Entscheidungsstichwort (Thema)

Kausalbegriff der wesentlichen Bedingung in der gesetzlichen RV. Anerkennung von Ersatzzeiten. Kausalbegriff der wesentlichen Bedingung findet Anwendung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine an die Kriegsgefangenschaft anschließende Zeit einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit ist Ersatzzeit nach AVG § 28 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1) auch insoweit, als sie mit einer Zeit des sogenannten automatischen Arrests zusammenfällt.

 

Leitsatz (redaktionell)

Im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung gilt dort, wo es um den ursächlichen Zusammenhang eines Erfolges mit einem bestimmten Ereignis geht, wie in der Unfallversicherung und in der Kriegsopferversorgung der Kausalbegriff der wesentlichen Bedingung.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 09.08.1978; Aktenzeichen L 3 An 180/78)

SG Reutlingen (Entscheidung vom 28.11.1977; Aktenzeichen S 2 An 1368/78)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. August 1978 und das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28. November 1977 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 14. April 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 1976 verurteilt, dem Kläger die Zeit vom 7. Juni 1946 bis 31. Oktober 1947 als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes vorzumerken.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der Rechtsverfolgung zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Streit geht um die Vormerkung von Ersatzzeiten.

Der 1923 geborene Kläger leistete ab 15. August 1941 in einer Einheit der Waffen-SS Wehrdienst. Er geriet bei Kriegsende schwer verwundet in Gefangenschaft, aus der er am 6. Juni 1946 zwar entlassen, aber sogleich in ein Internierungslager übergeführt wurde. Am 3. April 1947 wurde er, noch immer - bis zum 31. Oktober 1947 - arbeitsunfähig krank, aus der Internierung entlassen.

Mit Bescheid vom 14. April 1976, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 5. August 1976, lehnte es die Beklagte ab, die Internierung und die anschließende Krankheit bis 31. Oktober 1947 als Ersatzzeit vorzumerken: Zeiten eines automatischen Arrestes seien keine Ersatzzeiten.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. November 1977), und das Landessozialgericht (LSG) hat mit der angefochtenen Entscheidung vom 9. August 1978 die Berufung des Klägers hiergegen zurückgewiesen. Das Gericht ist der Auffassung, die an die Gefangenschaft anschließende Internierung aus politischen Gründen sei im Anschluß an die gesicherte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht als Ersatzzeit im Sinne des § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) anzusehen. Die an die Internierung anschließende Krankheitszeit stehe mit der Kriegsgefangenschaft nicht mehr in zeitlichem Zusammenhang.

Das LSG hat in diesem Urteil die Revision zugelassen.

Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er bringt vor, § 28 Abs 1 Nr 1 AVG müsse bei nicht zu enger Auslegung dazu führen, daß die Internierung als Ersatzzeit anerkannt werde. Der automatische Arrest werde bei Beamten versorgungsrechtlich angerechnet. Was die an die Internierung anschließende Zeit der Krankheit betreffe, so müsse der nicht verschuldete automatische Arrest im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst gesehen werden. Der kriegsdienstbedingte Ausfall könne durch eine unmittelbar mit dem Krieg zusammenhängende Maßnahme der Siegermächte nicht durchbrochen werden. Es komme allein darauf an, daß die bei Kriegsende bestehende Krankheit noch nach der Internierung fortbestanden habe.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. August 1978 und das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 28. November 1977 aufzuheben sowie die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 14. April 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 1976 zu verurteilen, die Zeit vom 7. Juni 1946 bis 31. Oktober 1947 als Ersatzzeit vorzumerken.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verweist hinsichtlich des automatischen Arrests auf die BSG-Rechtsprechung und ist im übrigen der Auffassung, daß der zeitliche Zusammenhang zwischen Kriegsgefangenschaft und Krankheitszeit vom 4. April bis zum 31. Oktober 1947 durch den automatischen Arrest und damit durch eine Zeit unterbrochen worden sei, die nicht als Ersatzzeit angerechnet werden könne.

Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist zulässig und auch begründet.

Nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG werden in der Angestelltenversicherung als Ersatzzeiten angerechnet ua Zeiten der Kriegsgefangenschaft und einer anschließenden, mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen (BSG in SozR Nr 16 zu § 1251 RVO) Krankheit. Nach den von der Beklagten nicht angegriffenen und daher für den Senat bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) war der Kläger auch während der an die Kriegsgefangenschaft anschließenden Internierung ab 7. April 1946 bis zum 31. Oktober 1947 noch arbeitsunfähig krank. Diese Zeitspanne ist als an die Kriegsgefangenschaft anschließende Zeit einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit Ersatzzeit und dem Kläger daher antragsgemäß vorzumerken.

Hieran ändert auch der Umstand nichts, daß der Kläger während eines Teils der an die Kriegsgefangenschaft anschließenden Krankheit im automatischen Arrest war. Zutreffend hat die Beklagte hierzu vorgetragen, daß die Zeit dieses wegen der Zugehörigkeit zur früheren SS aus politischen Gründen automatisch verhängten Arrests gemäß der gesicherten Rechtsprechung des BSG keine Zeit der Kriegsgefangenschaft ist (so der erkennende Senat zuletzt im Urteil vom 2. Dezember 1975, DAngVers 1976, 258 mit zahlreichen Rechtsprechungshinweisen). Der automatische Arrest ist mithin ersatzzeitenrechtlich irrelevant und daher nicht geeignet, die Vormerkung einer an die Kriegsgefangenschaft anschließenden Krankheit zu verhindern.

Im übrigen ergeben dies auch folgende weitere Überlegungen: Zwar wäre der Kläger während der streitigen Zeitspanne auch wegen des automatischen Arrestes außerstande gewesen, versicherungspflichtig zu arbeiten und Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten. Da aber der Kläger in dieser Zeit seit der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft auch arbeitsunfähig krank war, hätte auch die Krankheitszeit die Beitragsleistung unverschuldet aus Gründen verhindert, die nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG durch Anerkennung als Ersatzzeit entschädigt werden. Das genügt, um den Anspruch des Klägers zu stützen. Im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung gilt dort, wo es um den ursächlichen Zusammenhang eines Erfolgs mit einem bestimmten Ereignis geht, wie in der Unfallversicherung und in der Kriegsopferversorgung der Kausalbegriff der wesentlichen Bedingung (vgl BSG in SozR Nrn 5 und 15 zu § 1263 a RVO aF; BSGE 10, 173, 174; 16, 26, 29 = SozR Nr 2 zu § 1263 a RVO aF; BSGE 38, 14, 16 = SozR 2600 § 45 Nr 6; der erkennende Senat in SozR 2200 § 1251 Nr 52). Da die an die Kriegsgefangenschaft anschließende Krankheit des Klägers nicht weniger als der automatische Arrest dazu geführt hätte, daß in dem hier streitigen Zeitraum die Leistung von Pflichtbeiträgen unterblieben ist, handelt es sich bei ihr um eine wesentliche Bedingung des Beitragsausfalls mit der Folge, daß sie als Ersatzzeit anzuerkennen ist.

Auf die hiernach begründete Revision des Klägers waren die Urteile der Vorinstanzen sowie der Ablehnungsbescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufzuheben und diese zu verurteilen, die an die Kriegsgefangenschaft anschließende, mit Arbeitsunfähigkeit verbundene Krankheit als Ersatzzeit vorzumerken.

Die unterlegene Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten der Rechtsverfolgung zu erstatten (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656064

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