auf Mitglieder der Truppe und des zivilen Gefolges sowie die jeweiligen Angehörigen nicht anzuwenden; durch diese Kollisionsnorm des internationalen Sozialrechts sei der Kläger statt dessen in den Status des Entsendestaats seiner Ehefrau (USA) einbezogen. Auch der in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entwickelte Ausnahmetatbestand der (vollständigen) Einbeziehung in das System der sozialen Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland liege nicht vor; denn der Kläger habe als Selbständiger lediglich rechtliche Beziehungen zum anwaltlichen Versorgungswerk Baden-Württemberg (pflichtig), zur gesetzlichen Rentenversicherung (freiwillig), zur Berufsgenossenschaft und zur (privaten) Pflegeversicherung; es fehle aber eine ebenfalls erforderliche, der Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung unterliegende Beschäftigung. Es komme weder auf das überwiegende Bestreiten des Lebensunterhalts der Familie, noch auf den zeitlichen Umfang der selbständigen Tätigkeit, noch auf die vor zwanzig Jahren beendete beitragspflichtige Angestelltentätigkeit des Klägers an.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des Art 13 Abs 1 Satz 1 und 2 NATOTrStatZAbk iVm dem NATOTrStat sowie die Verletzung des Art 3 Grundgesetz (GG). Die bisherigen Urteile des BSG seien ausschließlich zu abhängig tätigen oder arbeitslosen Ehefrauen von solchen NATO-Truppenmitgliedern ergangen, die die Familie überwiegend ernährt hätten. Hier sei jedoch nicht das Truppenmitglied, also seine Ehefrau, der überwiegende Ernährer, sondern er; außerdem müsse es bei entsprechender Anwendung dieser Urteile für ihn als Selbständigen ausreichen, wenn er nach den für Selbständige geltenden gesetzlichen Regelungen in das System der sozialen Sicherheit der Bundesrepublik eingegliedert sei; in die Arbeitslosenversicherung könnten Selbständige aber weder pflichtig noch freiwillig eingegliedert sein. Hinzu komme, daß seine Ehefrau nach den Richtlinien der amerikanischen Streitkräfte kein Kg erhalte. Schließlich verstoße die unterschiedliche Behandlung im Vergleich zu einem angestellten Rechtsanwalt gegen Art 3 GG.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Januar 1995 und des Sozialgerichts Stuttgart vom 22. Juni 1994 sowie den Bescheid vom 19. November 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. August 1991 bis 31. Dezember 1995 Kindergeld für die Kinder J (J), M (M) und B (B) zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet.
Der Kläger hat nach den §§ 1 Abs 1 Nr 1 und 2 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) idF der Bekanntmachung der Neufassung des BKGG vom 30. Januar 1990 ≪BKGG 1990≫ (BGBl I, 149) im streitigen Zeitraum Anspruch auf das begehrte Kg. Der Kläger wohnt im Geltungsbereich des BKGG; die beiden Kinder aus der ersten Ehe seiner Ehefrau hatte er schon am 13. September 1990 in seinen Haushalt aufgenommen. Der Kläger ist als Bezugsberechtigter bestimmt worden. Da der Antrag im Februar 1992 gestellt worden war, besteht der Anspruch rückwirkend ab 1. August 1991 (§ 9 Abs 2 BKGG 1990). Die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen nach dem BKGG wird auch von der Beklagten nicht in Abrede gestellt.
Der Anwendbarkeit der genannten Vorschriften steht Art 13 Abs 1 Satz 1 NATOTrStatZAbk vom 3. August 1959 (BGBl II 1961, 1183, 1218) iVm den Vorschriften des Abkommens (Abk) zwischen den Parteien des Nordatlantik-Vertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATOTrStat) vom 19. Juni 1951 (BGBl II 1961, 1190), beide Abk für die Bundesrepublik Deutschland am 1. Juli 1963 in Kraft getreten (BGBl II, 745), oder anderes zwischenstaatliches Recht nicht entgegen. Nach Art 13 Abs 1 Satz 1 NATOTrStatZAbk werden im Bundesgebiet geltende Bestimmungen über soziale Sicherheit und Fürsorge auf Mitglieder der NATO-Truppen und des zivilen Gefolges sowie die jeweiligen Angehörigen nicht angewendet, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes vorgesehen ist. Der Kläger ist zwar mit einem Mitglied der US-amerikanischen Truppen, nämlich einer Krankenschwester mit militärischem Dienstgrad, verheiratet und deshalb in diesem Sinne Angehöriger. Zu den Bestimmungen über soziale Sicherheit und Fürsorge zählt auch das Kg-Recht (BSG, Urteil vom 26. Juni 1991, 10 RKg 25/90 = DBlR 3859a, BKGG/§ 1). Gleichwohl greift die Ausschlußvorschrift nicht ein.
Die Rechtsprechung des BSG hat in zahlreichen Entscheidungen klargestellt, daß es sich bei der genannten Vorschrift um eine internationale Kollisionsnorm handelt, die die Anwendung von bundesdeutschen Bestimmungen der sozialen Sicherheit und Fürsorge auf solche Mitglieder der NATO-Truppen und des zivilen Gefolges sowie die jeweiligen Angehörigen verhindern soll, die lediglich zum Entsendestaat (hier:USA) in rechtlichen Beziehungen stehen, weil es unangemessen wäre, allein wegen ihres tatsächlichen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland Rechte und Pflichten aus deutschen Bestimmungen der sozialen Sicherheit und Fürsorge zu begründen; für die soziale Sicherheit dieser Personen sollen grundsätzlich die Entsendestaaten und nicht die deutschen Stellen verantwortlich sein. Anders ist es dagegen, wenn von diesen Personen außerhalb der Mitgliedschaft zu den Streitkräften oder ihrem zivilen Gefolge rechtliche Beziehungen zur deutschen Sozialversicherung begründet worden sind; es besteht kein Grund, derartige rechtlichen Beziehungen nur deshalb zu beschneiden, weil es sich gleichzeitig um Mitglieder der Streitkräfte, des zivilen Gefolges oder Angehörige handelt (vgl zum Ganzen BT-Drucks III/2146, Anlage IV, S 234 f; ferner BSG SozR 2200 § 1233 Nr 7; BSG SozR 6180 Art 13 Nrn 1, 3, 5 und 6; BSG SozR 3-6180 Art 13 Nr 2).
Das LSG und die Beklagte haben die Nichtanwendbarkeit der Kg-Bestimmungen auf den Kläger in erster Linie damit begründet, daß er keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung abführe, ein Kg-Anspruch aber die Mitgliedschaft in allen Zweigen der Sozialversicherung, einschließlich der Arbeitslosenversicherung, voraussetze, wie auch der bis zum 31. Dezember 1996 für das Kg-Recht zuständige 10.Senat des BSG entschieden habe (BSG SozR 6180 Art 13 Nr 6; BSG SozR 3-6180 Art 13 Nr 3). Diese Argumentation übersieht, daß sich die genannten Entscheidungen allein auf abhängig beschäftigte Angehörige von US-Soldaten bezogen haben und die jeweilige Verbindung zum bundesdeutschen System der sozialen Sicherheit und Fürsorge wegen einer nur kurzzeitigen Beschäftigung „unvollkommen” (BSG SozR 3-6180 Art 13 Nr 3) bzw wegen Auslaufens des Arbeitslosengeldanspruchs „untergegangen” (BSG SozR 6180 Art 13 Nr 6) war. Auch sonst handelte es sich, soweit in der Rechtsprechung des BSG aufgrund der genannten Vorschrift bislang deutsche Staatsangehörige von den bundesdeutschen Bestimmungen der sozialen Sicherheit und Fürsorge ausgeschlossen worden sind, durchweg um Ehefrauen, die in der sozialen Absicherung zu ihrem Ehepartner sowie seinem Entsendestaat hin orientiert und nicht oder in nur geringem Umfang in das bundesdeutsche System der sozialen Sicherheit und Fürsorge integriert waren (BSG SozR 6180 Art 13 Nr 2).
