Leitsatz (redaktionell)
Bei einem nach RVO § 1293 Abs 2 aF in Verbindung mit der Sozialversicherungsdirektive Nr 3 erlassenen Rentenentziehungsbescheid handelt es sich um keine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers; ein Vorverfahren findet daher nicht statt.
Normenkette
RVO § 1293 Abs. 2 Fassung: 1934-05-17; SGG § 79 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 8. März 1957 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die 1918 geborene Klägerin bezog seit dem 1. März 1950 (Bescheid vom 28.11.1950) Invalidenrente von der Beklagten, die auf Grund ärztlicher Gutachten das Vorliegen von Invalidität wegen deformierender rechtsseitiger Kniegelenkentzündung und Verwachsungsbeschwerden nach mehrfachen Kaiserschnittoperationen angenommen hatte.
Die Beklagte entzog der Klägerin die Rente durch Bescheid vom 17. Juni 1953 wieder mit Ablauf des Monats Juni 1953, weil nach ärztlicher Begutachtung der Zustand sich wesentlich gebessert habe und Invalidität nicht mehr anzunehmen sei.
Mit ihrer gegen die Entziehung an das Oberversicherungsamt Münster eingelegten Berufung, die nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht Münster überging, hatte die Klägerin Erfolg. Das Sozialgericht verneinte nach weiterer Beweiserhebung die Annahme einer wesentlichen Zustandsänderung durch Besserung des Befundes, so daß die Rentenentziehung nicht auf § 1293 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. gestützt werden könne. Das Sozialgericht hielt, obwohl nach seiner Auffassung die erneute Prüfung das Vorliegen von Invalidität bei der Klägerin nicht ergeben hatte, auch § 1293 Abs. 2 RVO a.F. aus rechtlichen Erwägungen nicht für anwendbar.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen billigte dagegen durch sein Urteil vom 8. März 1957 auf die Berufung der Beklagten hin deren Rentenentziehung.
Es vertritt gleichfalls die Auffassung, daß sich der Eintritt einer wesentlichen Änderung des zur Invalidität führenden Befundes nicht feststellen lasse, so daß die Rentenentziehung auf § 1293 Abs. 1 RVO a.F. nicht gestützt werden könne.
In Abweichung von der Auffassung des Bundessozialgerichts in dessen Urteilen vom 9. Februar und 23. August 1956 hält das Landessozialgericht weiterhin an seiner schon früher (Urteil vom 24.7.1956, Breithaupt 1957 S. 139) vertretenen Auffassung fest, daß § 1293 Abs. 2 RVO a.F. - den es in Übereinstimmung mit dem Bundessozialgericht für die in Frage kommende Zeit in Verbindung mit den Vorschriften der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3 als geltendes Recht betrachtet - keine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers begründet, sondern den Versicherungsträger bei Vorliegen seiner Voraussetzungen zur Rentenentziehung verpflichtet. Unter diesen Umständen entfalle auch die Notwendigkeit eines Vorverfahrens nach § 79 Nr. 1 SGG, so daß die Anwendbarkeit des § 1293 Abs. 2 RVO a.F. in Verbindung mit der SVD Nr. 3 auch vom Landessozialgericht zu prüfen sei.
Auf Grund der gesamten Unterlagen und des selbst erhobenen Sachverständigenbeweises sicht das Landessozialgericht es als erwiesen an, daß die Erwerbsbeeinträchtigung der Klägerin weder zur Begründung von Invalidität im Sinne des § 1254 RVO a.F. noch zur Begründung von Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO n.F. ausreiche. Das Landessozialgericht hat daher die Rentenentziehung für gerechtfertigt angesehen; es hat wegen seiner Abweichung von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts die Revision zugelassen.
Gegen das am 27. März 1957 zugestellte Urteil hat die Klägerin unter Antragstellung am 2. April 1957 Revision eingelegt und diese am 4. April 1957 begründet.
Sie rügt als Rechtsverletzung, daß das Landessozialgericht den § 1293 Abs. 2 RVO a.F. angewandt hat.
Mit der Einbeziehung dieser Bestimmung in die Erörterungen habe die Klägerin nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen brauchen; ihr sei daher insoweit das erforderliche rechtliche Gehör versagt worden, als das Landessozialgericht ihr zu einer Äußerung in dieser Richtung keine Gelegenheit gegeben habe; schon dieser Verfahrensmangel rechtfertige die Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Darüber hinaus sei die Auffassung des Landessozialgerichts, eine Entziehung nach § 1293 Abs. 2 RVO a.F. stelle keine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers dar, unrichtig, wie die beiden Urteile des Bundessozialgerichts eindeutig ergäben. Das Landessozialgericht habe eine Auseinandersetzung mit jener Rechtsprechung des Bundessozialgerichts unterlassen.
Gehe man schließlich davon aus, daß § 1293 Abs. 2 RVO a.F. eine Ermessensentscheidung vorschreibe, so fehle es bereits an dem nach § 79 Nr. 1 SGG vorgeschriebenen Vorverfahren; darüber hinaus stelle die Entziehung sachlich auch einen Ermessensmißbrauch dar.
Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie bezieht sich "vollinhaltlich" auf das angefochtene Urteil, das sie für überzeugend hält.
Beide Parteien sind auf den Beschluß des erkennenden Senats vom 26. März 1958 - 4 RJ 274/56 - hingewiesen worden; dieser Hinweis hat sie - ohne daß im übrigen weitere Erklärungen abgegeben wurden - veranlaßt, zu beantragen, die Sache ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt; sie ist vom Landessozialgericht zugelassen und damit statthaft.
Die Revision ist jedoch nicht begründet.
Der erkennende Senat hat in seinem Beschluß vom 26. März 1958 - 4 RJ 274/56 - ausdrücklich dargelegt, daß es sich bei einem nach § 1293 Abs. 2 a.F. in Verbindung mit der SVD Nr. 3 erlassenen Rentenentziehungsbescheid nicht um einen Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers handelt und daher ein Vorverfahren nicht stattzufinden habe. Das Bundessozialgericht hat seine entgegenstehende Rechtsprechung (1. und 3. Senat), auf die die Klägerin sich in erster Linie stützt, aufgegeben, wie sich aus jenem Beschluß gleichfalls ergibt. Der Senat konnte daher unbedenklich auch im vorliegenden Falle seine dort entwickelten Grundsätze anwenden.
Handelt es sich danach bei der fraglichen Bestimmung nicht um die Einräumung eines Ermessens an den Versicherungsträger, sondern um die gesetzliche Verpflichtung zur Entziehung einer Rente bei Vorliegen des gesetzlich normierten Sachverhalts, so ist in jeder Lage des Verfahrens von den Gerichten der Sozialversicherung im Rahmen pflichtgemäßer Rechtsanwendung zu prüfen, ob ein entsprechender Tatbestand gegeben ist. Unter diesen veränderten Umständen entfällt auch die letzte Rüge, das Landessozialgericht habe den § 1293 Abs. 2 RVO a.F. in zweiter Instanz überhaupt nicht mehr oder doch jedenfalls nicht ohne ausdrücklichen vorherigen Hinweis anwenden dürfen. Anders, als es der 3. Senat in seinem Urteil vom 23. August 1956 (BSG. 3 S. 209 [216]) folgerichtig annehmen mußte, entfällt dann, wenn nicht mehr durch den Übergang von einer rechtlichen Verpflichtung zu einer bloßen Ermessensmöglichkeit der Wesensgehalt des angefochtenen Aktes sich ändert und daher die Rechtsverteidigung beim "Nachschieben" derartiger Rechtsgründe erschwert werden kann, jeder ersichtliche Grund zu einer Beanstandung des Verfahrens. Eine Hinweisverpflichtung auf einzelne gesetzliche Vorschriften, die vom Gericht möglicherweise angewandt werden können, gibt es im Rahmen des Sozialrechts nicht; an eine Versagung des rechtlichen Gehörs könnte in einem derartigen Zusammenhang allenfalls dann gedacht werden, wenn die für die Partei unerwartete Anwendung anderer Vorschriften andere als die bisher für wesentlich gehaltenen Tatsachenkomplexe zur Grundlage haben und die Partei durch den fehlenden Hinweis gehindert wäre, ihr erforderlich scheinende weitere Sachhinweise zu geben und Beweisanträge zu stellen. Im vorliegenden Falle ist jedoch die der Entscheidung zugrunde liegende tatsächliche Feststellung, die Invalidität bestehe an sich nicht, schon seit dem gerichtlichen Verfahren unbestritten, so daß nicht einzusehen ist, in welcher Weise hier eine unzulässige Beschränkung des rechtlichen Gehörs vorgelegen haben sollte.
Die von der Klägerin erhobenen Rügen greifen demnach sämtlich nicht durch.
Die Revision war daher nach § 170 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen; die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen