Leitsatz (amtlich)

Die Vorschriften über Maßnahmen wegen aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose betreffen zwar Leistungen aus der Rentenversicherung, gehören aber zu den innerstaatlichen Regelungen zur Bekämpfung der Tuberkulose als Volksseuche. Sie werden nicht von überstaatlichem Recht berührt, das sich auf die Sozialversicherung der Wanderarbeitnehmer bezieht.

Mit diesem Recht kann die Beschränkung der Tuberkulosebekämpfung auf das Inland nach RVO § 1244a Abs 9 nicht kollidieren.

 

Normenkette

RVO § 1244a Abs. 9 Fassung: 1959-07-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. August 1968 wird aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. April 1967 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob anstelle der Klägerin - einer Betriebskrankenkasse - die Beklagte als Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung die Kosten einer stationären Tuberkulosebehandlung in Italien zu tragen hat.

Der Versicherte ist italienischer Staatsangehöriger und war vom 20. Juli 1959 an mit einer kurzen Unterbrechung in der Bundesrepublik versicherungspflichtig beschäftigt. Während eines Heimaturlaubs in Italien erkrankte er an Tuberkulose. Vom 29. Dezember 1962 bis zum 19. Dezember 1963 wurde er deswegen dort stationär behandelt. Anschließend bezog er während einer Schonzeit von etwa sechs Monaten Krankengeld.

Die Beklagte lehnte eine Kostenübernahme mit der Begründung ab, daß nach § 1244 a Abs. 9 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ein Anspruch auf Maßnahmen wegen Tuberkulose nur bestehe, soweit die Betreuten in der Bundesrepublik Deutschland behandelt würden.

Das Sozialgericht Karlsruhe hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. April 1967). Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat festgestellt, daß die Beklagte für die stationäre Tuberkulosebehandlung des Versicherten in der Zeit vom 29. Dezember 1962 an der zuständige Versicherungsträger sei (Urteil vom 30. August 1968), weil § 1244 a Abs. 9 RVO wegen des Vorrangs der Vorschriften der Verordnung des Rats der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer Nr. 3 (EWG-VO Nr. 3) nicht anwendbar sei.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit dem Revisionsantrag, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision hat Erfolg.

Die Maßnahmen wegen aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose nach § 1244 a RVO sind zwar auch Regelleistungen aus der Rentenversicherung der Arbeiter (BSG 23, 238), gehören aber vor allem zu den innerstaatlichen Vorkehrungen gesundheitspolizeilicher Art, durch welche die Tuberkulose als Volksseuche bekämpft, d. h. ausgemerzt oder wenigstens niedergehalten werden soll. Sie haben damit eine Funktion, die im wesentlichen außerhalb des Aufgabenbereichs der Sozialversicherung liegt. Sie werden deshalb nicht von überstaatlichem Recht berührt, das die Soziale Sicherheit im engeren Sinne - etwa die Sozialversicherung der Wanderarbeitnehmer - betrifft. Die Anwendbarkeit der EWG-VO Nr. 3 ist damit ausgeschlossen. Der Streit darüber, ob es sich bei den erwähnten Maßnahmen um "Leistungen bei Krankheit" oder um "Leistungen bei Invalidität" im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b der EWG-VO Nr. 3 handele, ist gegenstandslos. Die Beschränkung der Tuberkulosebekämpfung auf das Inland (§ 1244 a Abs. 9 RVO) kann mit dem genannten überstaatlichen Recht nicht kollidieren. Aus diesem Grunde kommt die Anrufung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften nicht in Betracht. - Die Beklagte kann sich dem von der Klägerin geltend gemachten Anspruch gegenüber zu Recht auf § 1244 a Abs. 9 RVO berufen.

Das Vorstehende erklärt sich zunächst aus der Entstehungsgeschichte des § 1244 a RVO. Die Vorschrift wurde durch das Gesetz über die Tuberkulosehilfe (THG) geschaffen. Sie ist nur im Zusammenhang mit diesem Gesetz und dem später erlassenen Bundessozialhilfegesetz (BSHG) verständlich. Der mit den gesetzgeberischen Vorarbeiten betraute Bundestagsausschuß für Kommunalpolitik und öffentliche Fürsorge bemerkte ausdrücklich, daß die Versicherungsträger eine Aufgabe übernähmen, die nicht zu den versicherungsmäßigen Aufgaben gehöre (Schriftlicher Bericht; BT-Drucks. III/680). Die endgültige Fassung des § 1244 a RVO geht auf den erst in der zweiten Lesung des THG eingebrachten Änderungsantrag aller Fraktionen des Bundestages (Umdruck 236 zur 66. Sitzung am 18. März 1959) zurück. Eine Begründung hierzu fehlt und ist anderen Materialien nicht zu entnehmen. Wenn auch eine gewisse rechtstechnische Angleichung an die im Gesetz vorausgehenden Vorschriften über Rehabilitationsmaßnahmen (§§ 1236 bis 1244 RVO) erzielt wurde, so wurde doch der Zusammenhang mit der allgemeinen Tuberkulosehilfe nicht gelöst oder auch nur gelockert. Gerade die territoriale Begrenzung in § 1244 a Abs. 9 RVO versteht sich aus dem seuchenpolizeilichen Zweck der Tuberkulosehilfe. Die weiter zurückliegende Vorgeschichte stützt diese Beurteilung. Die Rentenversicherungsträger setzten zwar schon lange Zeit vor der gesetzlichen Regelung einen sehr großen Teil der Mittel, die sie für Heilbehandlungen aufwendeten, zur Behandlung der Tuberkulose ein. Spätestens seit dem Erlaß der Richtlinien über Gesundheitsfürsorge in der versicherten Bevölkerung vom 27. Februar 1929 (RGBl I 69) standen die Bekämpfung der Volkskrankheiten und die Hebung der Volksgesundheit im Vordergrund. Auch die Richtlinien über das Tuberkulose-Versorgungswerk der Rentenversicherung (vgl. den sog. Verbindlichkeitserlaß des Reichsarbeitsministers vom 3. Juni 1944 - AN S. II 150 -) und die Richtlinien vom Jahre 1958, die in § 1244 a RVO mit geringen Änderungen zum Gesetz erhoben wurden (vgl. Komm. zur Reichsversicherungs-Ordnung, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband deutscher Rentenversicherungsträger - Verbandskommentar -, 6. Aufl., Anm. 2 a zu § 1244 a), hatten den Kampf gegen die Volksseuche Tuberkulose und die Behebung der Ansteckungsgefahr bei Erkrankungen an Tuberkulose zum Ziel. Dies entspricht genau den Aufgaben der gesetzlichen Tuberkulosehilfe (§ 48 Abs. 1 BSHG).

Entscheidend für die Meinungsbildung des Senats war jedoch der Inhalt der Vorschrift des § 1244 a RVO selbst, der sich von dem sonstiger versicherungsrechtlicher Bestimmungen entfernt. Entgegen dem Grundsatz, daß die Maßnahmen der Rentenversicherung zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit Ermessensleistungen sind (§ 1236 Abs. 1 RVO), besteht auf Maßnahmen wegen aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose ein echter Anspruch der Berechtigten, und zwar nicht nur - wie sonst - für sie selbst, sondern auch für Ehegatten und Kinder (§ 1244 a Abs. 1 RVO). Der Begriff der Versicherten (§ 1244 a Abs. 2 Satz 1 RVO) ist weiter gefaßt als für Maßnahmen nach den §§ 1236 ff RVO (vgl. Verbandskommentar, Anm. 3 zu § 1236 RVO). Das eigentliche Ziel der allgemeinen Rehabilitationsmaßnahmen, nämlich Erhaltung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, braucht nicht erreicht zu werden; die Maßnahmen für Tuberkulöse sind nicht an die Voraussetzungen des § 1236 Abs. 1 RVO gebunden. Nimmt man die Befugnis der Bundesregierung zu Einzelweisungen und damit zur Durchbrechung des Selbstverwaltungsrechts der Rentenversicherungsträger (§ 137 BSHG) und die - wohl nur vorübergehend aufgehobene (vgl. BT-Drucks. VI/1126 S. 41) - Kostentragung durch den Bund in Asylierungsfällen (§ 138 BSHG) hinzu, so ergibt sich das Bild einer Sonderaufgabe, die mit den Zwecken und Zielen der Sozialversicherung allenfalls entfernt zusammenhängt. Schon das Wort "Tuberkulosebekämpfung" verdeutlicht, daß es dem Gesetzgeber um die Erhaltung der Volksgesundheit ging, weniger um die Begründung subjektiver Rechte. Gewisse Gemeinsamkeiten mit der Krankenversicherung wie z.B. die Einbeziehung der Angehörigen des Berechtigten, die das LSG veranlaßten, in den Maßnahmen wegen aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose eine "Leistung bei Krankheit" im Sinne der EWG-VO Nr. 3 zu sehen, sind in Wirklichkeit Grundzüge der außerhalb des Rechts der Sozialen Sicherheit im engeren Sinne liegenden Tuberkulosehilfe als einer Einrichtung der Gesundheitspolizei.

Dafür, daß von allen zur Tuberkulosebekämpfung verpflichteten Stellen außerhalb der Tuberkulosehilfe und des öffentlichen Dienstes (§§ 132 ff BSHG) gerade und nur den Rentenversicherungsträgern zusätzliche Leistungsverpflichtungen auferlegt werden, gibt es eine Erklärung, die zugleich die Arbeitsteilung zwischen Kranken- und Rentenversicherung (§ 1244 a Abs. 3 Satz 2 RVO) und die territoriale Begrenzung (§ 1244 a Abs. 9 RVO) verständlich macht. In den vorangegangenen Jahrzehnten hatten die Rentenversicherungsträger ein System von ärztlichen und sozialen Diensten aufgebaut und in großer Zahl Tbc-Sanatorien errichtet. Auf die Weiter- und Mitarbeit der Rentenversicherungsträger sollte nicht verzichtet werden. Deren Leistungssystem hätte an Wirksamkeit verloren, wäre es auf einen anderen Träger übergeleitet worden. Wahrscheinlich hätten sich auch nur schwer zu überwindende Schwierigkeiten bei etwaigen Entschädigungen der Rentenversicherungsträger ergeben. Da dieses Leistungssystem nur im Geltungsbereich der RVO existierte und funktionierte, wäre eine territoriale Erweiterung sinnlos gewesen. Die Aufgaben der Tuberkulosebekämpfung als innerstaatlicher Gesundheitspolizei enden der Natur der Sache nach an den Landesgrenzen.

Gegen die dargelegte Rechtsauffassung lassen sich möglicherweise Einwendungen aus dem Gesetzesaufbau oder auf anderer Grundlage vorbringen. Sie sind aber, soweit sie dem Senat bekannt waren und in die Überlegungen mit einbezogen werden konnten, nicht geeignet, die Meinung des Senats zu ändern. Weil sich die Klägerin darauf beruft, daß auch europäisches Recht eingreife, sei - obwohl es nach der Ansicht des Senats hierauf nicht ankommen kann - nebenbei ausgeführt: Die in zwischen- und überstaatlichen Regelungen verwirklichten Ziele der Freizügigkeit und der Sozialen Sicherheit werden nicht angetastet. Insbesondere bleiben die Grundsätze der EWG-VO Nr. 3, nämlich Gleichbehandlung aller von ihr erfaßten Personen (Art. 8), unmittelbarer Export von Geldleistungen - Renten und Sterbegelder - (Art. 10) und mittelbarer Export von Sachleistungen der Krankenversicherung (Art. 19), unberührt. Der in diesem Verfahren umstrittene Leistungsausschluß gründet sich weder auf die Staatsangehörigkeit noch auf den Wohnsitz, Wohnort oder Aufenthaltsort, sondern auf den Behandlungsort. Im Inland genießen Deutsche und fremde Staatsangehörige in gleicher Weise den Schutz aus § 1244 a RVO, im Ausland beide Personengruppen nicht.

Da die Beklagte hiernach aus der allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 1244 a RVO nicht verpflichtet ist, die der Klägerin entstandenen Kosten zu übernehmen, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 122

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