Leitsatz (amtlich)

1. Für das Wiederaufleben des Rechtsanspruchs auf Rente an den hinterbliebenen früheren Ehegatten gemäß § 68 Abs 3 iVm Abs 2 AVG (= § 1291 Abs 3 iVm Abs 2 RVO) reicht das Bestehen eines Stammrechts zZt der Wiederheirat aus (Weiterentwicklung von BSG 1962-02-15 4 RJ 58/59 = SozR Nr 3 zu § 1291 RVO, BSG 1978-02-28 4 RJ 87/76 = SozR 2200 § 1291 Nr 14).

2. Eine Kannleistung kann nur wiederaufleben, wenn sie seinerzeit bewilligt worden war (Fortführung von BSG 1968-01-16 11 RA 104/65 = SozR Nr 23 zu § 1291 RVO).

 

Normenkette

AVG § 68 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1291 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 2 Fassung: 1942-06-22, Abs. 3 S. 2 Fassung: 1942-06-22

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 26.06.1980; Aktenzeichen L 5 A 98/79)

SG Koblenz (Entscheidung vom 12.10.1979; Aktenzeichen S 3 A 112/78)

 

Tatbestand

Die 1903 geborene Klägerin war in erster Ehe mit E W (E.W.) verheiratet; 1943 wurde die Ehe geschieden, 1944 ist E.W. gefallen. Im Oktober 1946 ging die Klägerin eine zweite Ehe ein; der nicht rentenversicherte Ehemann verstarb 1960. Die daraufhin erstmals beantragte Hinterbliebenenrente aus der Versicherung von E.W. versagte die Beklagte durch den bindend gewordenen Bescheid vom 30. Mai 1961 mit der Begründung, die Klägerin habe bis zur zweiten Eheschließung keine derartige Leistung beansprucht und erhalten, der Anspruch könne hiernach nicht nach § 68 Abs 2 und 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) wiederaufleben.

Der Überprüfungsantrag der Klägerin vom Juni 1977 hatte im Verwaltungsverfahren keinen Erfolg (Bescheid vom 30. Oktober 1977, Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 1978). Hingegen verurteilte das Sozialgericht (SG) die Beklagte dazu, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden, da im Zeitpunkt der Wiederheirat die Mindestvoraussetzungen für eine Geschiedenenwitwenrente als Kannleistung nach damaligem Recht gegeben gewesen seien. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Seiner Ansicht nach hält die Beklagte zu Recht daran fest, daß keine wiederaufgelebte Geschiedenenwitwenrente zu gewähren sei. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) genüge für § 68 Abs 2 AVG, dh für die Witwenrente, zwar der Anspruch in der Form des Stammrechts, ohne daß ein Antrag auf Leistung der Rente gestellt gewesen sein müsse; bei Rente an die frühere Ehefrau habe der Antrag jedoch materiell-rechtliche Bedeutung. Erst recht sei die Antragstellung entscheidend, wenn die frühere Ehefrau - wie hier - nach den gesetzlichen Vorschriften (§ 28 Abs 3 Satz 2 AVG iVm § 1256 Abs 4 der Reichsversicherungsordnung -RVO- in der 1944 geltenden Fassung) keinen Rechtsanspruch auf die Rente gehabt, deren Gewährung vielmehr im Ermessen des Versicherungsträgers gestanden und zusätzlich der aufsichtsbehördlichen Genehmigung bedurft habe, die ebenfalls eine Ermessensentscheidung gewesen sei. Hieran habe das Rundschreiben des Reichsversicherungsamts vom 10. März 1943 nichts geändert. Auch habe ein "Anspruch", der bei der Wiederheirat weggefallen und bei der Auflösung der zweiten Ehe aufgelebt sei, deshalb nicht bestanden, weil es gegen eine ablehnende Ermessensentscheidung damals kein Rechtsmittel gegeben habe.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Klägerin (sinngemäß),

das angefochtene Urteil aufzuheben und die

Berufung der Beklagten gegen das Urteil des

SG zurückzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung der §§ 79, 68 AVG nF, § 28 AVG aF. Während des in Betracht kommenden Zeitraums habe sie ein Stammrecht auf die Geschiedenenwitwenrente gehabt; eines Antrages auf Gewährung der Leistung habe es hierfür nicht bedurft. Zumindest besitze sie einen Rechtsanspruch auf eine ermessensgerechte Entscheidung über das Stammrecht; dieser Anspruch sei ein solcher im Sinne von § 68 Abs 2 AVG.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Mit dem LSG ist davon auszugehen, daß die Beklagte zu Recht an der Auffassung festgehalten hat, der Klägerin stehe eine wiederaufgelebte Geschiedenenwitwenrente nicht zu.

Da der Bescheid vom 30. Mai 1961, mit dem die Beklagte die Gewährung der Leistung abgelehnt hat, bindend geworden ist (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), kommt für das Begehren auf Überprüfung dieses Bescheides mit dem Ziele einer Neufeststellung allein § 79 AVG als Rechtsgrundlage in Betracht. Eines näheren Eingehens darauf, ob § 44 Abs 1 des Art I des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X) vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) heranzuziehen ist (vgl in diesem Zusammenhang BSG, Urteile vom 5. März 1981 - 9 RV 39/80 - und vom 19. März 1981 - 4 RJ 1/80 -, beide zur Veröffentlichung bestimmt), bedarf es hier schon deshalb nicht, weil sowohl das alte als auch das neue Recht eine Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes voraussetzen. Der Bescheid vom 30. Mai 1961 war aber nicht rechtswidrig.

Mit diesem Bescheid hatte die Beklagte das Bestehen eines Anspruchs der Klägerin auf Geschiedenenwitwenrente verneint, der nach dem Tode des zweiten Ehemannes wiederaufgelebt sei. Ihre rechtliche Grundlage vermochte die 1960 beantragte Leistung allein in § 68 Abs 2 iVm Abs 3 AVG sowie in Art 2 §§ 6, 25 Abs 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) in der 1960 geltenden Fassung des Gesetzes vom 23. Februar 1957 zu finden. Hiernach lebt dann, wenn die frühere Ehefrau eines verstorbenen Versicherten, deren Ehe mit ihm geschieden war, sich wieder verheiratet und diese Ehe nach dem 31. Dezember 1956 aufgelöst wird, der Anspruch auf die Geschiedenenwitwenrente wieder auf (wegen der Behandlung von Versicherungsfällen vor Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze siehe BSG, Beschluß des Großen Senats -GS- in BSGE 14, 238 = SozR Nr 2 zu § 1291 RVO). Da begrifflich nur etwas wiederaufleben kann, was zuvor schon einmal vorhanden gewesen ist, setzt § 68 Abs 2 AVG sonach zwingend voraus, daß im Zeitpunkt der Wiederheirat ein Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente bestanden hatte (so GS aaO S 240; BSGE 16, 202, 203). An einem solchen Anspruch hat es hier gefehlt. Zwar kannte bereits das vor dem 1. Januar 1957 geltende Recht eine Leistung an die frühere Ehefrau des verstorbenen Versicherten. Sie war nach den (1944 und) 1946 geltenden Vorschriften (§§ 28 Abs 2 und 3 Satz 2 AVG und 1256 Abs 4 RVO, beide idV der §§ 8 bzw 2 der Verordnung vom 22. Juni 1942 - RGBl I 411) davon abhängig, ob für den Versicherten zur Zeit seines Todes die Wartezeit für eine Versichertenrente erfüllt, die Anwartschaft darauf erhalten und er verpflichtet war, der geschiedenen Frau nach den Vorschriften des Ehegesetzes vom 6. Juli 1938 (RGBl I 807) Unterhalt zu leisten. Inwieweit für E.W. eine solche Verpflichtung bestand und in seiner Person die versicherungsmäßigen Voraussetzungen vorgelegen haben, hat das LSG nicht geprüft; die hierfür erforderlichen Tatsachen sind nicht festgestellt. Aber auch bei Erfüllung aller dieser Voraussetzungen hat ein Anspruch nicht bestanden. Dabei ist freilich entgegen der Ansicht des LSG nicht entscheidend, daß die Klägerin keinen Antrag gestellt hatte. Wie das BSG in Wiederauflebensfällen von Witwen(Witwer-)-Renten nach § 68 Abs 2 AVG (= § 1291 Abs 2 RVO) bereits wiederholt entschieden hat, ist es unerheblich, ob diese Rente infolge fehlenden Antrags nicht gezahlt worden ist; für das Wiederaufleben genügt es, wenn zur Zeit der Wiederheirat ein Stammrecht (Grundanspruch, Gesamtanspruch) bestanden hatte; darauf, daß die Rente auch festgesetzt und bereits gezahlt oder auch nur beantragt gewesen ist, kommt es nicht an (BSGE 16, 202 = SozR Nr 3 zu § 1291 RVO; ferner Nrn 15, 16 und 37 zu § 1291 RVO; SozR 2200 § 1291 Nr 14; Urteil vom 19. März 1976 - 11 RA 92/73; DAngVers 1976, 372). Denn in § 68 Abs 2 AVG ist nicht von der "Wiedergewährung der Rente", sondern von dem "Wiederaufleben des Anspruchs" die Rede (SozR aaO Nrn 3 und 16). Das muß unbeschadet des Umstandes, daß der die entsprechende Anwendung des Absatzes 2 für die Bezieher einer Rente nach § 42 (§ 43 Abs 2 AVG) anordnende Absatz 3 des Gesetzes nun aber von "Beziehern" spricht - was nach dem Wortsinn an sich auf eine tatsächliche Zahlung hindeutet -, grundsätzlich auch für die hinterbliebenen früheren Ehegatten (im Sinne von §§ 42, 43 Abs 2, gegebenenfalls iVm Art 2 § 18 AnVNG) gelten. Gleichwohl erweist sich das angefochtene Urteil aus einem anderen Grunde als im Ergebnis zutreffend.

Es ist nämlich zu bedenken, daß nach § 28 Abs 3 Satz 2 AVG iVm § 1256 Abs 4 RVO in der anzuwendenden alten Fassung der Gesetze der 1eschiedenen Ehefrau Witwenrente gewährt werden konnte, nicht aber gewährt werden mußte, und daß die Kann-Gewährung der Zustimmung des Reichsarbeitsministers oder der von ihm beauftragten Stelle bedurfte. Damit kam zwar nicht für diese Vorschriften dem Rentenantrag materiell-rechtliche Bedeutung zu, wie dies das LSG (unter Hinweis auf Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 5. Aufl, Anm 5 zu § 1291 RVO) anzunehmen und woraus es zu schließen scheint, daß im vorliegenden Fall schon mangels eines Antrages kein Anspruch gegeben sei; aus BSGE 16, 202, 203 ist eine Bestätigung hierfür nicht zu gewinnen (s in diesem Zusammenhang auch Koch/Hartmann/von Altrock/Fürst, AVG, Anm D I zu § 67 sowie C II 1 zu § 68). Jedoch hat die Tatsache, daß nach dem Gesetz die Rentenleistung damals eindeutig in das Ermessen gestellt war, zur Folge, daß von dem Entstehen eines Stammrechts nicht in der Weise wie bei einem Rechtsanspruch gesprochen werden kann. Wie das BSG zu § 68 Abs 2 Satz 1 Halbs 2 AVG - und damit zugleich zu Halbs 1 der Vorschrift - bereits entschieden hat (SozR Nrn 20 und 23 zu § 1291 RVO), genügt für den "Anspruch" im Sinne des Gesetzes nicht schon das Vorhandensein einer Rechtsgrundlage für die Leistung in der Form einer Kann-Vorschrift; bei einer Kann-Vorschrift muß vielmehr hinzukommen, daß die Verwaltung von ihrem Ermessen auch durch Erlaß eines begünstigenden Verwaltungsaktes Gebrauch gemacht hat (SozR aaO Nr 23). Solange nach dem Tode des Versicherten eine Entscheidung über die Ermessensleistung nicht ergangen war, hatte die geschiedene Ehefrau noch keinen Anspruch (vgl hierzu § 194 des Bürgerlichen Gesetzbuches, § 1675 RVO idF des Gesetzes vom 22. Dezember 1924) auf Zahlung der Hinterbliebenenrente, sondern nur einen Anspruch auf eine sachgerechte Ermessensentscheidung (s dazu § 39 Abs 2 Satz 2, § 40 Abs 2 SGB 1). Dieser Anspruch ist dem in § 68 Abs 2 Satz 1 AVG indessen nicht gleichzusetzen (SozR Nr 23 aaO mit weiteren Nachweisen); er kann ein Wiederaufleben nicht zur Folge haben.

Nach alledem ist für eine Neufeststellung der Leistung kein Raum, so daß, wie geschehen, zu entscheiden war.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1658800

Breith. 1982, 136

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