Entscheidungsstichwort (Thema)
Subsidiarität des Restitutionsgrundes
Leitsatz (amtlich)
1. Das Vorliegen eines rechtskräftigen Endurteils ist zwar Zulässigkeits-(Prozeß)-Voraussetzung für das Wiederaufnahmeverfahren; die Rechtskraft braucht aber erst bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung eingetreten zu sein.
2. Der Restitutionsgrund führt nicht zur Statthaftigkeit der Restitutionsklage, wenn er bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt der Partei oder ihres Vertreters in dem Vorprozeß mit begründeter Aussicht auf Erfolg hätte geltend gemacht werden können. Das gilt insbesondere von Akten, deren Einsicht der Partei freigestanden hat oder deren Vorlegen sie hätte beantragen können, und von Urkunden, die die Partei bei pflichtgemäßem Suchen hätte finden können.
Normenkette
SGG § 179 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 580 Nr. 7 Buchst. b, § 589
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 1971 aufgehoben. Die Wiederaufnahmeklage des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Oktober 1969 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der im Jahre 1895 geborene Kläger leistete im ersten Weltkrieg und zeitweilig auch im zweiten Weltkrieg Wehrdienst. Von November 1942 bis November 1943 war er aufgrund einer Notdienstverpflichtung beim Zollgrenzschutz tätig. Seit dem 10. Januar 1945 war er Angestellter des Versorgungsamtes (VersorgA) K/Pr.; er kam mit diesem Amt im Zuge der Evakuierung über L/Pommern nach N. Durch den vorläufigen Bescheid vom 5. Juni 1945 des VersorgA K/Pr., welches damals in N tätig war, wurden "Nierenbeckeneiterung, Verlust der linken Niere und Zuckerkrankheit" als "Notdienstbeschädigung" anerkannt und Versehrtheit nach Stufe II festgestellt. Nach einer weiteren Überprüfung erging der auf die Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 gestützte Bescheid vom 5. Oktober 1948; darin wurde die Anerkennung von Versorgungsleiden abgelehnt; für das Vorliegen einer Zuckerkrankheit bestand kein Anhalt. Die Rechtsmittel des Klägers brachten keinen Erfolg (Bescheid des Beschwerdeausschusses II der Landesversicherungsanstalt - LVA - Schleswig-Holstein vom 11. Februar 1950; Urteil des Oberversicherungsamts - OVA - Schleswig vom 23. November 1950). Ein am 14. Juni 1961 gemäß § 88 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gestellter Antrag des Klägers auf Versorgung blieb gleichfalls erfolglos (Bescheid des VersorgA K vom 5. Februar 1953; Bescheid des Beschwerdeausschusses vom 10. Juni 1953; Urteil des OVA Schleswig vom 27. November 1953). Die weitere Berufung des Klägers gegen die Urteile des OVA Schleswig vom 23. November 1950 und 27. November 1953 wurde durch Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts (LSG) vom 15. Februar 1956 zurückgewiesen.
Einen im Dezember 1966 gestellten Antrag "auf Weiterzahlung der Renten" lehnte die Versorgungsverwaltung durch Bescheid vom 23. Dezember 1966/Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1967 unter Hinweis auf den bindend gewordenen Bescheid vom 5. Februar 1953 ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 18. Dezember 1967 abgewiesen, das LSG die Berufung des Klägers durch Urteil vom 28. Oktober 1969 zurückgewiesen. Dieses Urteil wurde dem Kläger am 12. Dezember 1969 zugestellt.
Bereits am 6. November 1969 beantragte der Kläger beim LSG die Wiederaufnahme des Verfahrens. Er verwies auf die Eintragungen in der Grundliste des VersorgA K/Pr., wonach ihm bereits in Ostpreußen eine Beschädigtenrente gezahlt worden sei, und benannte mehrere Zeugen für die frühere Rentenzahlung. Mit Schriftsatz vom 2. September 1970 (vgl. dort Bl. 8 Ziff. 5 Beleg Nr. 54 und 55) brachte der Kläger u.a. die Fotokopie eines "Vorgangs" des VersorgA K/Pr., datiert in N vom 10. April 1945, bei, der sich in den Akten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA, dort Blatt 3) befindet. Der Kläger trug dazu vor, aus diesem Schreiben, das von dem damaligen Regierungsoberinspektor M vom VersorgA K unterzeichnet sei, ergäben sich die Berechnung seiner Kriegsrente sowie die anerkannten Kriegsdienstbeschädigungsfolgen. Die Benutzung dieser Urkunde sei ihm erst jetzt möglich geworden, nachdem ihm endlich nach vielen Bemühungen im August 1970 Gelegenheit gegeben worden sei, die vollständigen Akten und Beiakten einzusehen und zu prüfen.
Das LSG hat durch Urteil vom 26. Oktober 1971 das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 28. Oktober 1969 und das Urteil des SG Kiel vom 18. Dezember 1967 geändert, ferner die Bescheide der Versorgungsverwaltung vom 10. Februar 1967 und 23. Dezember 1966 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, "wobei davon auszugehen ist, daß chronische Bronchitis, Herzneurose und Nervenschwäche als Schädigungsfolgen i.S. des § 85 BVG anzuerkennen sind". Das LSG hat ausgeführt, die Wiederaufnahmeklage sei zulässig und begründet. Der Kläger habe die Urkunde vom 10. April 1945, deren Auffinden den Restitutionsgrund gem. § 580 Nr. 7 b der Zivilprozeßordnung (ZPO) bilde, vor der Rechtskraft des Urteils vom 28. Oktober 1969 noch nicht vorlegen bzw. benennen können. Erst während des vorliegenden Rechtsstreits sei dem Kläger durch die Akteneinsicht im Juli und August 1970 die Urkunde vom 10. April 1945 bekannt geworden. Die Monatsfrist des § 586 Abs. 1 ZPO sei mit dem Schriftsatz des Klägers vom 2. September 1970 eingehalten. Der Kläger habe auch die Fünfjahresfrist des § 586 Abs. 2 ZPO bei der Anfechtung des Urteils vom 28. Oktober 1969 gewahrt. Nach Auffinden der Urkunde vom 10. April 1945 könne diese Entscheidung nicht mehr aufrechterhalten werden. Aus den Bekundungen des Zeugen B ergebe sich, daß der erste Teil der erwähnten Urkunde von Regierungsrat Sch unterzeichnet sei, der Dezernent beim VersorgA K/Pr. gewesen sei. Er enthalte die Anweisung an die Amtskasse des VersorgA zur Zahlung mehrerer Monatsbeträge der Versorgungsrente des Klägers in Höhe von jeweils 27,90 RM. Der auf der Rückseite der Urkunde befindliche Vermerk sei von dem inzwischen verstorbenen Oberinspektor M früher Abschnittsleiter beim VersorgA K/Pr., unterzeichnet. Dieser Vermerk enthalte unter Ziff. 5 die anerkannten Wehrdienstschäden des Klägers im ersten Weltkrieg, nämlich "chronische Bronchialleiden, Herzneurose und Nervenschwäche". Nach der Überzeugung des Gerichts sei somit einwandfrei erwiesen, daß der Kläger Versorgung wegen der erwähnten, sich aus der Urkunde vom 10. April 1945 ergebenden Gesundheitsstörungen erhalten habe, die gem. § 85 BVG zu übernehmen seien.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Dieses Urteil wurde dem Beklagten am 22. Dezember 1971 zugestellt, der dagegen am 12. Januar 1972 Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 26. Januar, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 28. Januar 1972, begründet hat. Der Beklagte beantragt,
das Urteil des 5. Senats des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 1971 aufzuheben und die Wiederaufnahmeklage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
In seiner Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, trägt er u.a. vor, das LSG habe die Revision zulassen müssen, um nicht willkürlich zu handeln. Das LSG habe weiterhin wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze verletzt. Dem Urteil des LSG vom 26. Oktober 1971 stehe die rechtskräftige Entscheidung des gleichen Senats von 1956 entgegen; insoweit werde ein Verstoß gegen § 141 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und § 85 BVG gerügt. Ferner habe das LSG die in § 128 Abs. 1 SGG gezogenen Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten und seiner Sachaufklärung nach § 103 SGG nicht genügt. Die Wiederaufnahme des Verfahrens habe nicht zugelassen werden dürfen. Bei der Urkunde vom 10. April 1945 handele es sich nicht um eine "aufgefundene" Urkunde i.S. des § 580 Nr. 7 b ZPO. Aus dem Tatbestand des Urteils des LSG vom 28. Oktober 1969 ergebe sich eindeutig, daß die Akte der BfA mit der darin enthaltenen Urkunde Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sei. Der Kläger habe diese Urkunde also bereits im Vorprozeß benutzen können. Damit fehle es an einer Voraussetzung für die Statthaftigkeit der Wiederaufnahmeklage. Sofern sich ein Gericht über die Unzulässigkeit einer Klage hinwegsetze und sachlich entscheide, liege ein wesentlicher Verfahrensmangel vor. Schließlich werde eine Verletzung des § 582 ZPO geltend gemacht. Ein Verschulden i.S. dieser Vorschrift liege bereits dann vor, wenn einer Partei die entsprechende Einholung einer maßgeblichen Urkunde möglich gewesen sei. Auch habe das LSG anhand des Gutachtens des Sachverständigen Dr. J prüfen und feststellen müssen, ob die Gesundheitsstörungen tatsächlich noch vorhanden seien; abgeklungene Leiden seien einer Umanerkennung nach § 85 BVG nicht fähig. Letztlich habe das G die Zeugen G und D zur Sache vernommen, obwohl diese keine Aussagegenehmigung hätten vorlegen können.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend und bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Urteils. Die Wiederaufnahmeklage sei statthaft und auch begründet gewesen. Die Urkunde vom 10. April 1945 sei durch den Regierungsoberinspektor M vom VersorgA K/Pr. gefertigt worden. Er, der Kläger, habe nicht annehmen können, daß sich diese wichtige Urkunde in den Akten der BfA befinde. Aus den Unterlagen gehe eindeutig hervor, daß er Kriegsrente aus dem ersten Weltkrieg bis zum Schluß des Krieges bezogen habe.
