Leitsatz (amtlich)
Beschränkt sich die Verwaltung darauf, eine Leistung aus Rechtsgründen abzulehnen, darf das Gericht die Leistungsklage nicht allein deshalb abweisen, weil jedenfalls zwingende Ermessensgründe gegen die Leistung (hier: Teilversorgung) sprächen (Abgrenzung zu BSG 25.6.1986 9a RVg 2/84 = SozR 1300 § 45 Nr 24).
Normenkette
BVG § 64e Abs 1, § 64 Abs 2 S 2; SGG § 54 Abs 2 S 2, § 123
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 28.06.1983; Aktenzeichen L 6 V 143/82) |
SG Münster (Entscheidung vom 25.04.1982; Aktenzeichen S 1 (14) V 14/81) |
Tatbestand
Die in der Volksrepublik Polen lebende Klägerin begehrt Hinterbliebenenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Ihr am 17. November 1977 verstorbener Ehemann erhielt von dem Beklagten seit dem 1. Oktober 1961 nach dem BVG unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs eine monatliche Rente von zunächst 35,00 DM und zuletzt bis zu seinem Tode in Höhe von 60,00 DM (Teilversorgung). Intern hatte der Beklagte den "Verlust der rechten Hand" als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH zugrunde gelegt.
Den Antrag der Klägerin auf Witwenversorgung lehnte der Beklagte ab, weil ihr nach dem BVG kein Hinterbliebenenversorgungsanspruch zustehe. Der Tod ihres Ehemannes sei nicht auf Schädigungsfolgen im Sinne des § 1 BVG zurückzuführen und die Voraussetzungen des § 48 BVG für eine Witwenbeihilfe seien ebenfalls nicht erfüllt (Bescheid vom 21. August 1980, Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 1981).
Während das Sozialgericht (SG) die Klage aus den Gründen der angefochtenen Bescheide zurückgewiesen hat (Urteil vom 23. April 1982) hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Klägerin zwar zurückgewiesen, es aber offengelassen, ob die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 38 und 48 BVG erfüllt seien. Das LSG hat die Ansicht vertreten, die begehrte Leistung könne der Klägerin bereits deshalb nicht gewährt werden, weil der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) keine Zustimmung zu einer Teilversorgung der Klägerin erteilt habe. Bei der Klägerin komme nur Teilversorgung in Betracht und diese könne wegen einer zu erwartenden doppelten Kürzung ihrer polnischen "Zr-Rente" bei Bezug einer deutschen Rente nach dem BVG nicht erfolgen. Nach Nr 91 der vom BMA getroffenen Regelungen für die Versorgung von Kriegsopfern in Ost- und Südosteuropa (Richtlinien Ost 1980) iVm Nr 22 der Richtlinien zur Änderung der Richtlinien Ost vom 10. April 1980 (Änderungs-Richtlinien 1980) liege für solche Fälle generell keine Zustimmung des BMA vor (Urteil vom 28. Juni 1983).
Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 38, 48 und 64 e BVG. Das LSG hätte die materiellen Voraussetzungen des geltend gemachten Versorgungsanspruchs einerseits und die Frage der Rechtmäßigkeit einer Zustimmungsverweigerung andererseits überprüfen müssen.
Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Urteile und Bescheide zu verurteilen, ihr im Rahmen der Teilversorgung Witwenrente, hilfsweise Witwenbeihilfe zu gewähren, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Ansprüche der Klägerin seien materiell-rechtlich unbegründet. Soweit die dazu erforderlichen Tatsachenfeststellungen des LSG fehlten, müßten sie nachgeholt werden. Im übrigen schließe er sich der Meinung der Beigeladenen an.
Der BMA als Vertreter der beigeladenen Bundesrepublik Deutschland trägt vor, das polnische Recht sei hinsichtlich der Anrechnung ausländischer Renten mit Wirkung vom 1. April 1984 an wesentlich geändert worden. Beim Bezug einer deutschen Kriegsopferrente würden die Renten aufgrund des polnischen Gesetzes über die Versorgung für Kriegs- und Wehrdienstbeschädigte und ihre Familien vom 29. Mai 1974 (sog Ziw-Renten für Beschädigte und Zr-Renten für Hinterbliebene) nur noch um den festen Betrag von 1.750 Zloty (bei Ziw-Renten) bzw 1.250 Zloty (bei Zr-Renten) gekürzt. Die allgemeine Rentenkürzung um die Hälfte der deutschen Teilversorgung sei von diesem Zeitpunkt an weggefallen. Deshalb finde Nr 22 der Änderungs-Richtlinien 1980 insoweit keine Anwendung mehr. Neuanträge von Ziw- und Zr-Rentnern würden damit nur noch dann abgelehnt werden, wenn der Kürzungsbetrag, um den die polnische Rente gekürzt werde, höher sei als die Hälfte der Teilversorgung (Nr 16 der Richtlinien Ost 1980).
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insofern begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Das LSG hat zu prüfen, ob der Tod des Ehemannes der Klägerin auf seine Kriegsverletzung zurückzuführen ist und damit die Anspruchsvoraussetzungen für Witwenversorgung (Witwenrente - § 38 BVG - oder Witwenbeihilfe - § 48 BVG-) erfüllt sind.
Die Klage durfte nicht mit der Begründung abgewiesen werden, der Versorgung stünden besondere Gründe entgegen, und der Beklagte dürfe auch nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen, mit Zustimmung des BMA trotzdem eine angemessene Versorgung zu gewähren (§ 64 Abs 2 Satz 2 iVm § 64e Abs 1 BVG). Richtig ist zwar, daß der Zahlung von Renten nach Polen besondere Gründe entgegenstehen (vgl BSG SozR 3100 § 62 Nr 22). Richtig ist auch, daß der BMA im Hinblick darauf seine Zustimmung zu einer Teilversorgung unter Umständen, wie sie möglicherweise bis zum 1. April 1984 bei der Klägerin vorgelegen haben, allgemein nicht erteilt hatte (Nr 22 Änderungs-Richtlinien 1980 zu den Richtlinien Ost 1980). Das schließt aber eine Ermessensentscheidung im Einzelfall nicht aus (vgl Nr 5 Richtlinien Ost 1980). Die Klageabweisung ließ sich nicht damit begründen, der Beklagte würde auf jeden Fall sein Ermessen überschreiten, wenn er im Zusammenwirken mit dem BMA von der Möglichkeit Gebrauch machte, trotzdem Versorgung - Teilversorgung - zu gewähren.
Dieser Entscheidung des LSG steht sowohl das gerichtliche Verfahrensrecht als auch sachliches Recht entgegen.
Das LSG hat gegen § 54 iVm § 123 SGG verstoßen. Es hat über einen Gegenstand entschieden, der nicht Streitgegenstand war. Die Klage richtet sich gegen einen Verwaltungsakt, der den Anspruch der Klägerin aus Rechtsgründen ablehnt. Ein Verwaltungsakt, der den Anspruch aus Ermessensgründen ablehnte, ist nicht erlassen worden. Zwar kann in einem Verwaltungsakt, der eine Leistung aus Rechtsgründen ablehnt, auch die - hilfsweise - Ablehnung aus Ermessensgründen stecken. Hier ist das aber nicht der Fall. Die Verwaltung hat auch nicht im Lauf des Verfahrens zu erkennen gegeben, daß sie etwa die Ablehnung des Anspruchs auch auf Ermessensgründe stützen wollte. Sie hat sich im Gegenteil geweigert, Ermessenserwägungen nachzuschieben. Es ist auch verständlich, daß die Verwaltung es ablehnte, die im allgemeinen schwierigen Ermessenserwägungen bei Auslandsversorgung anzustellen, wenn der Versorgungsanspruch schon aus Rechtsgründen abgelehnt werden muß.
Der Ermessensbereich der Verwaltung war auch nicht "auf Null geschrumpft", so daß die Ablehnung auch deshalb hätte erfolgen müssen. Es ist zwar einzuräumen, daß das Ermessen auch zu Lasten des Bürgers auf Null reduziert sein kann. Das hat der Senat in einem Fall angenommen, in dem es um die Aufhebung eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts ging (Urteil vom 25. Juni 1986 - 9a RVg 2/84 -, zur Veröffentlichung bestimmt). Die Entscheidung der Verwaltung war aber damals deshalb zu Lasten des Bürgers zu treffen, weil neben den besonderen Umständen des Falles, die gegen einen Vertrauensschutz sprachen, feststand, daß nur damit der gesetzmäßige Zustand im Leistungsrecht hergestellt werden konnte. Der Kläger hatte entgegen einem später als rechtswidrig erkannten Bescheid keinen Anspruch auf Versorgung.
In den Fällen der hier vorliegenden Art würde eine Entscheidung zu Lasten des Einzelnen aber nicht der Herstellung, sondern der Verhinderung des gesetzmäßigen Zustandes im Leistungsrecht dienen. Sie wäre nur die auf den Einzelfall bezogene Bestätigung der Entscheidung des Gesetzgebers, in bestimmten Fallgruppen aus besonderen außenpolitischen Gründen die Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes im Leistungsrecht einstweilen nicht allgemein zuzulassen. Die Schwere dieses gesetzlichen Eingriffs in das Leistungsrecht kann daran gemessen werden, daß nach Auffassung des Senats Ansprüche auf Rentenleistungen der Kriegsopferversorgung grundsätzlich dem Eigentumsschutz des Art 14 GG ebenso unterliegen wie Ansprüche auf Rentenleistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung (Urteil vom 7. Mai 1986 - 9a RV 20/85 - ZfS 1986, 311 ff). Die Entscheidung der Verwaltung, auf einen solchen Eingriff zu verzichten und ihr Ermessen in dem Sinne auszuüben, daß der gesetzmäßige Zustand im Leistungsrecht hergestellt wird, kann unter keinem erkennbaren Gesichtspunkt selbst rechtswidrig sein. Weder die Feststellungen des LSG noch allgemein bekannte oder offenkundige Tatsachen ergeben, daß eine für die Klägerin günstige Ermessensentscheidung das Recht verletzen würde.
Das LSG wird nunmehr die tatsächlichen Feststellungen nachzuholen haben, die eine Entscheidung darüber zulassen, ob der Klägerin dem Grunde nach Ansprüche auf Witwenrente oder Witwenbeihilfe entstanden sind. Mit der erneuten Entscheidung in diesem Rechtsstreit hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen