Leitsatz (amtlich)

Anschluß an Urteil des 12. Senats BSG 1962-10-31 12/3 RJ 36/60 = SozR Nr 21 § 1246 BL Aa 12 RVO - RegNr 1775 zu § 1246 RVO , Leitsatz 1 und 2: "Aus dem Umstand, daß in RVO § 1246 Abs 2 S 1 die in RVO § 1254 aF gebrauchten Worte "in derselben Gegend" fehlen, ist nicht zu schließen, insoweit habe sich die Rechtslage für den Versicherten bei der Beurteilung der Frage geändert, ob er auf auswärtige Arbeitsgelegenheiten verwiesen werden kann.

Wenn es am Wohnort des Versicherten keine Tätigkeiten gibt, durch die er nach dem Stande der ihm verbliebenen Kräfte und Fähigkeiten die gesetzliche Lohnhälfte erwerben kann, und wenn er infolge von Krankheit nicht im Stande ist, im Wege sogenannten Pendelns oder im Wege eines Umzugs an einen anderen Ort die sich ihm außerhalb seines Wohnortes bietenden Arbeitsgelegenheiten zu nutzen, deren Nutzung ihm zum Erwerb der gesetzlichen Lohnhälfte verhelfen würde, so ist er berufsunfähig. Insoweit handelt es sich um die Frage der Fähigkeit zum Erwerb, nicht um die hiervon zu scheidende Frage der Gelegenheit zum Erwerb, ebensowenig um die Frage der Zumutbarkeit, sei es der Zumutbarkeit iS des RVO § 1246 Abs 2 S 2, sei es der Zumutbarkeit aus allgemeinen rechtlichen Gesichtspunkten."

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23, S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1254 Fassung: 1949-06-17

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 6. Juli 1960 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Rechtsstreit wird um eine Rente wegen Berufsunfähigkeit geführt.

Der im Jahre 1903 geborene und während des Revisionsverfahrens - im Jahre 1963 - gestorbene frühere Kläger war bis 1956 überwiegend als Land- und Holzarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Im August 1957 beantragte er eine Versichertenrente, weil er an einer Zuckerharnruhr leide und deshalb nicht mehr arbeiten könne. Die im Verwaltungsverfahren angestellten Ermittlungen bestätigten das Vorliegen einer mittelschweren Zuckerharnruhr (Diabetes mellitus). Gleichwohl lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Versicherten durch Bescheid vom 23. Mai 1958 ab; sie hielt ihn noch für fähig, leichtere Arbeiten zu verrichten und dadurch mindestens die Hälfte des Einkommens eines ihm vergleichbaren gesunden Versicherten zu erzielen.

Auf die hiergegen gerichtete Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Stade durch Urteil vom 4. Mai 1959 den Ablehnungsbescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, von August 1957 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 6. Juli 1960 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat außer der - im Vordergrund des Krankheitsbildes stehenden - Zuckerharnruhr einen reduzierten Kräftezustand bei vorzeitigem Altersaufbrauch, eine Lungenblähung, Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule, eine Dupuytren'sche Kontraktur der dritten bis fünften Finger und eine Schuppenflechte an den Unterschenkeln festgestellt. Es hat den Versicherten für fähig erachtet, täglich sechs bis acht Stunden leichte körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen, bei Schutz vor Durchnässung und Kälte, in möglichst staubfreier Luft, ohne allzu langen Anmarschweg zu verrichten, vorausgesetzt, daß dabei die Möglichkeit einer bestimmten Diät und die Einnahme einer warmen, auf die erforderliche Diät ausgerichteten Mittagsmahlzeit gegeben sei. Demgemäß hat das LSG den Versicherten auf Arbeiten eines Packers, Sortierers, Stanzers oder dergleichen in industriellen Betrieben als verweisbar angesehen. Zu der Frage, ob der Versicherte Arbeitsplätze der genannten Art erreichen konnte, hat es ausgeführt: In der kleinen, ländlichen Wohngemeinde des Klägers und in deren näherer Umgebung seien für den Versicherten keine geeigneten Arbeitsplätze vorhanden; der nächstgelegene Ort mit solchen Arbeitsplätzen sei die Stadt Stade. Diese sei für den Versicherten von dem 3 km von seinem Wohnort entfernten Ort Himmelpforten aus durch Omnibus- und Bahnverbindungen mit 1/2 bezw. 1/4-stündiger Fahrzeit zu erreichen. Bei einer Arbeitsaufnahme in Stade müßte der Versicherte aber den ganzen Tag von seiner Wohnung abwesend sein. Dies erlaube ihm sein Gesundheitszustand nicht, weil er dadurch nicht nur körperlich überfordert würde, sondern vor allem auch die Einhaltung der Zuckerdiät nicht gewährleistet wäre. - Dem Versicherten könne aber auch mit Rücksicht auf seine Zuckerkrankheit eine Wochenendpendelei bis zu einem möglichen Umzug nach Stade oder einem anderen Ort mit günstigeren Arbeitsmöglichkeiten nicht zugemutet werden. - Bei dieser Sachlage hänge die Entscheidung des Rechtsstreits davon ab, ob und inwieweit die Frage der Berufsunfähigkeit dadurch beeinflußt werde, daß der Versicherte in der für ihn erreichbaren Gegend Arbeitsplätze nicht finden könne. § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) lasse es nicht zu, daß der besonderen Situation des Arbeitsmarktes am jeweiligen Wohnort des Versicherten, insbesondere dem Umstand, daß dort gewerbliche und industrielle Betriebe kaum oder sogar überhaupt nicht vorhanden seien, eine Bedeutung zugebilligt werde. Auf die Erreichbarkeit eines geeigneten Arbeitsplatzes durch den Versicherten komme es daher nicht an. Für eine unterschiedliche Beurteilung des Versichertenrisikos, je nachdem, ob ein Versicherter in einer ländlichen oder in einer industriellen Gegend wohne, bestehe auch kein Bedürfnis mehr, nachdem die Freizügigkeit wiederhergestellt sei. Somit sei für die Beurteilung der Berufsfähigkeit die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit des Versicherten im allgemeinen nur insoweit von Bedeutung, als sie sich auf die ihm zugemutete Tätigkeit selbst - nicht auf die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes - beziehe. Anders sei es allenfalls dann, wenn ein Versicherter nicht einmal mehr den ortsüblichen Nahverkehr mit Straßenbahnen, Omnibus und Vorortbahnen auf sich nehmen könne.

Der Versicherte hat - die vom LSG zugelassene - Revision eingelegt und zu deren Begründung im wesentlichen ausgeführt: Dem LSG sei zwar darin beizupflichten, daß die allgemeine Arbeitslage am Wohnort des Versicherten für die Beurteilung der Berufsunfähigkeitsfrage ohne Bedeutung sei. Im vorliegenden Streitfalle wirke sich jedoch nicht nur die Arbeitsmarktlage ungünstig für den Versicherten aus, sondern außerdem die Tatsache, daß eine auswärts vorhandene Arbeitsgelegenheit für ihn allein wegen der bestehenden Zuckerharnruhr und der hierdurch bedingten Notwendigkeit, eine diätische Lebensweise einzuhalten, nicht erreichbar sei. Deshalb müsse der Versicherte, obwohl er in seiner physischen Arbeitsfähigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt sei, als berufsunfähig angesehen werden.

Nach dem Tode des Versicherten haben seine drei Kinder - die jetzigen Revisionskläger- das unterbrochene Streitverfahren aufgenommen. Sie beantragen,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 6. Juli 1960 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 4. Mai 1959 zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie pflichtet den Ausführungen des Berufungsgerichts bei.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist zulässig und begründet.

Das durch den Tod des früheren Klägers unterbrochene Revisionsverfahren (§ 68 SGG in Verbindung mit § 239 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) ist durch Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten der Kinder des früheren Klägers vom 26. August 1963 wirksam aufgenommen worden, sofern wenigstens eines der das Streitverfahren fortführenden Kinder - die Ehefrau des Versicherten ist vor ihm gestorben - mit dem Versicherten in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat oder von ihm wesentlich unterhalten worden ist (§ 1288 Abs. 2 RVO). Die erste dieser beiden Alternativvoraussetzungen trifft nach den von den jetzigen Revisionsklägern vorgelegten Erklärungen auf Frau A von Sch geb. H zu.

Nach den von keinem der Beteiligten angegriffenen und deshalb das Bundessozialgericht (BSG) bindenden Feststellungen des LSG war der Versicherte zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren noch fähig, täglich sechs bis acht Stunden leichte körperliche Arbeiten - mit gewissen Einschränkungen wie überwiegend im Sitzen - als Packer, Sortierer, Stanzer oder dergleichen in industriellen Betrieben zu verrichten und dadurch mindestens die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. Voraussetzung hierfür war allerdings, daß eine bestimmte Diät eingehalten und eine dem Zuckerstoffwechsel angepaßte warme Mittagsmahlzeit eingenommen werden konnte. Wie das LSG weiter bindend festgestellt hat, waren Arbeitsgelegenheiten der genannten Art in der Gemeinde Engelschoff und in deren näherer Umgebung nicht vorhanden; der nächstgelegene größere Ort mit geeigneten Arbeitsplätzen war die Stadt Stade. Bei einer Arbeitsaufnahme in Stade wäre der Versicherte den ganzen Tag von seiner Wohnung abwesend gewesen. Dadurch wäre er körperlich überfordert worden, vor allem wäre die Einhaltung der Zuckerdiät nicht gewährleistet gewesen.

Mit der Frage, ob unter solchen Umständen ein Versicherter berufsunfähig ist, hat sich der 12. Senat des BSG im Urteil vom 31. Oktober 1962 - 12/3 RJ 36/60 - (SozR RVO § 1246 Nr. 21) auseinandergesetzt. Er ist - ebenso wie der erkennende Senat im Urteil vom 19. August 1964 - 4 RJ 169/62 - davon ausgegangen, daß Ursachen der Berufsunfähigkeit nur Krankheiten, Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte sind, also Berufsunfähigkeit nicht schon dann vorliegt, wenn der Versicherte noch auf bestimmten, ihm nach seiner bisherigen Berufstätigkeit zumutbaren Arbeitsplätzen einsatzfähig ist, aber solche Arbeitsplätze - seien sie frei oder besetzt - an seinem Wohnort oder dessen näherer Umgebung nicht findet.

Ist der Versicherte jedoch infolge von Krankheit oder anderen in § 1246 Abs. 2 RVO genannten Störungen seiner körperlichen oder geistigen Gesundheit außerstande, an seinem Wohnort nicht vorhandene Arbeitsgelegenheiten in weiterer Entfernung im Wege des täglichen "Pendelns" oder des "Wochenendpendelns" oder durch einen Umzug an einen Ort mit geeigneten Arbeitsplätzen zu nutzen, so ist nach den Ausführungen des 12. Senats (aaO) Berufsunfähigkeit anzunehmen, weil es dann weniger an der Gelegenheit zur Erzielung von Erwerbseinkommen fehlt, als vielmehr an der Fähigkeit hierzu. Dieser Rechtsauffassung schließt sich der erkennende Senat an. Das Arbeitsleben bringt es nicht selten mit sich, daß ein Versicherter erhebliche Entfernungen zwischen Wohnung und Arbeitsplatz zu überbrücken hat und die Zurücklegung dieses Weges mit körperlichen Belastungen verbunden ist, welche die Grenzen der Leistungsfähigkeit eines gesundheitlich nicht mehr voll einsatzfähigen Versicherten überschreiten können. Wer eine sich ihm bietende Arbeitsgelegenheit zu nutzen nicht imstande ist, weil sein Gesundheits- und Kräftezustand ihm die Zurücklegung des Weges zur Arbeitsstätte nicht erlaubt, ist in gleicher Weise berufsunfähig wie ein Versicherter, der zur reinen Arbeitsleistung aus den in § 1246 Abs. 2 RVO genannten Gründen nicht mehr in der Lage ist. Für die rechtliche Bewertung der körperlich bedingten Unfähigkeit, den Weg zur Arbeitsstätte zurückzulegen, ist es - entgegen der in dem angefochtenen Urteil anklingenden Auffassung - auch unerheblich, ob dieser Weg innerhalb des Nahverkehrs mit Straßenbahnen, Omnibus und Vorortbahnen zurückzulegen ist oder - wie dies beim Heranholen der Arbeitnehmer mit betriebseigenen Omnibussen oft geschieht - weit darüber hinausführt.

Bei dieser Rechtslage hätte das LSG die Frage nach der Berufsunfähigkeit des Versicherten nicht ohne weiteres verneinen dürfen. War der Versicherte infolge seiner Zuckerkrankheit nicht imstande, die in Stade oder einem anderen größeren Ort vorhandenen, für ihn geeigneten Arbeitsplätze - an seinem Wohnort und dessen näherer Umgebung gab es solche Arbeitsplätze nach den getroffenen Feststellungen nicht - im Wege des sogenannten Pendelns oder im Wege eines Umzugs zu erreichen, so war er berufsunfähig. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt daher in tatsächlicher Hinsicht davon ab, ob der Kläger die Schwierigkeiten, die sich ihm in der Überbrückung der Entfernung zwischen seiner Wohnung und einem geeigneten Arbeitsplatz in den Weg stellten, zu überwinden in der Lage war. Hierzu hat das LSG lediglich - sinngemäß - festgestellt, der Versicherte habe nicht täglich zur Arbeit fahren können, weil "er dadurch nicht nur körperlich überfordert, sondern vor allem auch die Einhaltung der Zuckerdiät nicht gewährleistet" gewesen wäre. Das LSG hat aber nicht geklärt - dazu war es von seiner abweichenden Rechtsauffassung aus nicht gehalten -, ob dem Versicherten eine dauernde oder vorübergehende Wochenendpendelei oder ein sofortiger Umzug nach Stade möglich gewesen wäre. Es hätte festgestellt werden müssen, ob die von dem Versicherten benötigte Diätkost nur in der eigenen Familie oder auch in einem Gasthaus oder bei einer Wohnungsvermieterin zubereitet werden konnte und - je nach dem Ergebnis dieser Ermittlungen - ob der Versicherte mit seiner ihn betreuenden Tochter alsbald eine Wohnung mit Kochgelegenheit an dem für ihn in Betracht kommenden neuen Arbeitsort hätte finden können. Weil es an solchen Feststellungen fehlt, kann das BSG in der Sache selbst nicht entscheiden. Es hat daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Dabei wird gegebenenfalls auch über die Bezugsberechtigung der Kinder des früheren Klägers (§ 1288 Abs. 2 RVO) abschließend zu befinden sein, sofern nicht die Revisionskläger zu 1) und 2) durch entsprechende Prozeßerklärungen wieder aus dem Verfahren ausscheiden. Dem Senat erschien es nicht tunlich, insoweit schon jetzt zum Nachteil der Revisionskläger zu 1) und 2) zu entscheiden, weil die Beklagte noch keine Gelegenheit genommen hat, sich hierzu zu erklären.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2000644

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