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung des Armenrechts ist durch Beschluß des Senats vom 16. März 1972 abgelehnt worden.
Die Revision ist von dem Beklagten frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da das LSG ... die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist die Revision nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG i.S. des § 162 Abs.1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Der Beklagte rügt in seiner Revisionsbegründung in mehrfacher Hinsicht Verfahrensverstöße durch das LSG. Werden mehrere Verfahrensmängel gerügt, so genügt es, wenn einer dieser Verfahrensmängel vorliegt und die Revision trägt. In einem solchen Fall kommt es für die Statthaftigkeit der Revision nicht mehr darauf an, ob auch die übrigen Rügen durchgreifen (ständige Rechtsprechung des BSG; s. dazu BSG in SozR Nr. 122 zu § 162 SGG).
Der Beklagte macht mit der Revision u.a. geltend, das LSG habe nicht in der Sache entscheiden dürfen, sondern die Wiederaufnahmeklage als unzulässig verwerfen müssen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für ein Wiederaufnahmeverfahren nicht gegeben seien. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (vgl. BSG 1, 283, 286; 2, 158; 3, 293, 296; s. auch Krebs in Zentralblatt für Sozialversicherung - ZfS - 1963 S. 81 ff und S. 121 ff) die Auffassung vertreten, daß das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel leidet, wenn das LSG die Berufung als unzulässig verworfen hat, obwohl es eine Sachentscheidung hätte treffen müssen, oder wenn es sachlich entschieden hat, obwohl die Berufung als unzulässig zu verwerfen gewesen wäre (vgl. BSG 2, 158; SozR SGG Nr. 191 zu § 162 mit weiteren Hinweisen). Die Rüge des Beklagten, das LSG habe die Wiederaufnahmeklage als unzulässig verwerfen müssen, greift auch durch.
Nach § 179 SGG kann ein rechtskräftig beendetes Verfahren entsprechend den Vorschriften des Vierten Buches der ZPO (§§ 578 ff) wieder aufgenommen werden. Der Statthaftigkeit der Restitutionsklage steht - wie das LSG richtig entschieden hat - nicht der Umstand entgegen, daß der Kläger die Klage erhoben hat, bevor die Revisionsfrist gegen das Urteil des LSG vom 28. Oktober 1969 abgelaufen und dieses Urteil rechtskräftig geworden war (vgl. Baumbach-Lauterbach, ZPO, 30. Aufl., § 586 Anm. 1). Das Vorliegen eines rechtskräftigen Endurteils ist zwar Zulässigkeits-(Prozeß-)Voraussetzung für das Wiederaufnahmeverfahren; die Rechtskraft braucht aber erst bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung eingetreten zu sein (vgl. Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 10. Aufl., § 162 Anm.I 2; Stein-Jonas, ZPO, 18. Aufl., § 580, Anm. IV 2 b; s. auch RG 8, 395; BGH 33, 73). Das LSG ist auch zutreffend davon ausgegangen, daß nach dem Klagevortrag des Klägers lediglich eine Restitutionsklage gem. § 580 ZPO, nicht aber eine Nichtigkeitsklage gem. § 579 ZPO in Betracht kommt und dass das Vorliegen des Restitutionsgrundes nach § 580 Nr. 7 b ZPO zu beurteilen ist. Der Kläger hat zwar wiederholt Vorwürfe strafrechtlicher Art gegen die Versorgungsverwaltung und ihre Bediensteten erhoben. Eine strafgerichtliche Verurteilung, die gem. § 581 Abs. 1 ZPO Voraussetzung für die Statthaftigkeit der Restitutionsklage in den Fällen des § 580 Nrn. 1 - 5 wäre, ist jedoch nicht erfolgt; die bloße Androhung eines Strafverfahrens genügt dafür nicht (vgl. BGH 12, 284). Auch die sonstigen Voraussetzungen des § 580 Abs. 1 ZPO sind nicht erfüllt.
Nach § 580 Nr. 7 b ZPO findet die Restitutionsklage statt, wenn die Partei eine andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Bei dem "Vorgang" des VersorgA Königsberg vom 10. April 1945 handelt es sich um eine Urkunde im Rechtssinne (vgl. BSG 29, 10 mit weiteren Hinweisen). Aussteller dieser Urkunde sind der Regierungsrat Sch Dezernent beim VersorgA K, und der Oberinspektor M, früher Abschnittsleiter beim VersorgA K. Durch den Inhalt ihrer schriftlichen Erklärungen soll bewiesen werden, daß der Kläger bereits vor Kriegsende Versorgungsrente wegen bestimmter Versorgungsleiden bezogen hat.
Für das vorliegende Verfahren kann dahinstehen, ob diese Urkunde eine für den Kläger günstigere Entscheidung im Vorprozeß herbeigeführt haben würde, denn jedenfalls ist die weitere Voraussetzung nicht erfüllt, daß der Kläger diese Urkunde nachträglich aufgefunden hat oder zu benutzen in den Stand gesetzt worden ist. In beiden Fällen wird zunächst vorausgesetzt, daß die Urkunde zur Zeit des Vorprozesses schon vorhanden war. Das Auffinden meint dabei den Fall, daß die Urkunde oder ihr Verbleib nicht bekannt war, während sie im anderen Fall nicht benutzbar war (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 179, S. III/86-5-; RG 135, 128). Aus dem Erfordernis des später erfolgten Auffindens oder Benutzenkönnens i.V.m. dem Sorgfaltsgebot des § 582 ZPO folgt jedoch, daß die Restitutionsklage nicht auf Urkunden gestützt werden kann, die die Partei im Vorprozeß bei Anwendung der erforderlichen Sorgfaltspflicht hätte benutzen können (vgl. Stein-Jonas, aaO, § 580 Anm. IV 3; Rosenberg-Schwab, aaO, § 161, Anm. II 3 d, c; RG 84, 142, 145; 89, 1, 4). Diese Folgerung ergibt sich aus den Grundsätzen des Wiederaufnahmeverfahrens. Schon der Vorprozeß hat dem obersten Zweck jedes Prozeßverfahrens zu dienen, nämlich einerseits der materiellen Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen und andererseits den Rechtsfrieden schnell und endgültig wiederherzustellen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 14. November 1968 in BSG 29, 10; BGH 38, 333, 336). Das Interesse der Allgemeinheit, Rechtsstreitigkeiten durch gerichtliche Entscheidung endgültig zum Abschluß zu bringen, ist dabei so groß, daß es im Interesse des Rechtsfriedens hingenommen werden muß, daß - rechtskräftige - Urteile bestehen bleiben, die der wirklichen Rechtslage nicht entsprechen, sei es, weil der Rechtsstreit durch das Gericht fehlsam behandelt worden ist, sei es, weil die Parteien den Sachverhalt nicht vollständig dargelegt oder bewiesen haben (vgl. BSG aaO). Wenn trotzdem ausnahmsweise Urteile mit der Restitutionsklage beseitigt werden können, so kann der Restitutionsgrund stets nur subsidiär sein, d.h. er führt nicht zur Statthaftigkeit der Restitutionsklage, wenn er - und darauf ist von Amts wegen zu achten (vgl. RG 99, 168) - bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt der Partei oder ihres Vertreters in dem Vorprozeß mit begründeter Aussicht auf Erfolg hätte geltend gemacht werden können (vgl. Lindenmayer-Möhring, ZPO, Nr. 1 zu § 582; Rosenberg-Schwab, aaO § 161, Anm. II 1). Das gilt insbesondere von Akten, deren Einsicht der Partei freigestanden hat (vgl. Stein-Jonas, aaO, § 582 Anm. I 3; RG 59, 413; 84, 145) oder deren Vorlegung sie hätte beantragen können, und von Urkunden, die die Partei bei pflichtgemäßem Suchen hätte finden können (vgl. RG 84, 145; 99, 170).
So liegt der Fall aber hier. Aus dem Urteil des LSG im Vorprozeß geht hervor, daß in der mündlichen Verhandlung vom 28. Oktober 1969 u.a. die den Kläger betreffenden Akten der BfA (Az.: IV 11 - 2993 - S 55 -), in denen sich die Urkunde vom 10. April 1945 befand, beigezogen waren und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind (vgl. Bl. 7 unten der Urteilsausfertigung). Dem Kläger hat die Einsicht in diese Akten freigestanden (s. § 120 Abs. 1 SGG; RG 84, 145); bei pflichtgemäßem Suchen (vgl. § 582 ZPO) hätte er die Urkunde auch finden können. Dabei kommt es nicht darauf an, ob dem Kläger die Existenz dieser Urkunde und ihr Verbleib bekannt waren. Entscheidend ist vielmehr darauf abzustellen, daß die Akten der BfA beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht waren, daß dem Kläger die Einsicht in diese Akten freigestanden hat und daß er die Urkunde auch hätte finden und benutzen können (vgl. RG 99, 170). Wenn der Kläger dies nicht getan hat, so ist er jedenfalls nicht ohne sein Verschulden gehindert gewesen, den Restitutionsgrund in dem früheren Verfahren geltend zu machen (vgl. § 582 ZPO). Damit fehlt es aber an einer der Voraussetzungen für die Statthaftigkeit der Restitutionsklage nach § 580 Nr. 7b ZPO.
Bei dieser Sach- und Rechtslage kommt es nicht mehr darauf an, ob die Restitutionsklage auch deshalb unstatthaft ist, weil der Kläger - was das LSG offenbar übersehen hat - bereits im Dezember 1966 - also zum gleichen Zeitpunkt, als er den erneuten Versorgungsantrag "auf Weiterzahlung der Renten" gestellt hat - Akteneinsicht in die Akten der BfA (zum Verfahren L 4 An 108/66 des Schleswig-Holsteinischen LSG) beantragt hatte und diese Akteneinsicht mit seiner Unterschrift am 10. Februar 1967 bestätigt hat (s. Bl. 316 der Akten der BfA). Das LSG scheint weiter übersehen zu haben, daß der Kläger ein weiteres Mal, und zwar am 23. Dezember 1969, Akteneinsicht in die Akten der BfA genommen und auch diese Akteneinsicht mit seiner Unterschrift bestätigt hat (vgl. Bl. 191 R der Akten der BfA). Hatte der Kläger aber bereits im Dezember 1969 Akteneinsicht genommen, dann war dieser Zeitpunkt, und nicht - wie das LSG angenommen hat - die Akteneinsicht von Juli und August 1970 für die Frage der Rechtzeitigkeit der Geltendmachung des Restitutionsgrundes maßgebend. Dies kann letztlich aber dahinstehen, ebenso die Frage, ob die Fünf-Jahres-Frist des § 586 Abs. 2 Satz 2 ZPO gewahrt ist, ob diese Frist im vorliegenden Fall von 1956 oder von 1969 an zu berechnen ist und ob eine bereits abgelaufene Fünf-Jahres-Frist im sozialgerichtlichen Verfahren von neuem zu laufen beginnt, wenn ein weiterer Rentenantrag bzw. ein Antrag auf Erlaß eines Zugunstenbescheides gestellt wird. Nach den obigen Ausführungen ist nämlich schon der vom ... LSG angenommene Restitutionsgrund des § 580 Nr. 7 b ZPO nicht gegeben. Andere Restitutionsgründe sind vom Kläger nicht geltend gemacht und auch nicht ersichtlich. Mangelt es aber an einem Restitutionsgrund, dann ist die Wiederaufnahmeklage nicht statthaft; in diesem Fall ist sie gem. § 589 ZPO als unzulässig zu verwerfen (s. dazu BSG 29, 10, 17 mit eingehender Begründung). Die Rüge des Beklagten, daß das LSG keine Sachentscheidung hätte treffen dürfen, sondern die Wiederaufnahmeklage als unzulässig hätte abweisen müssen, greift daher durch. Die Revision des Beklagten ist somit statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Sie ist auch begründet, weil das LSG ohne die gerügte Gesetzesverletzung (§ 580 Nr. 7 b i.V.m. § 589 ZPO) zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Der Senat konnte den Rechtsstreit abschließend selbst entscheiden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG), weil lediglich über Rechtsfragen zu entscheiden war und eine weitere Sachaufklärung nicht erforderlich ist. Gemäß § 589 ZPO war auf die Revision des Beklagten das angefochtene Urteil aufzuheben und die Wiederaufnahmeklage als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen