Orientierungssatz
Zur Verbindlichkeit der ArzneimittelRL des Bundesausschusses der Ärzte und KK.
Normenkette
BMV-Ä § 17 Fassung: 1959-10-01; RVO § 368p Fassung: 1955-08-17; AMRL Nr. 7 Fassung: 1960-12-12
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 26. Februar 1973 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten anläßlich eines Arzneimittelregresses über die Rechtswirkungen der Arzneimittel-Richtlinien.
Der beigeladene Dr. W ist als zur kassenärztlichen Versorgung zugelassener praktischer Arzt Mitglied der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV). Im I. und II. Quartal 1967 verordnete er Patienten u.a. H-Tabletten im Wert von 322,40 DM. Die klagende Ortskrankenkasse (OKK) hielt seine Verordnungsweise für unwirtschaftlich, weil das Präparat nach den Arzneimittel-Richtlinien nicht hätte verordnet werden dürfen, und machte Regreßansprüche gegen die Beklagte geltend. Diese blieben sowohl beim Prüfungsausschuß für wirtschaftliche Verordnungsweise (Beschluß vom 6. Mai 1969) wie beim Beschwerdeausschuß (Beschluß vom 2. Juli 1969) der Beklagten erfolglos.
Die Klägerin hat ihr Ziel mit der Klage weiterverfolgt und sich darauf gestützt, daß die Arzneimittel-Richtlinien für Kassenärzte verbindlich seien. Das Sozialgericht (SG) Bremen hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 7. April 1971). Die Berufung gegen dieses Urteil an das Landessozialgericht (LSG) Bremen ist ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 26. Februar 1973): Die Arzneimittel-Richtlinien hätten keinen normativen, sondern einen wegweisenden Charakter. Ihre Rechtswirkung erschöpfe sich darin, daß sie von den Mitgliedern der Beklagten beachtet werden sollten. Weiche ein Kassenarzt von den Richtlinien ab, so müsse er sein Handeln besonders rechtfertigen, sofern die Beklagte es beanstande, weil sie der Klägerin gegenüber die Gewähr für die Ordnungsmäßigkeit der kassenärztlichen Versorgung trage. Daraus folge ihre Regreßpflicht. Wenn auch der therapeutische Nutzen des Präparats zweifelhaft sei, so scheitere der Regreßanspruch der Klägerin doch daran, daß dem Beigeladenen ein schuldhaftes Verhalten beim Verordnen der Arznei nicht nachgewiesen werden könne. Er habe sich in der Fachpresse und der Literatur darüber informiert, sie nicht auffallend häufig und auch nur gezielt verordnet und damit Erfolg erreicht; zudem sei das verordnete Präparat das preisgünstigste der für die Behandlung in Frage kommenden Mittel.
Gegen dieses Urteil richtet sich die zugelassene Revision der Klägerin. Das Berufungsgericht habe seine Verpflichtung zur Sachaufklärung dadurch verletzt, daß es die Angaben des Beigeladenen nicht nachgeprüft habe; außerdem hätte es einen mit dem Einsatz des Präparats erfahrenen Gutachter hören müssen. Die Klägerin rügt weiterhin eine Verletzung des § 17 Bundesmantelvertrag/Ärzte (BMV-Ä). Diese Vorschrift sei dahin zu verstehen, daß die Arzneimittel-Richtlinien Umfang und Ausmaß einer zweckmäßigen und wirtschaftlichen Verordnung festlegten. Nur bei ganz besonderen Ausnahmetatbeständen könne davon abgewichen werden, solche Umstände seien hier weder gegeben noch nachgewiesen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Bremen vom 26. Februar 1973 - L 6 Ka 4/71 - und das Urteil des SG Bremen vom 7. April 1971 - S Ka 7/69 - werden aufgehoben. Unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Prüfungsausschusses der Beklagten vom 6. Mai 1969 und des Beschwerdeausschusses der Beklagten vom 2. Juli 1969, soweit damit der Regreß für die Verordnung des Präparates "H" in Tablettenform in Höhe von 322,40 DM abgelehnt worden ist, wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin den Betrag von 322,40 DM (brutto) zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Aus § 368 p Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i.V.m. § 17 Abs. 1 BMV-Ä folge, daß die Arzneimittel-Richtlinien nur als Sollvorschrift aufzufassen seien und daher in begründeten Einzelfällen - wie sie vom Beigeladenen dargetan seien - davon abgewichen werden könne.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und auch nichts vorgetragen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Über den Rechtsstreit hatte der Senat in der durch § 12 Abs. 3 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorgeschriebenen Besetzung - also mit zwei Kassenärzten als ehrenamtlichen Richtern - zu entscheiden, denn die ihm zugrundeliegenden Verwaltungsentscheidungen waren von ausschließlich mit stimmberechtigten Kassenärzten besetzten Prüfeinrichtungen zu treffen, wie der Senat in dem gleichliegenden und ebenfalls am heutigen Tag entschiedenen Rechtsstreit 6 RKa 22/73 im einzelnen dargelegt hat.
In der Sache ist die Revision nicht begründet; der Beklagten steht keine Ersatzforderung zu.
Für die Entscheidung des Rechtsstreits ist davon auszugehen, daß die vom Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen beschlossenen Richtlinien über die Verordnung von Arzneimitteln in der kassenärztlichen Versorgung vom 12. Dezember 1960 (BAnz Nr. 251 vom 29. Dezember 1960) - "Arzneimittel-Richtlinien" -, die für den vorliegenden Streitfall noch maßgeblich sind, von den Kassenärzten bei ihrer Verordnungspraxis zu beachten sind. Diese Verbindlichkeit folgt nicht unmittelbar aus dem Gesetz. Für die vom Bundesausschuß im Rahmen seiner Zuständigkeit nach § 368 p Abs. 1 RVO beschlossenen Richtlinien hat der Gesetzgeber zur Ermöglichung einer Bindungswirkung den Weg vorgesehen (§ 368 p Abs. 3 RVO), daß die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Verbände der Krankenkassen in ihre Satzungen Bestimmungen aufzunehmen haben, nach denen die Richtlinien von ihren Mitgliedern beachtet werden sollen. Der Sinn dieser Regelung wird aus ihrer Vorgeschichte deutlich. Dem Vorgänger des heutigen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (§ 368 o Abs. 1 Satz 2 RVO), dem Reichsausschuß für Ärzte und Krankenkassen, war nach § 368 i RVO aF die Befugnis zuerkannt worden, "die erforderlichen Ausführungsbestimmungen" zu einigen wenigen, im Gesetz selbst enthaltenen Rahmenvorschriften zu erlassen. Diese Ausführungsbestimmungen - ebenso wie die an deren Stelle erlassenen Bestimmungen des Reichsarbeitsministers, der nach 1931 anstelle des funktionsunfähig gewordenen Reichsausschusses die Durchführungsverordnungskompetenz an sich zog (vgl. hierzu im einzelnen Hess/Venter, Gesetz über Kassenarztrecht, Art. 4 § 13 Abschn. I 1), - waren normativ verbindlich und bedurften zu ihrer Inkraftsetzung keiner weiteren Legitimierung. Mit der Einfügung der §§ 414, 414a in die RVO durch die Zwölfte VO zur Neuordnung der Krankenversicherung vom 6. September 1937 (RGBl I 964) verlagerte sich jedoch das Schwergewicht der Neugestaltung des kassenärztlichen Durchführungsrechts wiederum vom Reichsarbeitsminister auf die gemeinsame Selbstverwaltung der Kassenärzte und Krankenkassen, die nunmehr allerdings nicht mehr durch den Reichsausschuß für Ärzte und Krankenkassen repräsentiert wurde, sondern in "Reichsverträgen" nach § 414a Nr. 2 RVO aF zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands und den Reichsverbänden der Krankenkassen ihren Ausdruck fand.
Bei der Neugestaltung des Kassenarztrechts durch das Gesetz über Kassenarztrecht vom 17. August 1955 (BGBl I 513) hat der Gesetzgeber auf beide Gestaltungsformen der gemeinsamen Selbstverwaltung von Kassenärzten und Krankenkassen zurückgegriffen. So sollte ursprünglich nach dem Gesetzentwurf der Koalitionsparteien, der die Grundlage des Gesetzgebungsverfahrens bildete (BT-Drucks. II Nr. 528; § 368 o des Entwurfs), der neu zu errichtende Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen (jetzt § 368 o Abs. 1 Satz 2 RVO) die dem früheren Reichsausschuß für Ärzte und Krankenkassen zugebilligte starke Stellung wieder erhalten und als rechtsetzende Einrichtung der gemeinsamen Selbstverwaltung von Kassenärzten und Krankenkassen "Bestimmungen" über die ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kassenärztliche Versorgung der Versicherten erlassen dürfen (vgl. hierzu im einzelnen Hess/Venter aaO § 368 p Abschn. III). Diese Zielsetzung wurde jedoch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens aufgegeben: Die Zuständigkeit des Bundesausschusses wurde auf den Erlaß von "Richtlinien" (§ 368 p Abs. 1 RVO) beschränkt, die nach § 368 p Abs. 3 RVO nicht mehr - wie ursprünglich vorgesehen - auf Grund von Satzungsbestimmungen verbindlich sein, sondern nur noch beachtet werden sollten. Damit war jedenfalls deutlich geworden, daß die Richtlinien des Bundesausschusses nach § 368 p Abs. 1 RVO nicht schon ihrer Rechtsnatur nach autonomes Recht der gemeinsamen Selbstverwaltung von Kassenärzten und Krankenkassen sind, sondern zu ihrer Verbindlichkeit eines rechtsetzenden Akts bedürfen.
Diese Verbindlichkeit - wenn auch nur in der schon aufgezeigten abgeschwächten Form - kann einmal auf dem Weg des § 368 p Abs. 3 RVO erreicht werden. Sie ergänzend und möglicherweise überhöhend hat der Gesetzgeber aber in Anknüpfung an die Entwicklung nach 1937 mit ihrer Verlagerung der Durchführungskompetenz auf das autonome Vertragswerk der gemeinsamen Selbstverwaltung von Kassenärzten und Krankenkassen in § 368 g RVO einen zweiten Weg gewiesen. Hiernach ist die kassenärztliche Versorgung "im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Richtlinien der Bundesausschüsse" durch schriftliche Verträge der genannten Vertragspartner zu regeln. Da aber die Richtlinien des Bundesausschusses nach § 368 p Abs. 1 RVO nicht schon als solche, wie dargelegt, Rechtsnormen sind - für die Richtlinien nach § 368 p Abs. 4 RVO gilt das nach der Natur der Sache erst recht -, stellen sie für die vertragsschließenden Parteien nur Empfehlungen dar, die zu ihrer Disposition stehen. Wie Hess/Venter (aaO § 368 p Abschn. III 1) zutreffend bemerken, hat sich damit das Schwergewicht der Regelung der kassenärztlichen Versorgung von der Beschlußfassung der Bundesausschüsse auf die vertragliche Regelung verlagert.
Demnach war es den Parteien des BMV-Ä unbenommen, den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen eine - jedenfalls dem Wortlaut nach über § 368 p Abs. 3 RVO hinausgreifende - Verbindlichkeit in dem Sinne bei zulegen, daß sie "zu beachten sind" (§ 17 Abs. 1 aaO). Diese Regelung gehört damit zum "allgemeinen Inhalt der Gesamtverträge" (§ 368 g Abs. 2 Satz 2 RVO). Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen sind somit von allen von den jeweiligen Gesamtverträgen erfaßten Beteiligten - Kassenärzte, Krankenkassen - mit dem für jede gesetzesnachrangige Norm geltenden Vorbehalt zu beachten, daß sie nicht gegen zwingendes Gesetzesrecht verstoßen (vgl. BSG 35, 10, 13 f).
Die "Beachtlichkeit" der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen - und damit auch der hier in Rede stehenden "Arzneimittel-Richtlinien" - ist jedoch nicht unterschiedslos in gleicher Stärke gegeben (vgl. hierzu Töns, Die Ortskrankenkasse 1971, 424, 432). Die Arzneimittel-Richtlinien lassen deutlich erkennen, ob und wann sie ihren Anwendungsbereich scharf abgrenzen oder in welchem Fall sie dem verordnenden Kassenarzt einen mehr oder minder großen Ermessensspielraum lassen. Die erste Alternative kommt nur selten in Betracht (so unter Nr. 16 der Katalog der Dinge, die "nicht verordnet werden dürfen"); im allgemeinen begnügen sich die Arzneimittel-Richtlinien mit Sollvorschriften. Diese sind dazu bestimmt, dem verordnenden Kassenarzt als Richtschnur für die Handhabung seines "pflichtmäßigen Ermessens innerhalb des durch das Gesetz bestimmten Rahmens" (so der in Nr. 1 Satz 1 der Arzneimittel-Richtlinien vorangestellte Grundsatz) zu dienen. Eine solche wegweisende Richtlinie, die es dem Kassenarzt erlaubt, im Einzelfall nach seinem pflichtmäßigen Ermessen - dazu gehört in jedem Fall eine begründete Motivation - vom Regelfall der Verordnung abzuweichen, ist die hier maßgebliche Regelung in Nr. 7 der Arzneimittel-Richtlinien, wonach der Arzt Arzneimittel nur verordnen soll, wenn ihre Wirksamkeit ausreichend gesichert ist.
Nach diesen Rechtsgrundsätzen ist die hier streitige Verordnungsweise des Beigeladenen zu beurteilen. Das LSG hat festgestellt, daß er das beanstandete Präparat nicht auffallend häufig und nur gezielt verordnet hat und auch erst dann, wenn er bei der Behandlung akut gestauter, teilweise akut entzündeter Hämorrhoiden mit den gebräuchlichen Präparaten keinerlei Behandlungserfolg erzielt hatte. Er hat sich außerdem zuvor in der internationalen Literatur über Testergebnisse des Mittels informiert. Damit hat der Beigeladene bei seiner Behandlungsweise alle ihm zumutbare Sorgfalt aufgewandt und den ihm eingeräumten Ermessensspielraum nicht überschritten; da das verordnete Präparat auch im Preis nicht ungünstiger lag als andere anwendbare Mittel, hat das LSG zutreffend erkannt, daß der Beigeladene durch seine Behandlungs- und Verordnungsweise nicht unwirtschaftlich im Sinne des § 368 e Satz 2 RVO gehandelt hat. Die Forderung der Klägerin, ihr Regreß zu leisten, ist mithin unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen