Leitsatz (amtlich)
1. Fällt es vorwiegend in den Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers, daß bei der Rentenfeststellung notwendige und mögliche Ermittlungen unterlassen worden sind, und ist deshalb die Rente zu niedrig festgestellt worden, so kann er sich bei einer späteren Neufeststellung der Rente nach RVO § 1300 (AVG § 79) nicht auf Verjährung berufen.
2. Die Neufeststellung einer Rente nach RVO § 1300 (= AVG § 79) unter Berücksichtigung einer nachträglich nachgewiesenen Beitragsleistung zur früheren RfA kann frühestens für die Zeit vom Inkrafttreten des FAG SV (1952-04-01) an erfolgen.
Normenkette
RVO § 29 Abs. 3, § 1300 Fassung: 1957-02-23; AVG § 79 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Mai 1966 wird unter Zurückweisung der Revision im übrigen, wie folgt geändert:
Die Beklagte wird unter teilweiser Änderung ihrer Bescheide vom 21. August 1962 verurteilt, den Klägern die sich aus der Berücksichtigung von Angestelltenversicherungsbeiträgen ergebenden Rentennachzahlungen auch für die Zeit vom 1. April 1952 bis 30. April 1957 - vorbehaltlich etwaiger gesetzlicher Verrechnungen mit anderen Leistungsträgern - zu gewähren.
Die weitergehende gegen die Beklagte gerichtete Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte hat den Klägern zwei Drittel der Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe
Streitig ist, ob die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) gegenüber den Ansprüchen der Kläger auf Rentennachzahlung mit der Einrede der Verjährung durchdringt.
Die Klägerin, K W., Vertriebene aus Schlesien, beantragte am 5. Dezember 1949 für sich und ihren minderjährigen Sohn Heinz W. die Hinterbliebenenbezüge aus der Versicherung ihres seit 1945 verschollenen, später zum 31. Dezember 1945 für tot erklärten Ehemannes M W. Im Rentenantrag gab sie dessen Beruf mit "Bautechniker" an. Die damals für Invalidenversicherung (IV) und Angestelltenversicherung (AnV) zuständige Landesversicherungsanstalt (LVA) N in L stellte Ermittlungen wegen der Beitragsleistung des Versicherten an; dabei schrieb sie auch zweimal an den Treuhänder der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA), erhielt jedoch die Antwort, daß bei der RfA kein Beitragskonto zu ermitteln sei. Die Sozialversicherungsanstalt (SVA) Sachsen teilte mit, daß bei ihr die aufgerechnete Quittungskarte Nr. 2 durchgelaufen sei.
Für die Waise bewilligte die LVA die Rente aus der IV (ArV) vom 1. Januar 1950 an (später vom 1. März 1948 an nach § 2 des Kriegsfristengesetzes); die Gewährung der Witwenrente für die Klägerin lehnte sie ab, weil die damals geforderten besonderen Voraussetzungen (Invalidität u. a.) nicht gegeben seien. Das bayerische Oberversicherungsamt (OVA) L verpflichtete indessen die LVA, der Klägerin vom 1. August 1951 an Witwenrente aus der IV des verschollenen Ehemannes zu zahlen. Das Urteil vom 19. Februar 1952 wurde rechtskräftig. Die LVA bewilligte danach mit Bescheid vom 19. Juni 1952 die Witwenrente entsprechend dem Urteil. Im Mai 1961 begehrte die Klägerin die Neufeststellung der Witwen- und Waisenrente nach dem Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG). Dabei übergab sie auch die beglaubigte Abschrift einer Beitragsquittung der Barmer Ersatzkasse für den Monat Juli 1943. Daraufhin ermittelte die LVA weiter; Zeugen gaben an, der Ehemann der Klägerin sei zunächst in der IV und später als Schachtmeister in der AnV versichert gewesen. Nunmehr gab die LVA die Akten an die BfA ab mit dem Hinweis, daß diese die Renten weiterzahlen müsse.
Die BfA stellte die Witwen- und Waisenrente neu fest; sie rechnete die Zeit von Januar 1940 bis März 1945 als Beitragszeit in der AnV an, wodurch sich gegenüber der bisherigen Rente wesentlich höhere Zahlungen ergaben. Diese ließ sie - soweit sie nicht mit dem Versorgungsamt zu verrechnen waren für die Zeit von Mai 1957 an, d. h. vier Jahre vor dem Neuantrag, den Klägern zukommen; für die Zeit vorher berief sie sich auf Verjährung (Bescheide vom 21. August 1962).
Die Kläger machten geltend, ihnen müsse die erhöhte Rente vom 1. März 1948 an nachgezahlt werden. Das Sozialgericht (SG) München gab der Klage statt (Urteil vom 4. Dezember 1963). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) dagegen hob das Urteil des SG auf und wies - unter Zulassung der Revision - die Klage ab. Die Beklagte habe sich zulässigerweise auf die Einrede der Verjährung berufen. Bei der Antragstellung der Klägerin im Mai 1961 seien die Ansprüche auf die höheren Leistungen für die Zeit vor dem 1. Mai 1957 verjährt gewesen. Die Einrede der Beklagten stelle auch keine unzulässige, gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßende Rechtsausübung dar. Den Anlaß zur Neuprüfung habe die von der Klägerin erst im Jahre 1961 vorgelegte Quittung der Barmer Ersatzkasse gegeben. Diese Quittung und die daraufhin angestellten Ermittlungen hätten dann zu einer Neuregelung nach § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) geführt. Andererseits habe die LVA Niederbayern/Oberpfalz bei objektiver Würdigung alles getan, was damals zur Klärung erforderlich gewesen sei. Im Anschluß an die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) Bd. 19 S. 93 könne deshalb die Einrede der Verjährung nicht als rechtsmißbräuchlich angesehen werden (Urteil vom 18. Mai 1966).
Mit der Revision beantragen die Kläger,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Sie rügen eine Verletzung des § 205 AVG in Verbindung mit § 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die von der Beklagten erhobene Einrede der Verjährung verstoße gegen Treu und Glauben und sei eine mißbräuchliche Rechtsausübung.
Als Hinweis auf eine AnV-Pflicht hätte die Angabe im Rentenantrag, der Versicherte sei zuletzt Bautechniker gewesen, aufgefaßt werden müssen. Deshalb hätte sich die LVA nicht mit der zweimaligen Anfrage beim Treuhänder der RfA und mit der Anfrage bei der SVA begnügen dürfen; sie hätte den Klägern vielmehr von dem negativen Ergebnis der Ermittlungen Kenntnis geben und sie zur weiteren Substantiierung ihres Vorbringens und zur Beibringung weiterer Beweismittel veranlassen müssen. Wäre dies geschehen, dann wäre die Quittung der Barmer Ersatzkasse nicht erst 1961, sondern schon im Anschluß an den Rentenantrag im Jahre 1949 vorgelegt worden. Nicht das Verhalten der Klägerin allein sei die Ursache dafür gewesen, daß die Rente nicht schon 1949 richtig festgestellt worden sei. Hätte die LVA ihrer weiteren Sachaufklärungs- und Belehrungspflicht vollständig genügt, so wäre es nicht zu der unrichtigen Rentenfeststellung gekommen. Das Verhalten der LVA habe aber die Beklagte wie eigenes Verschulden zu vertreten.
Die Beklagte beantragte
die Zurückweisung der Revision.
Die Revision ist zulässig und teilweise auch begründet.
Zwar ist, wie der Senat mit Urteil vom 23. April 1963 - 1 RA 15/60 - (BSG 19, 93, 96) entschieden hat, die Einrede der Verjährung in den Fällen, in denen, wie hier, eine Neufeststellung durch den Versicherungsträger nach § 79 AVG stattgefunden hat, nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sondern jedenfalls dann zulässig, wenn die Neufeststellung nur die Höhe einer bereits laufenden Rente betrifft. An dieser Rechtsauffassung ist auch im vorliegenden Rechtsstreit festzuhalten. Die Kläger haben die Rente, um deren Erhöhung in der Vergangenheit es hier geht, bereits seit 1. August 1951 bzw. 1. März 1948 bezogen. Auch haben den unmittelbaren Anlaß zu der Neuberechnung erst der Antrag von Mai 1961 und das Ergebnis der daraufhin angestellten Ermittlungen gegeben. Nach § 205 AVG in Verbindung mit § 29 Abs. 3 RVO verjährt der Anspruch auf Leistungen (hier auf die erhöhten Leistungen) des Versicherungsträgers in vier Jahren nach der Fälligkeit, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist (was hier nicht der Fall ist). Da die Verjährung nur die Ansprüche auf die einzelnen, auf die zurückliegende Zeit entfallenden Leistungen - im Gegensatz zu dem Stammrecht - betrifft, ist sie, was unter den Beteiligten nicht streitig ist, an sich für die vor Mai 1957 fälligen Rentenleistungen eingetreten. Die Beklagte hat sich auch schon vor dem Revisionsverfahren auf die Verjährung berufen (BSG 6, 283).
In dem vom Senat früher entschiedenen Streitfall, auf den sich das LSG für seine Auffassung beruft, lagen aber die Verhältnisse so, daß es zu der ursprünglich fehlerhaften Rentenfeststellung ohne jedes Zutun des Versicherungsträgers gekommen war; der Rentenempfänger ist erst viele Jahre nach der Rentenfeststellung mit allein ihm zugänglichen Kenntnissen und Unterlagen an den Versicherungsträger herangetreten, um eine höhere Rente zu erhalten. Für diesen Fall hat der Senat in der Geltendmachung der Verjährung durch den Versicherungsträger keine mißbräuchliche und darum unzulässige Rechtsausübung gesehen. Die Einrede der Verjährung, die § 29 Abs. 3 RVO hinsichtlich der Ansprüche auf Leistungen gibt, soll die Versicherungsträger entlasten und sie davor bewahren, Leistungen für weit zurückliegende Zeiten gewähren zu müssen. Fällt daher die fehlerhafte Rentenfeststellung nicht - auch nicht teilweise - in den Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers, so ist es ihm nicht verwehrt, von dem Rechtsbehelf aus § 29 Abs. 3 RVO Gebrauch zu machen.
Dem vorliegenden Rechtsstreit liegt jedoch ein anderer Sachverhalt zugrunde. Der Rentenantrag der Kläger vom 5. Dezember 1949, den auch das LSG in seine sachlich-rechtliche Betrachtung einbezieht, enthält nämlich deutliche Anhaltspunkte für die Annahme, daß der Ehemann der Klägerin auch in der Rentenversicherung der Angestellten versichert gewesen ist. Dazu gehört zunächst die Bezeichnung "Bautechniker", welche die Klägerin als den Beruf des Versicherten angegeben hatte und die nach Abschn. XV Ziff. 1 der Berufsgruppenbestimmung der AnV vom 8. März 1924 einen Angestellten im Baugewerbe kennzeichnet; diese Berufsbezeichnung des Versicherten enthält auch die dem Rentenantrag beigefügte Heiratsurkunde der Klägerin. Einen Hinweis auf die Angestellteneigenschaft des Versicherten ergibt ferner - was im bisherigen Verfahren noch nicht zur Sprache gekommen ist - die als Anlage zum Rentenantrag eingereichte beglaubigte Abschrift einer Gutschrift der Deutschen Bank, Filiale Breslau, über eine Gehaltsüberweisung an den Versicherten für Oktober 1944 (Bl. 1 und Bl. 6 der Akten der BfA), aus der - wie auch im Rentenantrag selbst - der Name des damaligen Arbeitgebers ersichtlich ist. Angesichts dieser Anhaltspunkte durfte sich der Versicherungsträger bei der Bearbeitung des Rentenantrags nicht damit begnügen, daß die Anfragen nach einer Beitragsleistung zur AnV beim Treuhänder der RfA und bei der SVA Sachsen ohne Ergebnis geblieben sind. Mit Recht sagt vielmehr die Revision, daß der Versicherungsträger die Kläger von dem negativen Ergebnis seiner Bemühungen hätte unterrichten und sie zur Beibringung weiterer Unterlagen und Nachweise hätte auffordern müssen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß daraufhin die Kläger die in ihrem Besitz befindliche Quittung der Barmer Ersatzkasse vorgelegt hätten und daß die - davon unabhängigen, durch die Angaben im Rentenantrag und dessen Anlagen nahegelegten - Ermittlungen, die später (1961) ein für die Kläger günstiges Ergebnis gehabt haben, schon damals (1949 - 1952) von Erfolg gewesen wären. Entgegen der Auffassung des LSG kann daher nicht - wie in dem vom Senat früher entschiedenen Streitfall - gesagt werden, daß der Versicherungsträger bei der Feststellung der Renten alles getan habe, was zur Klärung des Sachverhalts erforderlich gewesen wäre, auch wenn man die Verhältnisse in den Jahren von der Antragstellung bis zur Feststellung der Witwenrente (1949 bis 1952) in Betracht zieht. Der Versicherungsträger kann sich auch nicht darauf berufen, daß die Rente für die Klägerin auf Grund des Urteils des OVA Landshut festgesetzt wurde und daß auch das Gericht den Sachverhalt nicht ausreichend geklärt hat. Denn das Urteil enthielt nur eine Verpflichtung zur Leistungsgewährung dem Grunde nach und überließ dem Versicherungsträger die Feststellung der für die Höhe der Leistung maßgeblichen Grundlagen. Schließlich kann es den Versicherungsträger auch nicht entlasten, daß die Kläger selbst die Bescheinigung der Barmer Ersatzkasse nicht rechtzeitig vorgelegt und wegen der Höhe der Rente lange Zeit nichts unternommen haben. Einer etwaigen Vernachlässigung ihrer Mitwirkungspflicht kommt hier nur geringere Bedeutung zu, zumal die Angaben im Rentenantrag und dessen Anlagen den Versicherungsträger auch ohne die Bescheinigung der Barmer Ersatzkasse zu weiteren und erfolgversprechenden Ermittlungen hätten drängen müssen. Auch handelte es sich nicht - wie in dem vom Senat früher entschiedenen Fall - um den mit seinem Versicherungsleben vertrauten Versicherten selbst, sondern um seine Hinterbliebenen; von ihnen konnte kein ebensolches Maß von Wissen und Rechtskenntnis erwartet werden (vgl. auch Erlaß des Reichsversicherungsamts - RVA - vom 30. Juli 1941 - AN II 311). Bei Abwägung der beiderseitigen Pflichten ist es vielmehr vorwiegend dem Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers zuzurechnen, daß notwendige und mögliche Ermittlungen unterlassen und deshalb die Renten nicht in der richtigen Höhe festgestellt worden sind. Die Beklagte selbst war allerdings an den Vorgängen in den Jahren 1949 bis 1952, die zu der fehlerhaften Rentenfeststellung geführt haben, nicht beteiligt. Sie kann aber, nachdem sie die Rentenzahlung für die Kläger übernommen hat, die Verjährung der Ansprüche nur einwenden, wenn und soweit dies die LVA tun könnte. Wie sich aus dem Gesagten ergibt, ist aber der LVA die Einrede aus § 29 Abs. 3 RVO verwehrt, weil sie selbst nicht alle für die restlose Klärung des Sachverhalts notwendigen und geeigneten Maßnahmen ergriffen hat. Die Beklagte kann insoweit keine weitergehenden Rechte haben als die LVA.
Gleichwohl ist die Beklagte nicht verpflichtet, den Klägern den Unterschiedsbetrag zwischen der ihnen zustehenden und der ihnen gewährten Rente von Anbeginn an, d. h. vom 1. August 1951 bzw. 1. März 1948 an, nachzuzahlen. Da es sich um Beiträge zur früheren RfA handelt, die zu den erhöhten Renten führen, sind Ansprüche gegen die Beklagte nach der ständigen Rechtsprechung des Senats frühestens mit dem Inkrafttreten des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7.8.1953 (BGBl I 848), d. h. vom 1. April 1952 an entstanden (BSG 4, 96). Nur für die Zeit von diesem Tage an bis zum 1. Mai 1957 (von da an haben die Kläger die erhöhte Rente erhalten) kann die Beklagte verurteilt werden, den Klägern die - nach der Befriedigung etwaiger Ersatzansprüche anderer Stellen noch zustehenden - Leistungen aus den höheren Renten zu zahlen. Dies gilt gerade auch für solche Ansprüche, welche die Beklagte nach § 79 AVG neu festzustellen hat ohne Rücksicht darauf, ob und seit wann auf Grund früherer Vorschriften, z. B. des Bayerischen Flüchtlingsrentengesetzes, ein Rentenanspruch bestanden hat. Mit ihrer Mehrforderung, soweit sie gegen die Beklagte gerichtet ist, muß die Klage vielmehr abgewiesen werden. Insoweit ist auch die Revision unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen