Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwertung von Gerichtskunde. Vortrag eines Beteiligten
Orientierungssatz
Beruhen Feststellungen des Gerichts nicht auf dem Vortrag des Klägers, sondern auf Kenntnissen, die es früher von ihm gefällten Urteilen entnimmt, handelt es sich um die Verwertung von Gerichtskunde. Will das Gericht derartige Tatsachen verwerten, muß es sie in den Prozeß einführen und zum Gegenstand der Verhandlung machen (vgl BSG 1978-10-31 4 BJ 149/78 = SozR 1500 § 128 Nr 15).
Normenkette
SGG § 128 Abs 1 S 2 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03, § 62 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.06.1982; Aktenzeichen L 6 J 91/81) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 17.02.1981; Aktenzeichen S 1 J 6/81) |
Tatbestand
Der im Jahr 1932 geborene Kläger, gelernter Tischler, war ab 1959 als Bauschreiner beschäftigt und in der Rentenversicherung versichert. Seit Ende 1979 ist er wegen Krankheit nur noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen oder im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen in geschlossenen, temperierten Räumen - ohne Zeitdruck und ständige nervliche Belastung sowie ohne Akkord-, Schicht- oder Nachtarbeit - vollschichtig zu verrichten. Er ist deshalb für den Beruf eines Bauschreiners nicht mehr geeignet.
Im Dezember 1979 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14. Mai 1980 den Antrag ab, weil der Kläger noch nicht berufsunfähig sei.
Mit der Klage hat der Kläger beantragt, die Beklagte zur Zahlung von Rente zu verurteilen. Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat mit Urteil vom 17. Februar 1981 die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 11. Juni 1982 das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1980 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Kläger sei berufsunfähig. Für ihn gebe es keine zumutbaren Verweisungstätigkeiten. Die von der Beklagten genannten berufsverwandten Tätigkeiten setzten zum Teil Spezialkenntnisse voraus, die sich der Kläger jedenfalls nicht innerhalb von drei Monaten anzueignen vermöge. Die von der Beklagten angegebenen Maschinenarbeiten seien zum Teil unter ständiger nervlicher Belastung und unter Zeitdruck zu verrichten. Überhaupt seien Facharbeiterplätze in der Holzindustrie im allgemeinen "verakkordiert" (vgl LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. April 1982 - L 2 J 270/81 -). Bei den Tätigkeiten eines Magazin- und Lagerverwalters in der Holzbranche sowie eines Material- und Werkzeugausgebers handele es sich nicht nur um körperlich leichte Arbeiten, die auch nicht nur in geschlossenen temperierten Räumen auszuüben seien; letzteres gelte auch für die Tätigkeit eines Fachberaters/Verkaufsberaters. Schließlich sei der Kläger nicht in der Lage, innerhalb von drei Monaten etwa die im allgemeinen eine längere Einarbeitungszeit erfordernden Tätigkeiten eines "gehobenen" Pförtners oder eines Schichtenkontrolleurs/Werkstattschreibers (vgl LSG Rheinland-Pfalz, Urteile vom 25. Januar und 26. April 1982 - L 2 J 326/80, 135/81, 167/81) vollwertig auszuüben.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 62, 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und des § 128 Abs 1 Satz 2 iVm § 136 Abs 1 Nr 6 SGG. Sie trägt vor: Das LSG habe seine Gerichtskunde verwertet, ohne diese in das Verfahren eingeführt zu haben. Der Hinweis auf frühere Urteile des LSG reiche nicht aus. Das LSG habe sein Urteil auch nicht mit den erforderlichen Entscheidungsgründen versehen; es sei nämlich auf die von der Beklagten vorgelegte Auskunft des Landesarbeitsamtes Baden-Württemberg vom 27. Juni 1980 nicht eingegangen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 17. Februar 1981 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Auf den Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 1. Juni 1983 wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist im Sinn der Zurückverweisung begründet. Ein Teil der tatsächlichen Feststellungen des LSG ist, was die Revision in zulässiger Weise rügt, unter Verletzung von Verfahrensvorschriften getroffen worden und kann deshalb nicht verwertet werden. Die verbleibenden Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Der Kläger hat nur dann einen Anspruch gegen die Beklagte auf Rente wegen Berufsunfähigkeit, wenn die Wartezeit erfüllt ist (das hat das LSG festgestellt) und er berufsunfähig ist (§ 1246 Abs 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Nicht berufsunfähig ist der Kläger, wenn er noch Tätigkeiten verrichten kann, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO). Dazu hat das LSG ausgeführt, ihm sei keine solche Tätigkeit "erkennbar". Mit dieser Wendung ist offenbar gemeint, solche Tätigkeiten gebe es nicht, die angestellten Ermittlungen hätten insoweit zu keinem Ergebnis geführt; der Ausdruck "nicht erkennbar" ist mißverständlich, denn nur eine nach sorgfältiger Erforschung des Sachverhaltes von Amts wegen (§ 103 SGG) noch bestehende Nicht-Erkennbarkeit kann rechtlich wesentlich sein.
Das LSG hat mehrere von der Beklagten bezeichnete "berufsverwandte" Tätigkeiten auf ihre Zumutbarkeit für den Kläger hin untersucht und dann aufgrund von tatsächlichen Feststellungen als unzumutbar verworfen. Diese Feststellungen betreffen allerdings nicht die jeweilige Tätigkeit im Ganzen, sondern nur Teile davon. So heißt es in den Entscheidungsgründen des Urteils ua, die Tätigkeiten setzten "zum Teil" Spezialkenntnisse voraus; Facharbeiterplätze in der Holzindustrie seien "im allgemeinen" verakkordiert; die Tätigkeit des gehobenen Pförtners erfordere "im allgemeinen" eine länger als drei Monate andauernde Einarbeitungszeit. Danach kommen also für den Kläger in Frage die vorhandenen berufsverwandten Tätigkeiten, die nicht Spezialkenntnisse voraussetzen, die Facharbeiterplätze in der Holzindustrie, die nicht verakkordiert sind, und die Tätigkeiten als gehobener Pförtner, die keine länger als drei Monate andauernde Einarbeitungszeit erfordern. Die Rechtsauffassung des LSG, der Kläger sei berufsunfähig, weil es für ihn keine zumutbaren Verweisungstätigkeiten gebe, wird sonach durch die Feststellungen des LSG nicht nur nicht getragen, sondern widerlegt.
Die Feststellungen des LSG über die - "zum Teil" bestehende - Ungeeignetheit der von der Beklagten bezeichneten Tätigkeiten sind zudem verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Dabei mag offenbleiben, ob ein Teil dieser Feststellungen etwa deshalb verfahrensrechtlich in Ordnung ist, weil das LSG nur den Vortrag des Klägers als inhaltlich richtig dem Urteil zugrunde gelegt hat. Das Gericht kann, worauf der Kläger unter Hinweis auf den Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 3. November 1982 - 1 BJ 192/82 - abstellt, seine Entscheidung auch nur auf den Beteiligtenvortrag stützen, wenn dieser glaubhaft ist, der Lebenserfahrung entspricht und nicht zu anderen festgestellten Tatsachen im Widerspruch steht (BSG SozR Nr 56 zu § 128 SGG; Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, Anm 4 zu § 128). Andere Feststellungen des LSG beruhen aber nach dem klaren Wortlaut der Entscheidungsgründe nicht auf dem Vortrag des Klägers, sondern auf Kenntnissen, die das LSG früher von ihm gefällten Urteilen entnimmt. Dabei handelt es sich um die Verwertung von Gerichtskunde. Gerichtskundig sind solche Tatsachen, die der Richter kraft seines Amtes kennt (BSG SozR Nr 91 zu § 128 SGG; SozR 1500 § 128 Nr 15; Meyer-Ladewig, Anm 7 zu § 118). Will das Gericht derartige Tatsachen verwerten, muß es sie in den Prozeß einführen und zum Gegenstand der Verhandlung machen (BVerfGE 10, 177, 183; 48, 209; vgl auch die soeben genannten Entscheidungen des BSG mwN). Die Beklagte hat vorgetragen, daß das LSG das nicht getan hat. Der Kläger hat das, soweit es die Gerichtskunde aus den früheren Urteilen des LSG betrifft, nicht bestritten. Weder die Akten noch das Sitzungsprotokoll des LSG geben einen Anhalt dafür, daß das LSG die aus den früheren Urteilen gewonnene Gerichtskunde in das Verfahren eingeführt hätte. Darauf, ob die früheren Urteile den Bevollmächtigten des Klägers und der Beklagten etwa deshalb bekannt waren, weil diese an den früheren Prozessen beteiligt gewesen sind, kommt es nicht an.
Da somit die Feststellung der für die Entscheidung wesentlichen Tatsachen verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist und die ordnungsmäßig festgestellten Tatsachen das Urteil nicht tragen, war das angefochtene Urteil unter Zurückverweisung aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen