Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 25. Februar 1992 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist noch, ob die Beklagte die Kosten des Aufenthalts des Klägers und seiner Mutter in Davos/Schweiz über den 31. Dezember 1988 hinaus ganz oder teilweise zu übernehmen hat.
Der am 28. April 1974 geborene Kläger und seine Schwester (früher: Kläger zu 1 und zu 2) leben seit 1985 wegen Erkrankungen im Bereich der Atemwege und der Haut zusammen mit ihrer Mutter annähernd ganzjährig in Davos und stehen dort in regelmäßiger ambulanter, zeitweise auch stationärer Behandlung. Nachdem sich die Beklagte in der Vergangenheit an den Behandlungskosten sowie den Übernachtungs- und Verpflegungskosten für den Kläger und seine Mutter beteiligt hatte, lehnte sie mit Bescheid vom 27. Dezember 1988 eine weitere Beteiligung ab. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 8. September 1989). Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat mit Urteil vom 29. November 1990 die Beklagte verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die Aufenthaltskosten des Klägers in Davos für die Zeit ab 1. Januar 1989 zu tragen. Die Klage der Klägerin zu 2 wurde abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten wurde das erstinstanzliche Urteil ohne mündliche Verhandlung am 25. Februar 1992 abgeändert und die Klage des Klägers (zu 1) ebenfalls abgewiesen; die Revision wurde zugelassen. Das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) wurde dem Kläger am 5. Februar 1993 zugestellt.
Mit seiner Revision beruft sich der Kläger in erster Linie auf den unbedingten Revisionsgrund des § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und macht geltend, daß der zeitliche Abstand zwischen der mündlichen Verhandlung (am 10. Dezember 1991) bzw der Beratung und Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (am 25. Februar 1992) und der Absetzung des Urteils im Februar 1993 so groß sei, daß das Urteil als nicht mit Gründen versehen anzusehen sei. Es bestünden konkrete Anhaltspunkte dafür, daß den an der Entscheidung beteiligten Richtern das Ergebnis der mündlichen Verhandlung bzw das Ergebnis der Beratung bei Abfassung des Urteils nicht mehr gegenwärtig gewesen sei. Insbesondere habe in den Entscheidungsgründen keine Berücksichtigung gefunden, daß in der mündlichen Verhandlung am 10. Dezember 1991 aufgrund einer durchgeführten Beweiserhebung und auf Vorschlag des Gerichts ein für ihn positiver Vergleich geschlossen worden sei, den die Beklagte allerdings später widerrufen habe. Da den Beteiligten seinerzeit bedeutet worden sei, daß die Beklagte bei Widerruf des Vergleichs ein entsprechend dem Vergleich abgefaßtes Urteil zu erwarten habe, habe das Gericht von dem anläßlich des Vergleichsabschlusses erteilten Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht Gebrauch machen dürfen, ohne die Beteiligten vorher darauf hinzuweisen, daß eine völlige Änderung der Beurteilung zu erwarten sei. Damit sei auch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt, weil er, der Kläger, nicht habe damit rechnen können, daß das Gericht anders als im Vergleich vorgesehen entscheiden werde.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 25. Februar 1992 aufzuheben und die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Beklagte verpflichtet bleibt, dem Kläger im Rahmen ihres Ermessens für die Zeit vom 1. Januar 1989 bis zu seinem Abitur für jeden Tag seines Aufenthalts in Davos einen Pauschalbetrag von 56,00 DM für Unterkunft und Verpflegung und einen Betrag in gleicher Höhe für Unterkunft und Verpflegung seiner Mutter für die Zeit vom 1. Januar 1989 bis zum 31. Dezember 1991 zu gewähren,
hilfsweise, die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen,
hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil in der Sache für zutreffend und meint, daß die vom Kläger gerügten Verfahrensmängel nicht vorlägen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Dessen Urteil leidet an einem wesentlichen Mangel des Verfahrens, der auf die Rüge des Klägers zur Aufhebung des Urteils führt.
