Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts. Verstoß gegen formelles Recht. fehlende Anhörung bei der Aufhebung der Arbeitslosengeldbewilligung. Kausalitätsprüfung. Wiedereinsetzung in die Widerspruchsfrist
Leitsatz (amtlich)
Im Verfahren auf Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts verpflichtet nicht bereits eine fehlende Anhörung im Ausgangsverfahren zur Rücknahme eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids.
Orientierungssatz
Zur Frage des Anspruchs auf Wiedereinsetzung gem § 41 Abs 3 SGB 10 hinsichtlich einer versäumten Widerspruchsfrist.
Normenkette
SGB 3 § 119 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 2003-12-23; SGB 10 §§ 24, 41 Abs. 3, §§ 42, 44 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Dezember 2016 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 14. September 2015 zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Rücknahme von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger Alg ab 1.8.2011. Nachdem er die Beklagte darüber informiert hatte, dass er ab 11.11.2011 eine Tätigkeit als Maurer bei der Firma M mit einer voraussichtlichen wöchentlichen Arbeitszeit von weniger als 15 Stunden aufgenommen habe (Veränderungsmitteilung vom 14.12.2011), berechnete die Beklagte das Alg für den Zeitraum ab 1.11.2011 mit einer vorläufigen Anrechnung von Nebeneinkommen für November iHv 3,50 Euro/Tag und ab Dezember iHv 7,83 Euro/Tag neu (Änderungsbescheide vom 14.12.2011 und 21.12.2011). Der Arbeitgeber legte Lohnunterlagen für Oktober 2011 am 28.12.2011 (Arbeitszeiten in der 40. Kalenderwoche ≪KW≫: am 4.10.2011, 5.10.2011 und 6.10.2011 jeweils 8 Stunden, also insgesamt 24 Stunden), für November 2011 am 20.12.2011 (Arbeitszeiten in der 45. KW: am 8.11.2011, 9.11.2011 und 10.11.2011 jeweils 7,5 Stunden, also insgesamt 22,5 Stunden) und für Dezember 2011 am 6.2.2012 (Arbeitszeiten in der 51. KW: 19.12.2011, 21.12.2011 und 22.12.2011 im Umfang von 6,0 Stunden, 6,5 Stunden und 3,5 Stunden, also insgesamt 16 Stunden) vor.
Die Beklagte hob die Bewilligung von Alg für den Zeitraum vom 4.10.2011 bis 23.10.2011 auf, weil der Kläger ab 4.10.2011 wöchentlich 15 Stunden und mehr tätig und damit nicht mehr arbeitslos gewesen sei. Wegen seiner erneuten persönlichen Arbeitslosmeldung erst am 24.10.2011 habe auch danach kein Anspruch auf Alg bestanden. Das überzahlte Alg iHv 976 Euro sowie die Beiträge zur Kranken- und zur Pflegeversicherung iHv 251,65 Euro bzw 31,66 Euro seien zu erstatten (Bescheid vom 12.1.2012). Mit der gleichen Begründung hob die Beklagte die Bewilligung von Alg für die Zeiträume vom 8.11.2011 bis 13.12.2011 und vom 19.12.2011 bis 8.1.2012 jeweils ab dem Beginn der Beschäftigung in der jeweiligen KW bis zu den erneuten Vorsprachen des Klägers bei ihr am 14.12.2011 und 9.1.2012 auf und verlangte die Erstattung des in den streitigen Zeiträumen erbrachten Alg sowie der Beiträge zur Kranken- bzw Pflegeversicherung (Bescheide vom 12.1.2012 und 7.3.2012). Für den Zeitraum vom 8.11.2011 bis 13.12.2011 umfasste die geltend gemachte Erstattung Alg iHv 1574,51 Euro sowie Beiträge zur Krankenversicherung iHv 488,50 Euro und Beiträge zur Pflegeversicherung iHv 61,46 Euro. Bezogen auf die Aufhebung der Alg-Bewilligung für den Zeitraum vom 19.12.2011 bis 8.1.2012 verlangte die Beklagte die Erstattung von Alg iHv 913,54 Euro, von Beiträgen zur Krankenversicherung iHv 251,65 Euro und von Beiträgen zur Pflegeversicherung iHv 31,66 Euro.
Die Anträge des Klägers vom 1.6.2012 und 18.6.2012 auf Rücknahme der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 12.1.2012 und 7.3.2012 lehnte die Beklagte ab (Bescheide vom 4.7.2012; Widerspruchsbescheide vom 23.8.2012). Das SG hat die Klagen abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 14.9.2015).
Nach Vernehmung des Inhabers der früheren M als Zeugen hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 4.7.2012 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 23.8.2012 verpflichtet, die Bescheide vom 12.1.2012 und 7.3.2012 zurückzunehmen (Urteil vom 16.12.2016). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, in den streitigen Zeiträumen habe kein Anspruch auf Alg bestanden, weil der Kläger jeweils mehr als 15 Stunden gearbeitet habe und seine Arbeitslosigkeit bis zu den erneuten Vorsprachen bei der Beklagten entfallen sei. Die Beklagte sei zu einer Aufhebung der Bewilligung von Alg - jeweils ab Eintritt und für die Dauer der Änderung - berechtigt gewesen, weil der Kläger unter Berücksichtigung der Angaben im Merkblatt 1 für Arbeitslose, dessen Erhalt und Kenntnisnahme er mit seiner Unterschrift bestätigt habe, hinreichend deutlich belehrt worden sei. An sich sei Folge der Aufhebung, dass er das in diesen Zeiträumen bezogene, von der Beklagten zutreffend ermittelte Alg einschließlich der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu erstatten habe. Es bestehe aber eine Rücknahmeverpflichtung der Beklagten wegen der fehlenden Anhörung vor Erlass der streitigen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide, die mangels Widerspruchs- oder Klageverfahren auch nicht nachgeholt worden sei. Die fehlende Anhörung mache die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 12.1.2012 und 7.3.2012 nicht nur formell rechtswidrig, sondern bedinge auch die rechtliche Wertung, dass die Bewilligung von Sozialleistungen zu Unrecht aufgehoben und Erstattungspflichten zu Unrecht festgestellt worden seien. Dies könne aus § 42 Satz 2 SGB X abgeleitet werden. Während § 42 Satz 1 SGB X für die Aufhebung eines formell rechtswidrigen Verwaltungsaktes generell eine besonders ausgestaltete Kausalität zwischen der formellen Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes und dem Ergebnis der Verwaltungsentscheidung verlange, gelte dies nach § 42 Satz 2 SGB X gerade dann nicht, wenn - wie vorliegend - die erforderliche Anhörung unterblieben oder nicht wirksam nachgeholt worden sei. Diese Bestimmung habe auch für Entscheidungen nach den §§ 44 und 45 SGB X Bedeutung.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X. Das BSG habe bereits entschieden, dass eine fehlende Anhörung nicht zur Rücknahme nach § 44 SGB X verpflichte. Zudem könne die unterlassene Anhörung im Zugunstenverfahren nachgeholt werden, was vorliegend geschehen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Dezember 2016 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 14. September 2015 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet und das Urteil des LSG ist aufzuheben. Zu Unrecht hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und der Klage stattgegeben. Die angefochtenen, im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X ergangenen Bescheide sind rechtmäßig, weil der Kläger keinen Anspruch auf Rücknahme der bindenden Aufhebungs- und Erstattungsbescheide hat.
1. Gegenstand des Verfahrens sind - neben den Entscheidungen der Vorinstanzen - die Bescheide vom 4.7.2012 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 23.8.2012, mit denen es die Beklagte abgelehnt hat, die Bescheide vom 12.1.2012 und 7.3.2012 zurückzunehmen. Zutreffend verfolgt der Kläger sein Begehren im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Die Anfechtungsklage zielt auf die Aufhebung der Überprüfungsbescheide vom 4.7.2012 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 23.8.2012, die Verpflichtungsklage auf die Rücknahme der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide.
2. a) Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Rücknahme der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 12.1.2012 und 7.3.2012 ist § 44 Abs 1 SGB X. Nach dessen Abs 1 Satz 1 ist ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder - hier nicht von Interesse - Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Zwar sind Gegenstand der Überprüfung hier Bescheide, mit denen die Beklagte als rechtswidrig erkannte Bewilligungsbescheide nach § 330 Abs 3 SGB III iVm § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X aufgehoben hat und zugleich die Erstattung von bereits erbrachten Sozialleistungen nach § 50 SGB X gefordert hat. Nach seinem Regelungszweck erfasst § 44 Abs 1 SGB X jedoch nicht nur Fallgestaltungen, in denen dem Betroffenen ein rechtlicher Nachteil durch ein unrechtmäßiges Vorenthalten einer Sozialleistung entstanden ist, sondern auch solche, in denen der Bürger - wie vorliegend - zunächst Sozialleistungen erhalten hat, die Leistungsbewilligung nachträglich jedoch aufgehoben worden ist (BSG vom 12.12.1996 - 11 RAr 31/96 - SozR 3-1300 § 44 Nr 19; BSG vom 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 - SozR 3-1300 § 44 Nr 21 S 40; BSG vom 13.2.2014 - B 4 AS 19/13 R - BSGE 115, 121 = SozR 4-1300 § 44 Nr 29, RdNr 14).
Die Bescheide vom 12.1.2012 und 7.3.2012 waren nicht rechtswidrig iS von § 44 Abs 1 SGB X. Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Beklagte berechtigt war, die Bewilligung von Alg wegen einer nach Erlass des Bescheides eingetretenen wesentlichen Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X aufzuheben (hierzu b). Auch die subjektiven Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 und 4 SGB X für eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit (Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit) lagen vor (hierzu c). Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts führt auch die unterbliebene vorherige Anhörung des Klägers vor Erlass der streitigen Bescheide nicht zu einer Rücknahmeverpflichtung im Überprüfungsverfahren (hierzu d).
b) Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung, hier des Alg bewilligenden Bescheides, setzt nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X voraus, dass eine wesentliche, dh rechtserhebliche, Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen im Vergleich zu denjenigen eingetreten ist, die bei seinem Erlass maßgebend waren (BSG vom 27.2.1996 - 10 RKg 27/93 - SozR 3-1300 § 48 Nr 47 S 102 f). Dies ist hier der Fall. Bereits mit dem Tag der Aufnahme der Beschäftigungen am 4.10.2011, 8.11.2011 und 19.12.2011 war der Anspruch des Klägers auf Alg wegen Wegfalls der Beschäftigungslosigkeit entfallen.
Nach § 118 Abs 1 Nr 1 SGB III in der hier anzuwendenden, bis zum 31.3.2012 geltenden Normfassung des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 (BGBl I 2848; im Folgenden § 118 SGB III aF) haben Arbeitnehmer nur dann Anspruch auf Alg, wenn sie ua arbeitslos sind. Die hierfür erforderliche Beschäftigungslosigkeit liegt bei Arbeitnehmern vor, die nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, wobei die Ausübung einer weniger als 15 Stunden wöchentlich umfassenden Beschäftigung unschädlich ist; gelegentliche Abweichungen von geringer Dauer bleiben unberücksichtigt (§ 119 Abs 1 Nr 1, Abs 3 Satz 1 SGB III in der Normfassung des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 ≪BGBl I 2848≫). Mit Bezug auf die bis zum 31.12.2004 geltende und inhaltsgleiche Vorgängerregelung des § 118 Abs 2 SGB III aF hat der Senat entschieden und hält hieran fest, dass für die Beurteilung der Kurzzeitigkeit einer Beschäftigung vorrangig auf die (vertraglichen) Vereinbarungen und eine vorausschauende (prognostische) Betrachtungsweise abzustellen ist, die an die Verhältnisse zu Beginn der Beschäftigung oder deren Änderung anknüpft. Zu berücksichtigen sind die Merkmale und Umstände, wie sie bei Beschäftigungsbeginn oder bei Änderung der Beschäftigung vorlagen (BSG vom 13.7.2006 - B 7a AL 16/05 R - SozR 4-4300 § 122 Nr 5 RdNr 10; BSG vom 29.10.2008 - B 11 AL 44/07 R - SozR 4-4300 § 118 Nr 3 RdNr 16 f).
Ausgehend von diesen Maßstäben ist das LSG ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass eine Arbeitslosigkeit des Klägers mit dem ersten Tag der jeweiligen Beschäftigungen vom 4.10.2011 bis zum 6.10.2011, vom 8.11.2011 bis zum 10.11.2011 und vom 19.12.2011 bis zum 22.12.2011 entfallen war. Nach dessen tatsächlichen, nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) zur Tätigkeit des Klägers bei der Firma M waren die mündlichen Vereinbarungen von vornherein nicht auf eine Begrenzung der Wochenarbeitszeit auf unter 15 Stunden angelegt. Vielmehr war bereits mit dem Beginn der Tätigkeit ein - zeitlich nicht auf lediglich kurzzeitige Beschäftigungen begrenzter - Einsatz des Kläger bei einem Bedarf an Arbeitskräften vorgesehen (vgl zur Beschäftigung auf Abruf: BSG vom 29.10.2008 - B 11 AL 44/07 R - SozR 4-4300 § 118 Nr 3, RdNr 16 f, 21). Da der Kläger immer jeweils drei Wochentage hintereinander bzw - in dem Zeitraum vom 19.12.2011 bis 22.12.2011 (51. KW) - nur mit eintägiger Unterbrechung beschäftigt war, kann dahingestellt bleiben, ob bei der Prüfung des Umfangs der Beschäftigung auf die Kalender- oder Beschäftigungswoche abzustellen ist (vgl hierzu BSG vom 13.7.2006 - B 7a AL 16/05 R - SozR 4-4300 § 122 Nr 5 RdNr 10; Söhngen in Eicher/Schlegel, SGB III, § 138 RdNr 66 mwN, Stand November 2013). Wie sich die Beschäftigungsstunden innerhalb der Woche verteilen, ist grundsätzlich unerheblich (Baldschun in Gagel, SGB II/SGB III, § 138 SGB III RdNr 74, Stand Dezember 2016).
Die Aufhebung der Alg-Bewilligung war auch für die Zeiträume nach Beendigung der jeweils mehrtägigen Beschäftigungen bis zu den erneuten Vorsprachen des Klägers bei der Beklagten am 24.10.2011, 14.12.2011 und 9.1.2012, die als Arbeitslosmeldungen zu werten waren, rechtmäßig. Auch insofern lag eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X vor, weil es an der Anspruchsvoraussetzung der Arbeitslosmeldung (§ 118 Abs 1 Nr 2 SGB III aF) fehlte. Nach § 122 Abs 2 Nr 2 SGB III idF des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 (BGBl I 2848) erlischt die Wirkung der Arbeitslosmeldung mit der Aufnahme der Beschäftigung, wenn der Arbeitslose diese der Agentur für Arbeit nicht unverzüglich mitgeteilt hat. Dies war hier jeweils mit dem ersten Tag der Aufnahme der Beschäftigungen der Fall. Trotz einer persönlichen Arbeitslosmeldung des Klägers nach der Beschäftigungsaufnahme am 19.12.2011 bei der Beklagten am 20.12.2011 war die Wirkung der Arbeitslosmeldung - wie von der Beklagten angenommen - bis zum 8.1.2012, dem Tag vor einer weiteren Arbeitslosmeldung am 9.1.2012, erloschen. Insofern hatte der Kläger am 21.12.2011 und 22.12.2011 erneut gearbeitet, ohne dies der Beklagten mitzuteilen.
c) Auch die subjektiven Voraussetzungen für eine Rücknahme der Bewilligungsentscheidung für die Vergangenheit lagen hier vor (vgl BSG vom 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 - SozR 3-1300 § 44 Nr 21 zur Rücknahmepflicht hinsichtlich eines allein unter Verstoß gegen Vertrauensschutzvorschriften ergangenen, bestandskräftig gewordenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides). Nach § 330 Abs 3 SGB III iVm § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X ist der Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit einer der Tatbestände des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 bis 4 SGB X gegeben ist. Dies ist hier der Fall. Das LSG ist ohne erkennbaren Rechtsverstoß davon ausgegangen, dass der Kläger seiner sich aus § 60 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB I ergebenden Pflicht zur Mitteilung der Beschäftigungsaufnahme nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X) bzw eine Unkenntnis des Klägers vom Wegfall seines Alg-Anspruchs jedenfalls auf grober Fahrlässigkeit beruhte (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das LSG den revisionsrechtlich nur in engen Grenzen überprüfbaren Entscheidungsspielraum bei der Feststellung der groben Fahrlässigkeit überschritten hat (vgl nur BSG vom 13.7.2006 - B 7a AL 16/05 R - SozR 4-4300 § 122 Nr 5 RdNr 14).
d) Das Berufungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die unterbliebene Anhörung des Klägers vor Erlass der hier zur Überprüfung gestellten Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 12.1.2012 und 7.3.2012 zu einem Anspruch auf Rücknahme führt. Zwar liegt ein Fehler in der Rechtsanwendung iS des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X vor, weil die Beklagte dem Kläger vor Erlass dieser Bescheide nicht nach § 24 SGB X angehört hat. Auch betont das Berufungsgericht zu Recht die besondere Bedeutung der Anhörung für das Verwaltungs- und Gerichtsverfahren. Deren Fehlen räumt dem Betroffenen aber keine dem materiellen Recht zuzuordnende Position ein, die für sich genommen einen Anspruch auf die Durchbrechung der Bindungswirkung im Überprüfungsverfahren rechtfertigt (BSG vom 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 - SozR 3-1300 § 44 Nr 21 S 43; BSG vom 19.2.2009 - B 10 KG 2/07 R - SozR 4-5870 § 1 Nr 2 RdNr 13; Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 44 SGB X RdNr 41, Stand März 2018; Merten in Hauck/Noftz, SGB X, K § 44 RdNr 48, Stand April 2018; aA Baumeister in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 44 RdNr 75, Stand Dezember 2017).
Bereits aus der Formulierung "und soweit deshalb" in § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X lässt sich ableiten, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes und dem Nichterbringen einer an sich zustehenden Sozialleistung bestehen muss. Ein solcher Kausalzusammenhang lässt sich nur anhand der materiellen Rechtslage beurteilen. § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist daher nach ständiger Rechtsprechung des BSG, an welcher der Senat festhält, dahin zu verstehen, dass die vorenthaltenen Sozialleistungen materiell zu Unrecht nicht erbracht worden sind (BSG vom 22.3.1989 - 7 RAr 122/87 - SozR 1300 § 44 Nr 38 S 108; BSG vom 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 - SozR 3-1300 § 44 Nr 21 S 43 f; BSG vom 24.4.2014 - B 13 R 3/13 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 30 RdNr 28). Dies ergibt sich auch aus der Entstehungsgeschichte des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X. Im Gesetzgebungsverfahren zu § 42 SGB X des Entwurfs eines Sozialgesetzbuches (SGB) - Verwaltungsverfahren - vom 4.8.1978 (BT-Drucks 8/2034), der als § 44 Abs 1 SGB X Gesetz geworden ist, hat der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ausdrücklich das Wort "soweit" eingefügt (vgl BT-Drucks 8/4022 S 28, 82 zu § 42 RegEntwurf). Damit wollte er hervorheben, dass es nicht Sinn und Zweck des Zugunstenverfahrens sein kann, dem Antragsteller mehr zu gewähren, als ihm nach materiellem Recht an Sozialleistungen zusteht (BSG vom 22.3.1989 - 7 RAr 122/87 - SozR 1300 § 44 Nr 38 S 108). Entsprechend kann auch bei der - vorliegend erforderlichen - entsprechenden Anwendung des § 44 Abs 1 SGB X auf Aufhebungs- und Erstattungsbescheide nicht allein die formelle Rechtswidrigkeit der zugrunde liegenden Verwaltungsentscheidung wegen einer unterbliebenen Anhörung dazu führen, dass eine zu Unrecht erbrachte und vom Sozialleistungsträger zurückgeforderte Sozialleistung behalten werden darf.
Dass dem Betroffenen allein aufgrund einer unterbliebenen Anhörung kein unbedingtes Recht zum Behaltendürfen einer an sich nicht zustehenden Sozialleistung eingeräumt wird, lässt sich auch weiteren verfahrensrechtlichen Grundsätzen entnehmen. So kann die Behörde eine unterbliebene Anhörung im Widerspruchsverfahren (vgl hierzu BSG vom 27.3.1984 - 5a RKn 2/83 - SozR 1200 § 34 Nr 18) und nach § 41 Abs 2 SGB X noch während des Gerichtsverfahrens in einem formalisierten Verfahren nachholen. Entsprechend kann das Gericht nach § 114 Abs 2 Satz 2 SGG auf Antrag eines Beteiligten die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern aussetzen, soweit dies im Sinne einer Verfahrenskonzentration sachdienlich ist (vgl hierzu und zu den Anforderungen an ein formalisiertes Verfahren nur BSG vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - BSGE 122, 25 = SozR 4-1500 § 114 Nr 2, RdNr 19). Wie der Große Senat des BSG zudem bereits betont hat, regeln die §§ 41, 42 SGB X die Folgen von Verfahrensfehlern bei Erlass eines Verwaltungsaktes und befreien die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen von der Pflicht, trotz dieser Verfahrensfehler ein neues fehlerfreies Verwaltungsverfahren durchzuführen. Die §§ 41, 42 SGB X enthalten aber keine den Vertrauensschutz der Bürger betreffenden Regelungen dazu, dass eine Verwaltungsbehörde einen Verwaltungsakt, der mangels Anhörung rechtswidrig ist, nicht aufheben und durch einen neuen ersetzen darf (BSG vom 6.10.1994 - GS 1/91 - BSGE 75, 159, 163 = SozR 3-1300 § 41 Nr 7 S 12). Die Verwaltung kann vielmehr - dies betont die Beklagte zu Recht - in Bezug auf einen bereits durch einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid geregelten Sachverhalt einen die Anhörungserfordernisse berücksichtigenden ersetzenden Verwaltungsakt mit im Wesentlichen demselben Regelungsgegenstand auch während des Gerichtsverfahrens erlassen, soweit die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X gewahrt ist.
3. Der Senat hatte keine Veranlassung zu prüfen, ob der Kläger einen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Widerspruchsfrist zu den Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 12.1.2012 und 7.3.2012 nach § 41 Abs 3 SGB X hatte. Hiernach gilt die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist als nicht verschuldet, wenn einem Verwaltungsakt die erforderliche Begründung fehlt oder die erforderliche Anhörung eines Beteiligten vor Erlass des Verwaltungsaktes unterblieben ist ("Fiktion mangelnden Verschuldens"). Eine solche Wiedereinsetzung muss der Betroffene regelmäßig innerhalb der Jahresfrist beantragen (Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl 2017, § 45 RdNr 53; BVerwG vom 31.7.2012 - 4 A 5000/10 ua - BVerwGE 144, 1) und glaubhaft machen, dass die rechtzeitige Anfechtung wegen einer fehlenden Begründung oder Anhörung unterblieben ist (Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, K § 41 RdNr 36, Stand August 2017). Der anwaltlich vertretene Kläger hat jedoch ausdrücklich nur eine Überprüfung der Bescheide vom 12.1.2012 und 7.3.2012 gemäß § 44 SGB X beantragt und auch nicht geltend bzw glaubhaft gemacht, dass er die Widerspruchsfrist aus den genannten Gründen versäumt habe (vgl zur Glaubhaftmachung einer Kausalität zwischen unterbliebener Anhörung und Fristversäumnis: Gregarek in Jahn, SGB X, § 41 RdNr 42 f, Stand September 2005; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 41 RdNr 25; vgl auch BVerfG vom 31.7.2001 - 1 BvR 1061/00 - DVBl 2001, 1747 f).
4. Auch bezogen auf die Erstattungsforderungen der Beklagten ergeben sich - wie das LSG zu Recht ausgeführt hat - keine Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit. Rechtsgrundlage für die mit der Aufhebung des Alg verbundenen Erstattungsverwaltungsakte ist § 50 SGB X iVm § 335 Abs 1 und 5 SGB III. Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben wird, sind nach § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Wurden von der Beklagten Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung für den Bezieher von Alg gezahlt, hat dieser die Beiträge zu ersetzen, soweit die Entscheidung über die Leistung rückwirkend aufgehoben und die Leistung zurückgefordert worden ist (§ 335 Abs 1 und 5 SGB III). Da die Beklagte - wie dargelegt - zur rückwirkenden Aufhebung des Alg berechtigt war, ergeben sich die von ihr in den Bescheiden vom 12.1.2012 und 7.3.2012 festgesetzten Beträge.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NZS 2018, 879 |
SGb 2018, 491 |
SGb 2019, 488 |
KomVerw/LSA 2019, 237 |
FuBW 2019, 215 |
FuHe 2019, 346 |
FuNds 2019, 250 |
KomVerw/B 2019, 237 |
KomVerw/MV 2019, 232 |
KomVerw/S 2019, 193 |
KomVerw/T 2019, 235 |
info-also 2018, 260 |