Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 06.08.1987) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. August 1987 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf eine Verletztenrente wegen einer Quarzstaublungenerkrankung hat.
Der Kläger war von 1947 bis 1973 im saarländischen Steinkohlenbergbau unter Tage tätig. Wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls und einer berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit bezieht er eine Verletztenrente von 25 vH der Vollrente.
Mit Bescheid vom 21. Dezember 1984 lehnte die Beklagte – wie schon im Jahre 1980 – die beantragte Gewährung einer Verletztenrente wegen einer Quarzstaublungenerkrankung (Silikose oder Siliko-Tuberkulose) ab.
Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe auch nach § 581 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Berücksichtigung der bereits gewährten Verletztenrente keinen Anspruch auf eine Verletztenrente nach Nr 4101 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO). Trotz der festgestellten Quarzstaubeinlagerungen in der Lunge liege eine Berufskrankheit nicht vor, denn diese hätten keine leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf zur Folge. Nach dem Gutachten des Dr. R. … sei die bestehende leichtgradige, restriktive und obstruktive Ventilationsstörung auf pleuritische Residuen zurückzuführen, die Folgen einer früheren Erkrankung des Klägers seien. Der Gutachter Prof. Dr. T. … komme zwar zu dem Ergebnis, daß die Einschränkung der Totalkapazität der Lunge hauptsächlich auf den silikotischen Einlagerungen beruhe und eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 15 vH hervorrufe. Ob die leistungsmindernde Beeinträchtigung auf die von diesem Gutachter aufgeführten Ursachen zurückzuführen sei, könne jedoch offen bleiben, da dem Gutachten aus einem anderen Grunde nicht zu folgen sei. Nach der absolut herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Meinung sei nämlich ein Funktionsausfall, der eine MdE von weniger als 20 vH bedingen würde, objektiv nicht zu erfassen. Nach dem gegenwärtigen Stand medizinischer Untersuchungsmethoden seien theoretisch denkbare Funktionseinbußen mit einer MdE von 10 oder 15 vH nicht meßbar, weil insbesondere tägliche physiologische Schwankungen im Funktionsverhalten des cardiopulmonalen Systems in der Größenordnung von plus/minus 20 vH zu Unsicherheiten führen. Eine Berufskrankheit könne daher erst dann festgestellt werden, wenn die MdE mindestens 20 vH betrage.
Mit seiner Revision trägt der Kläger im wesentlichen vor, er habe in seinem Antrag zwar die Gewährung einer Verletztenrente wegen einer MdE von 15 vH begehrt; das schließe aber nicht aus, daß eine höhere MdE vorliege. Die Feststellung des LSG, die bestehenden Quarzstaubeinlagerungen hätten keine leistungsmindernde Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf zur Folge, sei verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Prof. Dr. T. … habe in seinem Gutachten eine Verschlechterung der Lungenfunktion festgestellt und sie auf die Silikose zurückgeführt. Das LSG hätte sich daher nicht darauf beschränken dürfen, seiner Entscheidung das Gutachten des Dr. R. … zugrunde zu legen. Der Umstand, daß Prof. Dr. T. … den durch die Silikose hervorgerufenen Grad der MdE mit 15 vH schätzte, habe dem LSG nicht das Recht gegeben, dieses Gutachten bei der Beweiswürdigung völlig außer acht zu lassen, zumal da die Bewertung der MdE nicht Aufgabe des medizinischen Sachverständigen, sondern die des Gerichts sei.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts sowie den Bescheid der Beklagten idF des Widerspruchsbescheides aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger durch Bescheid wegen der Berufskrankheit nach der Nr 4101 der Anlage zur BKVO eine Verletztenrente nach einem durch das Gericht festgesetzten Grad der MdE zu bewilligen;
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und trägt zusätzlich vor, die Tatsachenfeststellungen des LSG seien verfahrensfehlerfrei zustande gekommen. Insbesondere habe das LSG sich mit dem Gutachten des Prof. Dr. T. … in nicht zu beanstandender Weise auseinandergesetzt.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat konnte nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.
Die Revision des Klägers führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, weil dessen Tatsachenfeststellungen, soweit sie verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind, zur abschließenden Entscheidung nicht ausreichen.
Das LSG ist in Übereinstimmung mit den Beteiligten zutreffend davon ausgegangen, daß eine Quarzstaublungenerkrankung iS der Nr 4101 der Anlage zur BKVO noch nicht vorliegt, wenn bloße berufsbedingte Quarzstaubeinlagerungen in der Lunge vorhanden sind, die sich jedoch in keiner Weise auf die Funktion von Atmung und Kreislauf auswirken (vgl hierzu Urteile des BSG vom 25. Februar 1971 – 7/2 RU 178/66 – und vom 10. Mai 1968 – 5 RKnU 13/67 – BSG SozR Nr 17 zu § 45 RKG; Begründung zur 5. BKVO, Bundesarbeitsblatt 1952, 409, 411; Heußner, Kompaß 1971, 63). Der Anspruch des Klägers wäre daher – auch nach der Ansicht des Berufungsgerichts – unter Berücksichtigung der anderweitigen Verletztenrente nach § 581 Abs 3 RVO dann begründet, wenn die festgestellten Quarzstaubeinlagerungen zu Funktionsstörungen der Atmung oder des Kreislaufs und einer MdE von mindestens 10 vH führen.
Das LSG hat zwar aufgrund des medizinischen Gutachtens des Dr. R. … festgestellt, die vorhandene leichtgradige, restriktive und obstruktive Ventilationsstörung sei nicht Folge der Quarzstaubeinlagerungen, sondern auf unabhängig davon bestehende pleuritische Residuen zurückzuführen. Diese rechtserhebliche Tatsachenfeststellung ist jedoch – wie der Kläger zutreffend rügt verfahrensfehlerhaft zustande gekommen und kann daher der Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden. Insbesondere durfte das Berufungsgericht das medizinische Gutachten des Prof. Dr. T. … nicht mit der gegebenen Begründung unberücksichtigt lassen. Wenn das LSG ausdrücklich offen läßt, ob die vom Gutachter mit einer MdE von 15 vH bewertete leistungsmindernde Beeinträchtigung auf die von ihm aufgeführten Ursachen (Quarzstaubeinlagerungen) zurückzuführen ist, setzt es sich damit in Widerspruch zu seiner vorher gegebenen materiell-rechtlichen Begründung, wonach diese offen gebliebene Tatsache rechtserheblich ist. Selbst wenn man aber unter Berücksichtigung der weiteren Begründung darin lediglich eine mißverständliche Formulierung sieht, die das Vorhandensein silikosebedingter Funktionseinschränkungen nicht dahingestellt sein lassen, sondern verneinen wollte, ist die Würdigung des Gutachtens des Prof. Dr. T. … rechtsfehlerhaft. Es mag dahingestellt bleiben, ob es einen medizinischen Erfahrungssatz des Inhalts gibt, daß Funktionseinbußen mit einer MdE von weniger als 20 vH nicht meßbar sind. Ein solcher Erfahrungssatz – sollte er bestehen – ließe keineswegs den Umkehrschluß zu, daß gemessene Funktionseinschränkungen nicht auf festgestellte Quarzstaubeinlagerungen zurückzuführen sind. Das ist im vorliegenden Fall schon deshalb nicht möglich, weil Prof. Dr. T. … nur den silikosebedingten Teil der Funktionseinschränkungen mit einer MdE von 15 vH bewertet hat, so daß die gesamten Einschränkungen der Lungenfunktion eine höhere MdE bedingen und die Meßbarkeit erklären können. Es geht also – anders als in dem vom LSG zugrunde gelegten medizinischen Erfahrungssatz – im vorliegenden Fall nicht um die Meßbarkeit der Funktionseinschränkungen, sondern lediglich um die Frage, ob und in welchem Umfang die gemessenen Funktionseinschränkungen auf die Quarzstaubeinlagerungen zurückzuführen sind.
Durfte das LSG aber das Gutachten des Prof. Dr. T. … nicht mit der gegebenen Begründung unberücksichtigt lassen, so durfte es seine Entscheidung auch nicht ausschließlich auf das Gutachten des Dr. R. … stützen. Vielmehr hätte es das Gutachten des Prof. Dr. T. … ohne den angeblichen medizinischen Erfahrungssatz würdigen und gegen das Gutachten des Dr. R. … sowie die sonstigen medizinischen Äußerungen abwägen müssen. Erst wenn feststeht, daß der Kläger an einer Berufskrankheit leidet, wenn also die festgestellten Funktionseinschränkungen ganz oder teilweise auf die Quarzstaubeinlagerungen zurückzuführen sind, besteht Anlaß zu einer Schätzung des Grades der MdE, die nicht dem medizinischen Sachverständigen, sondern dem Gericht aufgrund der medizinischen Tatsachen obliegt.
Das Berufungsgericht wird auch über die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu entscheiden haben.
Fundstellen