Der Kläger macht zu Recht geltend, daß das angefochtene Urteil gegen § 551 Nr 7 ZPO verstößt. Diese gem § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltende Regelung enthält die unwiderlegliche Vermutung, daß eine Entscheidung stets auf einer Verletzung des Gesetzes beruht, wenn sie nicht mit Gründen versehen ist; dann liegt ein unbedingter und absoluter Revisionsgrund vor. Einem Urteil fehlen die Gründe auch dann, wenn – wie hier – zwischen dem Zeitpunkt der (abschließenden) Beratung, die dem Urteil zugrundeliegt, und der Übergabe der schriftlich niedergelegten, von den Richtern unterschriebenen Urteilsgründe an die Geschäftsstelle zum Zwecke der Zustellung mehr als fünf Monate liegen. Nach Ablauf von fünf Monaten ist weder eine Übereinstimmung zwischen den tatsächlichen und den später niedergelegten Entscheidungsgründen noch deren Beurkundungsfunktion mit hinreichender Sicherheit gewährleistet. Zwar hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes in seiner Entscheidung vom 27. April 1993 (- GmS-OGB 1/92 –; NJW 1993, 2603) dies nur für den Fall eines nach mündlicher Verhandlung verkündeten Urteils entschieden und eine Verletzung des § 551 Nr 7 ZPO bzw des gleichlautenden § 138 Nr 6 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ausdrücklich nur in Fällen bejaht, in denen Tatbestand und Entscheidungsgründe eines bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßten Urteils nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung des Urteils schriftlich niedergelegt, von den Richtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Das bedeutet jedoch nicht, das entsprechendes nicht auch in Fällen der vorliegenden Art zu gelten hätte, in denen das Urteil ohne mündliche Verhandlung ergangen ist. Dazu ist in der genannten Entscheidung nicht Stellung genommen worden. Zwar bestehen zwischen beiden Verfahrensarten nicht unerhebliche Unterschiede: Bei Urteilen, die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergehen, wird die Verkündung durch Zustellung ersetzt (§ 133 Satz 1 SGG), so daß das Urteil grundsätzlich erst – und anders als bei der Verkündung – mit der Zustellung (und zwar in vollständig abgefaßter Form, vgl statt vieler Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 133 SGG Rz 15) wirksam und damit existent wird. Das bedeutet ua, daß das Gericht eingehende Schriftsätze noch bis zur Zustellung (Hinausgabe der Entscheidung zur Post) zu berücksichtigen hat und schon deshalb gezwungen sein kann, erneut in die Beratung einzutreten und das Ergebnis früherer Beratungen zu ändern oder aufzuheben. Aus diesem Grund hat das Gesetz für Entscheidungen, die nur zuzustellen sind, auf die Festlegung bestimmter Fristen, die es für die Übergabe der vollständigen Abfassung verkündeter Urteile an die Geschäftsstelle bzw für die Zustellung verkündeter Urteile vorsieht (§ 134, § 135 SGG), verzichtet und damit zum Ausdruck gebracht, daß es im schriftlichen Verfahren grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts steht, wann es – nach abschließender Beratung – die Zustellung und damit das Wirksamwerden des Urteils veranlaßt. Während bei Entscheidungen aufgrund mündlicher Verhandlung die Verkündung regelmäßig im Anschluß an die mündliche Verhandlung erfolgt und deshalb die Niederlegung der Gründe (sofern das Urteil bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßt war) in die Zeit nach der Verkündung und damit nach dem Wirksamwerden des Urteils fällt, ist in Verfahren ohne mündliche Verhandlung die schriftliche Abfassung des Urteils zwangsläufig auf die Zeit vor der Zustellung des Urteils verlegt, so daß eine Verzögerung in der Niederlegung der Gründe hier immer ein noch nicht wirksames Urteil betrifft.
Ungeachtet der aufgezeigten Unterschiede muß aber das, was für die verzögerte schriftliche Niederlegung und Übergabe an die Geschäftsstelle bei verkündeten Urteilen gilt, auch in Fällen der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gelten, und zwar unabhängig davon, ob der Tag der – abschließenden – Entscheidungsberatung (Urteilserlaß) entsprechend § 136 Abs 1 Nr 3 SGG im Urteil anzugeben oder ob dessen Fehlen unschädlich ist (so Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ Buchholz 310 § 117 VwGO Nr 5 zu § 117 VwGO, der allerdings – anders als § 136 Abs 1 Nr 3 SGG – die Angabe des Tages der mündlichen Verhandlung nicht vorschreibt). Ist nämlich – wie im vorliegenden Fall – der Tag der abschließenden Entscheidungsberatung im Urteil angegeben und damit der Zeitpunkt, zu dem das Urteil erlassen worden ist, im Urteil selbst dokumentiert, und ist das Urteil erst (weit) mehr als fünf Monate nach der Beratung schriftlich niedergelegt, unterschrieben und der Geschäftsstelle zwecks Zustellung übergeben worden, so gilt auch in diesem Fall, daß die Beurkundungsfunktion der Urteilsgründe nicht mehr gewährleistet ist. Nach § 136 Abs 1 Nr 6 SGG iV mit dem gem § 202 SGG heranzuziehenden § 313 Abs 3 ZPO sind in dem Urteil des Gerichts die Gründe anzugeben, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Dieser Verpflichtung ist nur dann genügt, wenn die Entscheidungsgründe, die in das schriftlich abzufassende Urteil aufgenommen werden, mit den Gründen übereinstimmen, die nach dem Ergebnis der Urteilsberatung für die richterliche Überzeugung und die von dieser getragenen Entscheidung maßgeblich waren. Damit von einer solchen Übereinstimmung ausgegangen werden kann, ist es notwendig, daß zwischen der dem Urteil zugrundeliegenden Beratung und seiner schriftlichen Niederlegung, Unterzeichnung und Übergabe an die Geschäftsstelle eine nicht zu große Zeitspanne liegt, damit Fehlerinnerungen vermieden werden.
Im Hinblick hierauf kann es keinen prinzipiellen Unterschied begründen, ob die Urteilsberatung aufgrund mündlicher Verhandlung oder ohne eine solche erfolgt und ob das Urteil alsbald nach der Beratung verkündet oder später zugestellt wird. Denn die Gefahr, daß die Beurkundungsfunktion der Urteilsgründe wegen des abnehmenden richterlichen Erinnerungsvermögens im Einzelfall nicht mehr gewährleistet ist, wird auch in Fällen einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in dem Maße größer, in dem der Zeitabstand zwischen der (abschließenden) Urteilsberatung auf der einen und der Abfassung der Gründe auf der anderen Seite zunimmt. Dieser Gefahr kann zwar das Gericht bei einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung uU dadurch begegnen, daß es die Beratungen erneut aufnimmt und den Tag der (erneuten) Beschlußfassung im Urteil vermerkt. Ist dies aber nicht geschehen, muß sich das Gericht hinsichtlich der Beurkundungsfunktion der Urteilsgründe an den gleichen Maßstäben messen lassen, wie wenn es aufgrund mündlicher Verhandlung ein Urteil verkündet hätte. Ansonsten würden die Beteiligten mit der Erteilung des Einverständnisses zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gleichsam auch auf die Beurkundungsfunktion der Urteilsgründe verzichten, weil sich dann das Gericht nach der abschließenden Urteilsberatung beliebig lange Zeit mit der Abfassung und Übergabe der Entscheidungsgründe an die Geschäftsstelle lassen könnte. Das widerspricht nicht nur dem Zweck des schriftlichen Verfahrens, das einer zügigen Verfahrenserledigung und damit letztlich der Prozeßökonomie dienen soll, sondern widerspricht auch Grundsätzen der Rechtssicherheit, die gebieten, die Zeit für die nachträgliche Abfassung, Unterzeichnung und Übergabe eines abschließend beratenen, aber nicht verkündeten Urteils in gleicher Weise – auf längstens fünf Monate – zu begrenzen, wie dies für verkündete Urteile vorgesehen ist. Jedenfalls kann in dem von den Beteiligten erteilten Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung kein hinreichender Grund dafür gesehen werden, daß – anders als bei verkündeten Urteilen – mit der Zustellung nach Belieben gewartet oder eine längere als fünfmonatige Verspätung hingenommen werden darf. Soweit das BVerwG bezüglich einer ohne mündliche Verhandlung ergangenen Entscheidung eine die genannte Grenze überschreitende Verzögerung noch als unschädlich iS von § 138 Nr 6 VwGO angesehen hat (BVerwG Buchholz 427.6 § 12 BFG Nr 17), bedarf es keiner Anfrage an dieses Gericht, ob es an seiner Rechtsprechung festhält; denn mit dem Beschluß des Gemeinsamen Senats ist auch dieser Entscheidung, die der damaligen Rechtsprechung des BVerwG zu verkündeten Urteilen gefolgt ist, die Grundlage entzogen.
Der Anwendung der vom Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes entwickelten Grundsätze auf Fälle der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung steht nicht entgegen, daß das streitige Urteil hier bereits vor dem Beschluß des Gemeinsamen Senats vom 27. April 1993 zugestellt war. Denn dieser hat die von ihm entwickelten Grundsätze ohne Vorbehalt auf ein im Jahre 1990 verkündetes Urteil angewandt. Diesem Ergebnis stehen auch Vertrauensschutzgründe nicht entgegen, wie der 12. Senat in seinem Urteil vom 22. September 1993 (- 12 RK 39/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen) zutreffend ausgeführt hat. Danach liegen selbst dann, wenn der Beschluß des Gemeinsamen Senats im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG SozR 3-1750 § 551 Nrn 2 und 3 mwN) wie eine Änderung des Prozeßrechts zu behandeln sein sollte, die Voraussetzungen für eine Ausnahme von dem Grundsatz der sofortigen Geltung des Prozeßrechts nicht vor. Denn die Erwartung der Beteiligten, daß sie aufgrund des LSG-Urteils eine sachliche Klärung der streitigen Rechtsfrage durch das Revisionsgericht erreichen können, ist keine der Schutzwürdigkeit materiell-rechtlicher Gewährleistungen vergleichbare verfahrensrechtliche Position (vgl BVerfGE 63, 343, 359; anders für die Zulässigkeit eines bereits eingelegten Rechtsmittels BVerfG NJW 1993, 1223 und für die Änderung von Kostenregelungen BSG SozR 3-2500 § 15 SGB V Nr 1).
Zwischen der Beschlußfassung des LSG am 25. Februar 1992 und der Übergabe des unterschriebenen Urteils an die Geschäftsstelle sowie der Zustellung am 5. Februar 1993 liegen mehr als elf Monate. Die Überschreitung der 5-Monats-Frist ist vom Kläger innerhalb der Revisionsfrist gerügt worden. Die Verletzung des § 551 Nr 7 ZPO führt daher zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung, ohne daß der Senat in der Sache entscheiden kann und insbesondere auch nicht prüfen darf, ob das Urteil auch eine unzulässige Überraschungsentscheidung enthält. Eine Ausnahme vom Gebot der Zurückverweisung ist vom Gemeinsamen Senat auch für den Fall, daß der Rechtsstreit vom Revisionsgericht in der Sache entschieden werden könnte, nicht erwogen worden und auch nach der Rechtsprechung des BSG nicht zulässig; § 170 Abs 1 Satz 2 SGG gilt nicht bei absoluten Revisionsgründen (BSGE 63, 43, 45 = SozR 2200 § 368a Nr 21 mwN; Urteil des 12. Senats vom 22. September 1993, aaO). Ob eine Ausnahme von dieser Rechtsprechung für den Fall zuzulassen ist, daß der Revisionskläger nur die rechtlichen Erwägungen des – verspätet abgesetzten – Berufungsurteils angreift (vgl Lösche, Urteilsanm in SGb 1993, 642, 643 mwN), bedarf hier keiner Entscheidung; denn der Kläger hat ua auch die Tatsachenwürdigung des LSG angegriffen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden haben.
Fundstellen
NZA 1994, 1152 |
Breith. 1994, 496 |