Zu Recht macht die Revision geltend, daß mit derartigen Entscheidungen keine Aussage über eine Fallkonstellation getroffen worden ist, bei welcher der deutsche Ehepartner selbständig tätig ist und in vielfältiger Weise Verknüpfungen mit dem bundesdeutschen System der sozialen Sicherheit und Fürsorge bestehen. In derartigen Fällen ist die zu Art 13 Abs 1 Satz 1 NATOTrStatZAbk ergangene Rechtsprechung weiterzuentwickeln, um der andersartigen sozialen Absicherung selbständig Tätiger sowie ihrer andersartigen Stellung im System der sozialen Sicherheit und Fürsorge Rechnung zu tragen. Daß die Vorschrift Selbständige generell von der Anwendung der bundesdeutschen Bestimmungen über soziale Sicherheit und Fürsorge ausschließen wollte, ist schon wegen ihres Abs 1 Satz 3, wonach Beitragsleistung, Erwerb und Beanspruchung von Rechten im Rahmen einer freiwilligen Weiterversicherung nicht ausgeschlossen sind, nicht anzunehmen. Ein derartiges Ergebnis wäre auch nicht mit Art 3 GG zu vereinbaren; beim Kg handelt es sich um eine Sozialleistung, die aus Steuermitteln aufgebracht wird, zu deren Aufkommen auch Selbständige in aller Regel beitragen. Das Gebot des Familienlastenausgleichs gilt auch für sie wie für Unselbständige. Daraus folgt, daß bei Selbständigen die Gewährung von Kg nicht von der Versicherungspflicht in der Sozialversicherung, insbesondere in der Arbeitslosenversicherung abhängig gemacht werden kann. Bei Beamten verzichtet auch die Beklagte auf eine vollständige Eingliederung in alle Zweige der Sozialversicherung, insbesondere der Arbeitslosenversicherung (vgl Runderlaß des Präsidenten der Beklagten vom 26. September 1974, Dienstblatt A, S 1205 ≪Text nicht abgedruckt≫).
Maßgebend ist auch bei Selbständigen, ob hinreichende Verknüpfungen mit dem bundesdeutschen System der sozialen Sicherheit und Fürsorge bestehen. Dabei kann im vorliegenden Fall offenbleiben, ob bereits die bestehenden Mitgliedschaften des Klägers in gesetzlichen und freiwilligen Sicherungssystemen genügen könnten, um eine hinreichende Verknüpfung zu bejahen.
Hier kommt hinzu, daß der Kläger durch seine Mitgliedschaft in einer größeren Anwaltssozietät im System der sozialen Sicherheit und Fürsorge auch die Stellung eines Arbeitgebers innehat. Als solcher hat er im Verhältnis zu den Sozialversicherungsträgern wie zu den Angestellten der Sozietät umfangreiche Pflichten, insbesondere diejenige der Beitragsleistung, und zwar in allen fünf Zweigen der Sozialversicherung. Art 13 Abs 2 NATOTrStatZAbk legt für Arbeitgeber ausdrücklich fest, daß die damit verbundenen Pflichten auch für Angehörige von Truppenmitgliedern bestehenbleiben. Allein schon diese Stellung mit ihren umfangreichen Pflichten bewirkt, daß der Kläger in sozialer Hinsicht nicht zum Entsendestaat seiner Ehefrau, sondern in intensiver Weise zum System der sozialen Sicherheit und Fürsorge der Bundesrepublik Deutschland hin orientiert ist. Diese Einbindung darf sich nicht einseitig nur auf die Pflichtenseite beschränken. Die Kollisionsregel weist die betroffenen Personen hinsichtlich ihres gesamten sozialen Status dem Rechtskreis entweder des Aufnahme- oder des Entsendestaates zu und nicht nur hinsichtlich einzelner Pflichten oder Rechte. Daraus folgt, daß dem Kläger nicht nur einseitig sozialversicherungsrechtliche Arbeitgeberpflichten auferlegt worden sind, sondern ihm auch die Sozialleistung Kg gewährt werden muß. Die bereits erwähnte Entscheidung des 10. Senats vom 27. Juli 1990 (10 RKg 25/90) steht nicht entgegen, weil für die dortige (selbständige) Klägerin keine weiteren Verknüpfungen mit der bundesdeutschen sozialen Sicherheit und Fürsorge festgestellt waren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz und umfaßt auch die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde.
Fundstellen