Leitsatz (amtlich)
Gesundheitsstörungen psychischer Art sind versorgungsrechtlich zu entschädigen, wenn sie durch Vorgänge verursacht werden, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind (Fortführung BSG 1955-11-15 10 RV 85/54 = BSGE 2, 29 ; Fortführung BSG 1956-03-20 8 RV 199/54 = BSGE 2, 265).
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Festnahme einer Zivilperson durch Soldaten der feindlichen Streitkräfte (Besatzungsmacht) ist eine unmittelbare Kriegseinwirkung nach BVG § 5 Abs 1 Buchst d. Die Festnahme kann nach den Umständen in dem Betroffenen Angst und Schrecken erwecken, die zu einem seelischen Schock mit Gesundheitsschäden führen können. Wenn der Festgenommene sich derartige Einwirkungen jedoch lediglich aus einer allgemeinen Furcht heraus vorstellt und dadurch einen Schock mit Gesundheitsstörungen erleidet, dann ist nicht der Vorgang schädigend, sondern die Einbildung des Betroffenen.
2. Der Grundsatz der objektiven Beweislast bedeutet, daß jeder Beteiligte die Gefahr einer ihm ungünstigen Entscheidung trägt, wenn die tatbestandsmäßige Voraussetzung, als Bedingung für den Eintritt der Rechtsfolge, nicht festgestellt werden kann. Danach ist eine Klage auf Versorgung abzuweisen, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht festgestellt sind.
Normenkette
BVG § 1 Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 24. November 1955 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1884 geborene Ehemann der Klägerin wurde bei der Besetzung von B durch sowjetische Truppen in den Tagen nach dem 25. April 1945 zweimal von russischen Soldaten, die mit Maschinenpistolen bewaffnet waren, aus dem Luftschutzkeller geholt. Wenn er nach kurzer Zeit wieder zurückkam, machte er jedesmal einen verstörten Eindruck; seine Kleidung war nicht in Ordnung. Auf Fragen, ob die Russen ihm etwas angetan hätten, gab er keine Antwort. Kurz danach wurde er in das städtische Krankenhaus S eingeliefert und verstarb dort am 30.April 1945. Als Todesursache ist im amtlichen Totenschein Schlaganfall angegeben.
Die Klägerin beantragte am 3. April 1951 Witwenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das Versorgungsamt lehnte Versorgung ab, weil es nicht wahrscheinlich sei, daß der Tod des Ehemanns die Folge einer unmittelbaren Kriegseinwirkung sei. Das Landesversorgungsamt wies den Einspruch zurück. Das Sozialgericht (SG.) Berlin wies mit Urteil vom 18. Oktober 1954 die Klage ab. Nach Einvernahme von zwei Zeugen wies das Landessozialgericht (LSG.) Berlin mit Urteil vom 24. November 1955 die Berufung der Klägerin zurück. Es führte aus: Ereignisse, die alle Schichten der Bevölkerung betroffen hätten, könnten nicht als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 BVG angesehen werden. Dazu gehörten auch Erkrankungen infolge Schrecks, Aufregungen, Überanstrengungen durch kriegerische Ereignisse, tagelanger Aufenthalt im Luftschutzkeller und das zweimalige Herausholen durch russische Soldaten. Der Tod des 61-jährigen Ehemannes beruhe offenbar auf einer Auswirkung der mit diesen Verhältnissen verbundenen Aufregung und sei daher keine Folge einer unmittelbaren Kriegseinwirkung. Auch der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG liege nicht vor. Es könne nicht festgestellt werden, daß die russischen Soldaten den Ehemann mißhandelt hätten. Eine durch diese Vorgänge hervorgerufene seelische Einwirkung auf den Ehemann könne nicht als ausreichend angesehen werden. Der Tod sei danach nicht mit Wahrscheinlichkeit auf eine unmittelbare Kriegseinwirkung zurückzuführen. Das LSG. hat die Revision zugelassen, weil es sich bei der Auslegung des Begriffs der unmittelbaren Kriegseinwirkung um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handle.
Die Klägerin hat durch ihren Prozeßbevollmächtigten Kurt G Sozialreferent des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißten-Angehörigen Deutschlands e.V. (VdH), Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG. Berlin vom 24. November 1955 und des SG. Berlin vom 18. Oktober 1954 nach dem Klageantrag zu erkennen.
Die Revision führt aus, das LSG. habe den Begriff der unmittelbaren Kriegseinwirkung zu eng ausgelegt. Der Ehemann sei bei dem zweimaligen Aufenthalt außerhalb des Kellers unmittelbar mit militärischen Maßnahmen in Berührung gekommen. Das LSG. habe verkannt, daß das Vorgehen der russischen Soldaten einen Gewaltakt darstelle, der die psychische und physische Gesundheit des Verstorbenen in solcher Weise beeinträchtigt habe, daß der einige Tage danach eingetretene Tod mit Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen sei. Unmittelbare Kriegseinwirkung i.S. des BVG. könne auch ein die Einzelperson nur psychisch berührender Gewaltakt sein, wie angedrohte Erschießung, wenn er eine Gesundheitsschädigung zur Folge habe. Die Auffassung des LSG., daß nur körperliche Mißhandlungen ausreichten, werde der Rechtslage nicht gerecht.
Der Beklagte hat Zurückweisung der Revision beantragt.
Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin ist nach Mitteilung des Landgerichtspräsidenten Hannover durch Erlaß des Niedersächsischen Ministers der Justiz vom 30. Oktober 1954 bei dem Amtsgericht und dem Landgericht Hannover als Rechtsanwalt zugelassen worden. Er war daher z. Zt. der Revisionseinlegung als Prozeßbevollmächtigter vor dem Bundessozialgericht zugelassen, § 166 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob der VdH. als eine Vereinigung der Kriegsopfer i.S. des § 166 Abs. 2 Satz 1 SGG anzusehen ist.
Die Revision ist nach § 164 Abs. 1 und 2 SGG in der rechten Frist und Form eingelegt und begründet worden. Sie ist infolge Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und damit zulässig.
Die Revision ist jedoch sachlich nicht begründet. Das LSG. hat bei der rechtlichen Beurteilung des festgestellten Sachverhalts nicht gegen das Gesetz verstoßen. Es hat geprüft, ob der Tod des Ehemannes der Klägerin Folge einer Schädigung ist, die durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung herbeigeführt worden ist (§ 1 Abs.2 Buchst. a, Abs. 5, § 5 BVG) und hat im Ergebnis richtig einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Tod und einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 Abs. 1, insbesondere Buchst. d BVG verneint.
Das BSG. hat bereits mehrfach entschieden, daß unmittelbare Kriegseinwirkungen im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. a BVG (Kampfhandlungen, Einwirkung von Kampfmitteln) und Buchst. b (behördliche Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen) auch solche psychischer Art sein können (BSG. 2 S. 29 und 265, BSG. vom 13. Mai 1959 in SozR. BVG § 5 Ca 7 Nr. 19). Eine psychische Einwirkung ist dabei noch als unmittelbar anzusehen, wenn sie spontan einen Schrecken oder Schock erzeugt, der dann die Gesundheitsstörung zur Folge hatte. Ob weite Bevölkerungskreise derartigen Gefährdungen für längere Zeit ausgesetzt waren, ist dabei unerheblich (so schon Reichsversorgungsgericht - RVG. 9, 161).
Gleiches muß auch für schädigende Vorgänge im Sinne des § 5 Abs.1 Buchst. d BVG gelten. Nach dieser Vorschrift sind schädigende Vorgänge als unmittelbare Kriegseinwirkung anzusehen, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen und infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind.
Die feindliche Besetzung eines Landstrichs oder einer Stadt bedeutet für die dort lebende Zivilbevölkerung eine besondere Gefahrenquelle. Diesem Gefahrenkreis sind beispielsweise Vorgänge, wie körperliche Durchsuchung, Verhaftung, Ausquartierung, Zwangsarbeit, Verschleppung zuzurechnen. Sie sind der Besetzung eigentümlich (BSG. 2, S. 99). Solche Maßnahmen sind geeignet, durch ihre physische oder psychische Einwirkung Gesundheitsstörungen hervorzurufen.
Die Festnahme einer Zivilperson durch Soldaten der feindlichen Streitkräfte (Besatzungsmacht) ist demnach eine unmittelbare Kriegseinwirkung nach § 5 Abs. 1 Buchst d BVG. Dabei ist nicht erforderlich, daß mit der Festnahme eine körperliche Mißhandlung verbunden ist. Es genügt, wenn die Festnahme von Umständen begleitet wird, die in dem Festgenommenen die Erwartung unmittelbar bevorstehender schwerer Eingriffe, möglicherweise des Todes hervorrufen. Die Festnahme erweckt dann in dem Betroffenen Angst und Schrecken, die zu einem seelischen Schock mit Gesundheitsschäden führen können. Allerdings reicht es zur Bejahung des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG nicht aus, wenn der Festgenommene sich derartige Einwirkungen lediglich aus einer allgemeinen Furcht heraus vorstellt und dadurch einen Schock mit Gesundheitsstörungen erleidet; denn dann ist nicht der Vorgang (§ 5 Abs. 1 Buchst. d BVG) schädigend, sondern die Einbildung des Betroffenen.
Die Ausführungen des LSG., "eine durch diese Vorgänge hervorgerufene seelische Einwirkung auf den Ehemann der Klägerin könne nicht als ausreichend angesehen werden," erscheinen mehrdeutig. Es wäre möglich, daß das LSG. damit seelische Einwirkungen grundsätzlich nicht als schädigende Vorgänge anerkennen wollte; es kann aber auch sein, daß es in der zu entscheidenden Sache das Vorliegen seelischer Einwirkungen lediglich nicht als genügend wahrscheinlich gemacht ansah. Die erstere Auffassung würde eine zu enge Auslegung des § 5 BVG darstellen. Aus den festgestellten Tatsachen und aus dem Zusammenhang mit den übrigen Urteilsgründen entnimmt der Senat jedoch, daß diese Ausführungen die Beweiswürdigung des LSG. darstellen. Das LSG. hat keine konkreten Umstände festgestellt, die beim Herausholen des Klägers aus dem Luftschutzkeller durch bewaffnete russische Soldaten und bei seinem kurzen Aufenthalt in deren Gewahrsam über eine allgemeine Furcht und Aufregung hinaus auf ihn psychisch eingewirkt und den späteren Schlaganfall herbeigeführt hätten. Der Vorderrichter hat sich somit vom Vorliegen des Tatbestandes des § 5 Abs. 1 Buchst d BVG, was die psychische Einwirkung angeht, nicht überzeugen können. Wie das BSG. schon entschieden hat, sind die Folgen der objektiven Beweislosigkeit oder des Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von dem Beteiligten zu tragen, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will (BSG. 6, S. 70 (72)). Der Grundsatz der objektiven Beweislast bedeutet, daß jeder Beteiligte die Gefahr einer ihm ungünstigen Entscheidung trägt, wenn die tatbestandsmäßige Voraussetzung, als Bedingung für den Eintritt der Rechtsfolge, nicht festgestellt werden kann. Danach ist eine Klage auf Versorgung abzuweisen, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht festgestellt sind. Im vorliegenden Falle trägt die Klägerin die objektive Beweislast für die beweisbedürftige Tatsache, daß der Tod ihres Ehemannes durch schädigende Handlungen der russischen Besatzungsmacht verursacht worden ist. Das LSG. hat im Rahmen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) aus den Erfahrungen im sowjetisch besetzten Gebiet nicht den Schluß ziehen müssen, daß der Tod des Ehemannes wahrscheinlich auf eine Gewaltanwendung der russischen Truppen zurückzuführen sei. Denn im Alter von 61 Jahren ist ein Tod durch Herzschlag kein so außergewöhnliches Ereignis, das es allein schon das LSG. genötigt hätte, auf einen Gewaltakt zu schließen. Das LSG. hat der körperlichen Durchsuchung, die nur wenige Minuten gedauert hat, die Bedeutung einer Gelegenheitsursache zugemessen, ohne gegen die im Versorgungsrecht geltende Kausalitätsnorm (§ 1 BVG) zu verstoßen; denn es konnte ohne Rechtsverletzung die wesentliche Ursache für den Tod in der für Aufregungen empfänglichen Konstitution und dem Lebensalter des Ehemannes der Klägerin sehen. Das LSG. hat deshalb durch die Ablehnung des Hinterbliebenenrentenanspruchs der Klägerin das Gesetz nicht verletzt. Die Revision ist daher nicht begründet. Sie war nach § 170 Abs. 1 SGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen