Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisung eines Facharbeiters
Orientierungssatz
Zur Verweisung eines Facharbeiters:
1. Gibt ein Versicherter (hier: Schneider) seinen erlernten Beruf aufgrund seiner Kriegsverwundung auf, steht ihm der Berufsschutz als gelernter Facharbeiter zu, wenn er mit dem für diese Berufstätigkeit entrichteten Beiträgen die Wartezeit erfüllt hat; als solcher ist er nur auf Tätigkeiten in einem sonstigen Ausbildungs- oder Anlernberuf verweisbar oder auf die ungelernten Tätigkeiten, die sich aus dem Kreis der übrigen ungelernten Arbeiten deutlich herausheben. Derartige Verweisungstätigkeiten müssen konkret angegeben werden.
2. Der Berufsschutz als Facharbeiter ist auch dann gegeben, wenn die Wartezeiterfüllung nur auf einer gesetzlichen Fiktion (§ 1252 Abs 1 Nr 2 RVO) beruht.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23, § 1252 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 13.03.1978; Aktenzeichen L 2 J 142/77) |
SG Speyer (Entscheidung vom 06.07.1977; Aktenzeichen S 11 J 287/76) |
Tatbestand
Der im Jahr 1919 geborene Kläger war von 1934 bis 1938 als Schneiderlehrling und Schneidergeselle beschäftigt. Im Krieg erlitt er als Soldat eine Wehrdienstbeschädigung an der rechten Hand, die zum Verlust des Zeigefingers sowie zu einer Versteifung des Daumens und des Mittelfingers an der rechten Hand führte. Seit 1947 war er bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigt, zunächst als Rangierarbeiter, seit 1961 als Beamter. Im August 1975 wurde er als Bundesbahnobersekretär (Rg) wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Er kann nur noch leichte Arbeiten ohne Akkord- und Schichtarbeiten in geschlossenen, trockenen und geheizten Räumen ohne Staub- oder Dampfeinwirkung ganztags verrichten, allerdings nicht solche Tätigkeiten, die ein Geschick oder eine dauernde Kraftentfaltung der rechten Hand erfordern.
Den im September 1975 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. Oktober 1975 ab.
Das Sozialgericht (SG) Speyer hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. Juli 1977). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen (Urteil vom 13. März 1978). Es hat ausgeführt: Ob wegen der Wehrdienstbeschädigung und der Wartezeitfiktion als bisheriger Beruf des Klägers derjenige des Schneiders anzusehen sei, könne dahinstehen. Denn der Kläger könne noch Revisions- und Überwachungsarbeiten, Anlagenkontrolle, Meßwart- und Schalttafeltätigkeiten, mechanisierte Produktionstätigkeiten mittels Bedienen von Apparaten sowie Tätigkeiten eines Verwiegers, Tafelführers, Schalttafel- und Apparatewärters und Maschinisten zumutbar verrichten.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und der §§ 103, 106, 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Er trägt vor: Die abstrakten Feststellungen des LSG seien ungenügend.
Insbesondere hätten die Gegebenheiten des Arbeitsplatzes und die Arbeitsbelastung erforscht werden müssen. Das LSG habe nur unterschiedslos und pauschal auf Tätigkeiten verwiesen, deren subjektive Zumutbarkeit es nicht geprüft habe.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid
der Beklagten vom 8. Oktober 1975 aufzuheben und
die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom
1. Oktober 1975 an Rente wegen "Berufs- bzw
Erwerbsunfähigkeit" zu gewähren.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie führt aus, die bisherige Tätigkeit des Klägers sei diejenige des - ungelernten - Rangierarbeiters; diese begründe jedoch keinen Berufsschutz.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Für eine abschließende Entscheidung fehlt es an den erforderlichen Feststellungen. Die Sache war deshalb an das LSG zurückzuweisen.
Der Kläger ist, wie das LSG unangefochten festgestellt hat, aus gesundheitlichen Gründen in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Für die Frage, ob er deswegen berufsunfähig ist, kommt es zunächst darauf an, welches sein bisheriger Beruf (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO) ist. Als diesen bezeichnet der Kläger den des Schneiders, die Beklagte die Tätigkeit des Rangierarbeiters, den sie dem ungelernten Arbeiter gleichsetzt; das LSG läßt diese Frage offen.
Der Kläger hat etwa vier Jahre als Schneider (Lehrling, später Geselle) gearbeitet. Dann war er zunächst, wie das SG festgestellt hat, Berufssoldat, danach Rangierarbeiter und schließlich Bundesbahnbeamter erst des einfachen, sodann des mittleren Dienstes. Da als bisheriger Beruf nur eine mit Versicherungspflicht verbundene Beschäftigung anzusehen ist (BSG Urteil vom 14. März 1979 - 1 RJ 84/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 41, S 124; vgl dazu auch das Urteil vom 29. November 1979 - 4 RJ 111/78 -), kommt hier nur die Tätigkeit als Schneidergeselle in Frage. Diese gehört zu den Facharbeiterberufen.
Der Kläger hat sich seine Beiträge, die er als Arbeiter bei der Bundesbahn entrichtet hatte, im Zusammenhang mit seiner Ernennung zum Beamten erstatten lassen. Da somit diese Tätigkeiten nicht zu Pflichtbeiträgen führen, müssen sie für das versicherungsrechtliche Berufsbild außer Ansatz bleiben.
Das LSG hat den für einen Facharbeiter zumutbaren Kreis von Tätigkeiten zum Erwerb so weit gezogen, daß praktisch nur wenige Hilfsarbeiten ganz einfacher Art außer Betracht bleiben; mit dieser Auffassung befindet es sich im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Diese beruht auf der Überlegung, daß sich in den der Arbeiterrentenversicherung unterfallenden Berufstätigkeiten mehrere hierarchisch geordnete Gruppen auffinden lassen, die durch Leitberufe, nämlich die des Vorarbeiters mit Leitungsfunktion oder mit gleichzubewertenden Tätigkeiten, des Facharbeiters, des Arbeiters in einem sonstigen Ausbildungsberuf (angelernter Arbeiter) und schließlich des Ungelernten charakterisiert werden. Diese Eingruppierung findet auch ihren Ausdruck in der tariflichen Bewertung der einzelnen Tätigkeiten. Wer mit seinem bisherigen Beruf einer dieser Gruppen angehört, kann jeweils nur auf eine Tätigkeit der nächstunteren Stufe verwiesen werden (Urteil vom 12. Dezember 1979 - 1 RJ 132/78 - SozR 2200 § 1246 Nr 55 S 170 mwN). Allerdings kann ein solcher Versicherter unter bestimmten Voraussetzungen auch auf die danach folgende Gruppe verwiesen werden, wie der erkennende Senat im Urteil vom 29. November 1979 - 4 RJ 111/78 - SozR 2200 § 1246 Nr 53 S 161, und der 5. Senat im Urteil vom 28. November 1978 - 5 RKn 10/77 - SozR 2200 § 1246 Nr 36 S 110/111 entschieden und näher begründet haben. Die Verweisung eines Facharbeiters ist auch auf solche ungelernten Tätigkeiten zu billigen, die sich durch besondere Qualifikationsmerkmale deutlich aus dem Kreis der übrigen ungelernten Tätigkeiten hervorheben; dies wird regelmäßig dadurch ausgewiesen, daß sie wie angelernte Tätigkeiten tariflich eingestuft sind. Zu dieser - ständigen - Rechtsprechung steht das angefochtene Urteil im Widerspruch.
Das LSG wird zunächst aufzuklären haben, ob der Kläger - wofür einiges spricht - seinen Beruf als gelernter Schneider infolge seiner Kriegsverwundung aufgegeben hat. Sollte das der Fall sein, so wird es von diesem Beruf auszugehen und eine Verweisungstätigkeit zu ermitteln haben. Dabei müßte dem Kläger der Berufsschutz als Facharbeiter zugute kommen, da er mit den für diese Berufstätigkeit entrichteten Beiträgen die Wartezeit erfüllt hat. Diese Rechtsfolge tritt auch dann ein, wenn die Wartezeiterfüllung nur auf einer gesetzlichen Fiktion (§ 1252 Abs 1 Nr 2 RVO) beruht, denn auch in diesem Fall berechtigt die Beitragsentrichtung aus dieser Berufstätigkeit den Versicherten zu einer Rentenleistung. Sofern dem Kläger nach den Ermittlungen des LSG der Berufsschutz eines Facharbeiters zuzubilligen ist, wird das LSG für die Grenzen der Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit die bereits dargelegten vom BSG entwickelten Grundsätze zu beachten und entsprechende Tätigkeiten konkret zu bezeichnen haben.
Die Sache war zurückzuverweisen. Über die Kosten wird im Schlußurteil zu entscheiden sein.
Fundstellen