Leitsatz (amtlich)
1. In dem Verfahren auf Gewährung einer Waisenrente aus der Invalidenversicherung nach RVO § 1258 aF (RVO § 1267 nF) können die RVO §§ 1259, 1260 aF (RVO § 1271 nF) nur angewandt werden, wenn das Tatsachengericht trotz Erhebung aller geeigneten, greifbaren Beweise weder feststellen kann, daß der Versicherte tot ist, noch daß er lebt.
2. Wenn die Voraussetzungen des RVO § 1259 aF (RVO § 1271 Abs 1 nF) erfüllt sind, hat das Tatsachengericht nach RVO § 1260 aF (RVO § 1271 Abs 3 nF) den - wahrscheinlichen - Todestag des Versicherten von Amts wegen festzustellen. Die Folgen dieser Feststellung ist, daß eine Lebensvermutung für die Zeit bis zu diesem Zeitpunkt und eine Todesvermutung für die folgende Zeit besteht.
3. In einem Verfahren auf Gewährung von Waisenrente nach einem Versicherten der Invalidenversicherung, welcher vor dem 1948-07-01 im Zusammenhang mit den Ereignissen des letzten Krieges vermißt ist, sind bei der Entscheidung, ob ein Kind als eheliches Kind des Versicherten anzusehen ist, auch für die Frage, ob und gegebenenfalls wann die Ehe des Versicherten durch seinen - vermutlichen - Tod als aufgelöst anzusehen ist, nicht die Todes- und Lebensvermutungen des VerschÄndG (BGBl 1 1951, 59) in Verbindung mit den Vorschriften des VerschG 1939 (RGBl 1 1939, 1186), sondern die sich aus RVO § 1260 aF (RVO § 1271 Abs 3 nF) ergebenden Lebens- und Todesvermutungen jedenfalls dann maßgebend, wenn keine Todeserklärung auf Grund des VerschÄndG (in Verbindung mit den Vorschriften des VerschG 1939), in welcher der wahrscheinliche Todestag auf Grund von Ermittlungen des Gerichts von Amts wegen festgestellt worden ist, vorliegt.
4. Wenn nach den sich aus RVO §§ 1259, 1260 aF (RVO § 1271 nF) ergebenden Todes- und Lebensvermutungen die Ehe des Versicherten mit Wirkung für das Verfahren auf Gewährung einer Waisenrente aus der Invalidenversicherung zu einem Zeitpunkt, welcher mehr als 302 Tage vor der Geburt eines Kindes der Ehefrau des Versicherten liegt, als aufgelöst anzusehen ist, steht BGB § 1593 der Geltendmachung der Unehelichkeit des Kindes in diesem Verfahren nicht entgegen.
Normenkette
RVO § 1258 Fassung: 1934-05-17, § 1262 Fassung: 1957-02-23, § 1267 Fassung: 1957-02-23, § 1259 Fassung: 1934-05-17, § 1260 Fassung: 1934-05-17, § 1271 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; BGB § 1593; VerschÄndG Art. 2 § 2; VerschG
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 19. Januar 1956 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Gebühr für die Berufstätigkeit der Rechtsanwälte Dr. Sch. und S. vor dem Bundessozialgericht wird auf ... DM festgesetzt.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Mutter des Klägers ist seit dem 28. März 1944 mit dem Versicherten, dem Schneider G L, verheiratet, welcher seit Januar 1940 Kriegsdienst leistete und seit dem 31. März 1945 vermißt, aber bisher noch nicht für tot erklärt ist. Am 3. August 1946 wurde der Kläger geboren. Der Versicherte ist nicht sein Erzeuger. Die Ehelichkeit des Klägers ist nicht angefochten worden. Der Versicherte hatte seit dem 1. Januar 1924 insgesamt 375 Wochenbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet.
Der Kläger beantragte am 31. März 1953 die Gewährung der Waisenrente aus der Versicherung des G L. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 16. Juni 1953 ab, weil der Versicherte nicht der Erzeuger des Klägers sei.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger beim Oberversicherungsamt O Berufung ein. Diese ging mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht Oldenburg über. Durch Urteil vom 9. Mai 1955 wies das Sozialgericht die Klage ab. Obwohl es davon ausging, daß der Kläger als eheliches Kind des Versicherten zu gelten habe, sah es den Anspruch auf Waisenrente nicht als begründet an, weil es in der Geltendmachung des Anspruchs eine unzulässige Rechtsausübung erblickte.
Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung beim Landessozialgericht Celle ein. Das Landessozialgericht hob durch Urteil vom 19. Januar 1956 das Urteil des Sozialgerichts auf, verurteilte die Beklagte, dem Kläger vom 1. April 1953 an die Waisenrente zu zahlen und ließ die Revision zu. Es nahm an, daß der Versicherte vermutlich im Jahre 1945 oder 1946 gestorben sei. Der Kläger gelte nach den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften als eheliches Kind des Versicherten. Da auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles erfüllt gewesen seien, habe der Kläger einen Anspruch auf Waisenrente. Die Geltendmachung dieses Anspruchs verstoße nicht gegen Treu und Glauben.
Gegen dieses Urteil, das ihr am 28. Februar 1956 zugestellt wurde, legte die Beklagte am 19. März 1956 Revision ein und begründete diese gleichzeitig. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 1258 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der Versicherte sei nach der Feststellung des Landessozialgerichts nicht der Erzeuger des Klägers, dieser sei also auch nicht sein Kind im Sinne des § 1258 RVO und könne deshalb keinen Anspruch auf Waisenrente haben. Selbst wenn dem Kläger aber ein solcher Anspruch formell zustehe, könne er ihn nicht geltend machen, weil eine solche Rechtsausübung gegen Treu und Glauben verstoße.
Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, daß er als eheliches Kind des Versicherten gelte und deshalb einen Anspruch auf Waisenrente habe. Die Geltendmachung dieses Anspruchs könne nicht gegen Treu und Glauben verstoßen.
Entscheidungsgründe
Der zulässigen Revision konnte der Erfolg nicht versagt bleiben.
Da der Ehemann der Mutter des Klägers invalidenversichert war, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind und der Kläger das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist der geltend gemachte Anspruch nach § 1258 RVO a. F. (§ 1267 RVO n. F.) nur noch davon abhängig, ob der Versicherte gestorben ist und der Kläger ein Kind des Versicherten ist. Der Anspruch kann nach der auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden allgemeinen Beweislastregel nur begründet sein, wenn das Tatsachengericht auf Grund seiner Ermittlungen den Tod des Versicherten feststellt, und er ist sowohl dann unbegründet, wenn das Gericht feststellt, daß der Versicherte noch lebt, wie auch dann, wenn es weder feststellen kann, daß er gestorben ist, noch daß er lebt; denn die Nichtfeststellbarkeit einer rechtserheblichen Tatsache geht grundsätzlich zu Lasten desjenigen, der das von ihm geltend gemachte Recht auf diese Tatsache stützt. Allerdings greifen in Fällen der Verschollenheit die §§ 1259, 1260 RVO a. F. (§ 1271 RVO n. F.) Platz. Diese dürfen jedoch erst angewandt werden, wenn das Gericht trotz Erhebung aller geeigneten, greifbaren Beweise weder zu der Feststellung kommen kann, daß der Versicherte gestorben ist, noch daß er lebt. Diese Vorschriften haben also gegenüber § 1258 RVO a. F. nur eine subsidiäre Bedeutung; sie stellen auch keine selbständige Anspruchsgrundlage neben § 1258 RVO a. F. dar, sondern begründen bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen nur eine Todesvermutung für Verschollene. Dem ersten Anschein nach könnte zwar aus Satz 1 des § 1259 RVO a. F. entnommen werden, daß er eine selbständige Anspruchsvoraussetzung auf Hinterbliebenenrente neben § 1258 RVO a. F. darstellt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Anspruchsvoraussetzung ist in allen Fällen der Tod, nicht die Verschollenheit des Versicherten. Anderenfalls würde es unverständlich sein, daß nach § 1260 RVO a. F. im Falle der Verschollenheit der Todestag des Versicherten besonders festgestellt werden muß; denn wenn die Rente wegen Verschollenheit gewährt würde, bedürfte es dieser Feststellung nicht, weil dann nicht der Todestag, sondern der Verschollenheitstag maßgebend wäre. Es wird also in diesem Verfahren - falls weder festgestellt werden kann, daß der Versicherte gestorben ist, noch daß er lebt - vermutet, daß er seit dem nach § 1260 RVO a. F. festgestellten Tag tot ist und daß er bis zu diesem Tage gelebt hat. Diese Todes- und Lebensvermutung geht als Sonderregelung den allgemeinen Todes- und Lebensvermutungen nach dem Gesetz über die Verschollenheit, die Todeserklärung und die Feststellung der Todeszeit vom 4. Juli 1939 (RGBl. I S. 1186) - Versch. Ges. - und dem Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Verschollenheitsrechts vom 15. Januar 1951 (BGBl. I S. 59) - Versch. Änd. Ges. - vor (vgl. RG-Räte Komm., 10. Aufl., Anm. 1 zu § 9 Versch. Ges.; Palandt, Komm. z. BGB, 15. Aufl., Anm. 3 zu § 9 Versch. Ges.).
Da das Landessozialgericht weder feststellen konnte, daß der Versicherte gestorben ist, noch daß er lebt, durfte es hier die Verschollenheitsvorschriften der §§ 1259, 1260 RVO a. F. anwenden. Es hat angenommen, daß der Versicherte wahrscheinlich im Jahre 1945 oder 1946 gestorben ist. Es konnte daher von der Vermutung ausgehen, daß der Versicherte längstens bis zum Ablauf des Jahres 1946 gelebt hat. Diese Voraussetzung des § 1258 RVO a. F. ist daher erfüllt.
Weiter war zu prüfen, ob der Kläger ein Kind des Versicherten ist. Nach § 1258 Abs. 2 RVO a. F. (§ 1262 Abs. 2 RVO n. F.) gelten als Kinder im Sinne dieser Vorschrift u. a. die ehelichen Kinder. Es kommt daher darauf an, ob der Kläger ein eheliches Kind des Versicherten ist. Nach dem für die Entscheidung dieser Frage maßgebenden § 1591 BGB ist der Kläger kein eheliches Kind des Versicherten. Er ist zwar nach Eingehung der Ehe geboren, der Versicherte hat aber - so sind die Feststellungen des Landessozialgerichts aufzufassen - der Mutter des Klägers innerhalb der vom 5. Oktober 1945 bis zum 3. Februar 1946 rechnenden Empfängniszeit nicht beigewohnt.
Der Geltendmachung der Unehelichkeit des Klägers steht § 1293 BGB nur dann entgegen, wenn der Kläger während der Ehe oder innerhalb von 302 Tagen nach Auflösung der Ehe geboren ist. Entscheidend ist also, ob die Ehe des Versicherten mit der Mutter des Klägers am 5. Oktober 1945 noch bestanden hat. Es war daher zu ermitteln, ob und gegebenenfalls wann diese Ehe durch Tod des Versicherten aufgelöst worden ist. Da das Landessozialgericht weder feststellen konnte, daß der Versicherte gestorben ist, noch daß er lebt, war zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Todes- und Lebensvermutungen hier Platz zu greifen haben. Es kommen einerseits, da der Versicherte vor dem 1. Juli 1948 im Zusammenhang mit Ereignissen des letzten Krieges vermißt worden ist, die Todes- und Lebensvermutungen des Versch. Änd. Ges. (in Verbindung mit den Vorschriften des Versch. Ges.) und andererseits, da es sich um ein Verfahren auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente nach § 1258 RVO a. F. handelt, die Lebens- und Todesvermutungen der §§ 1259, 1260 RVO a. F. in Betracht. Gegen die Anwendung der letzteren spricht, daß der Gesetzgeber der Reichsversicherungsordnung wohl nur an eine Anwendung der §§ 1259, 1260 RVO a. F. bei der Entscheidung sozialversicherungsrechtlicher Sonderfragen gedacht haben wird. Allerdings bestehen auch gegen die Anwendung der allgemeinen Lebens- und Todesvermutungen nicht unerhebliche Bedenken. Gesetzliche Vermutungen betreffen, auch wenn sie ihre Regelung im materiellen Recht gefunden haben, nicht das materielle Rechtsverhältnis, sondern ausschließlich das Verfahren; sie sind prozessuale Beweisregeln (Stein - Jonas - Schönke, Komm. zur ZPO, 18. Aufl., Anm. I zu § 292; Baumbach - Lauterbach, Komm. zur ZPO, 22. Aufl., Anm. 1 B zu § 292; a. A. Rosenberg, Die Beweislast, 3. Aufl., S. 222). Es fragt sich daher, ob sie in einem Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz, in welchem die materielle Wahrheit zu erforschen ist, überhaupt angewandt werden können. Für den Strafprozeß wird dies verneint (RGSt. Bd. 36 S. 332; Bd. 57 S. 277). Ob dies grundsätzlich auch im sozialgerichtlichen Verfahren zu gelten hat, bedarf hier keiner Entscheidung; denn es darf nicht übersehen werden, daß der Gesetzgeber der Reichsversicherungsordnung für das Verfahren auf Gewährung von Hinterbliebenenrente in §§ 1259, 1260 RVO a. F. selbst eine Todes- und Lebensvermutung aufgestellt hat, so daß zumindest für dieses Verfahren keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Anwendung der allgemeinen Lebens- und Todesvermutungen für die Entscheidung der bürgerlich-rechtlichen Vorfragen bestehen. Allerdings kann dies dann nicht gelten, wenn sich diese Todes- und Lebensvermutungen nach Regeln richten, welche - anders als §§ 1259, 1260 RVO a. F. - nicht eine der materiellen Wahrheit möglichst nahekommende Feststellung anstreben, sondern von der Willkür der Beteiligten abhängige oder schematische Feststellungen, welche die allgemeinen Lebenserfahrungen mehr als erforderlich außer acht lassen, vorschreiben. Die sich aus derartigen Regeln ergebenden Todes- und Lebensvermutungen jedenfalls können auf das sozialgerichtliche Verfahren nicht angewandt werden. Dies trifft bei den Todes- und Lebensvermutungen des Versch. Änd. Ges. zu. Im Gegensatz zu dem Versch. Ges. - über dessen Anwendung hier nicht zu entscheiden ist - liegt es nach Art. 2 § 2 Versch. Änd. Ges. nicht in der Hand des Gerichts, von Amts wegen den nach seiner Ansicht wahrscheinlichen Todestag festzustellen, sondern die Antragsberechtigten können willkürlich entscheiden, ob das Gericht dieses Verfahren anzuwenden hat oder ob es schematisch den 31. Dezember 1945 als Todestag festsetzen muß. Dieses Verfahren, welches sowohl von dem Verfahren nach dem Versch. Ges. als auch von dem Verfahren der früheren §§ 13 ff. BGB, nach welchem das Gericht zunächst immer versuchen mußte, von Amts wegen den nach seiner Überzeugung wahrscheinlichen Todestag festzusetzen, abweicht, steht mit dem Amtsermittlungsprinzip in so starkem Widerspruch, daß jedenfalls die auf Grund dieser Vorschriften geltenden Todes- und Lebensvermutungen im sozialgerichtlichen Verfahren keine Anwendung finden können. Darüber hinaus steht aber überhaupt die schematische Festsetzung des Ablaufs des Jahres 1945, welche die für die einzelnen Gruppen von Fällen bedeutsamen Lebenserfahrungen mehr als erforderlich außer acht läßt, mit dem Grundsatz der materiellen Wahrheitserforschung so sehr in Widerspruch, daß auch aus diesem Grunde die Todes- und Lebensvermutungen des Versch. Änd. Ges. hier keine Anwendung finden können. Hinzu kommt noch folgendes Bedenken:
Wenn auch schon nach den Regeln des Versch. Ges. - wenn man sie grundsätzlich überhaupt für anwendbar halten würde - in demselben Verfahren über denselben Anspruch Abweichungen zwischen den für die bürgerlich-rechtlichen Vorfragen und den für die sozialversicherungsrechtlichen Fragen maßgebenden Todes- und Lebensvermutungen möglich sind, so ist dies doch zumindest praktisch ohne übermäßige Bedeutung, weil einerseits auch bei Todeserklärungen die ordentlichen Gerichte in erster Linie von Amts wegen den nach ihrer Überzeugung wahrscheinlichen Todestag festzusetzen haben und darüber hinaus nach diesem Gesetz auch im übrigen die für die einzelnen Gruppen von Fällen bedeutsamen allgemeinen Lebenserfahrungen zumindest überwiegend Berücksichtigung gefunden haben und andererseits die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, ohne daß es gesetzlich vorgeschrieben wäre, praktisch ebenfalls weitgehend diese Lebenserfahrungen bei der Feststellung des wahrscheinlichen Todestages nach § 1260 RVO a. F. berücksichtigen werden. Demgegenüber aber würde die Anwendung der Todes- und Lebensvermutungen des Versch. Änd. Ges. in einem entscheidend ins Gewicht fallenden Umfang zu unterschiedlichen Feststellungen des - wahrscheinlichen - Todestages bei der Entscheidung der bürgerlich-rechtlichen Vorfragen und der sozialversicherungsrechtlichen Fragen führen, zumal die nach dem Versch. Änd. Ges. Antragsberechtigten in aller Regel den Antrag auf Ermittlung des wahrscheinlichen Todestages nicht stellen. Dies könnte in zahlreichen Fällen dazu führen, daß in ein und demselben Verfahren bei Entscheidung einiger Fragen ein anderer Todeszeitpunkt angenommen werden müßte als bei der Entscheidung anderer Fragen. Es wäre also z. B. möglich, daß für die Entscheidung der bürgerlich-rechtlichen Vorfragen eine Lebensvermutung bis zum Ablauf des Jahres 1945 bestünde, während bei der Entscheidung der sozialversicherungsrechtlichen Fragen u. U. eine Todesvermutung bereits von einem nach § 1260 RVO a. F. festgestellten früheren Zeitpunkt bestehen könnte. Der Versicherte würde also in demselben Verfahren für eine gewisse Zeitspanne zugleich als tot und als lebend angesehen werden müssen. Dieses Ergebnis ist nicht tragbar, so daß auch aus diesem weiteren Grunde die sich nach Art. 2 § 2 Versch. Änd. Ges. richtenden Todes- und Lebensvermutungen für die Entscheidung der bürgerlich-rechtlichen Vorfragen in diesem Verfahren nicht angewandt werden können. Es entfallen hier daher alle nach Art. 2 § 2 Versch. Änd. Ges. geltenden Lebens- und Todesvermutungen, und zwar sowohl die auf Grund einer Todeserklärung geltenden als auch die auf Grund des Art. 2 § 8 Versch. Änd. Ges. in Verbindung mit § 10 Versch. Ges. und Art. 2 § 2 Versch. Änd. Ges. geltende Lebensvermutung. Ob etwas Abweichendes zu gelten hat, wenn das ordentliche Gericht auf Grund eines entsprechenden Antrages des Berechtigten nach eigenen Ermittlungen den nach seiner Ansicht wahrscheinlichen Todestag festgestellt hat, bedarf hier keiner Entscheidung; eine Todeserklärung ist bisher nicht erfolgt.
Da es aber dem Willen des Gesetzgebers entspricht, daß in Fällen dieser Art Lebens- und Todesvermutungen anzuwenden sind, damit nicht wegen der sonst geltenden allgemeinen Beweislastregel die Gerichte in zahllosen Fällen zu praktisch unerwünschten Ergebnissen kommen müssen, hatte der erkennende Senat die durch die Nichtanwendung der Todes- und Lebensvermutungen des Versch. Änd. Ges. entstehende Gesetzeslücke auszufüllen. Es boten sich ihm hier praktisch zwei Wege an. Entweder konnte er, falls die Lebens- und Todesvermutungen des Versch. Ges. in dem Verfahren auf Gewährung einer Waisenrente aus der Invalidenversicherung überhaupt für anwendbar anzusehen wären - einer Entscheidung dieser Frage bedurfte es nicht -, diese auch hier, wo an sich das Versch. Änd. Ges. gelten müßte, entsprechend anwenden, oder er konnte die Lebens- und Todesvermutungen der §§ 1259, 1260 RVO a. F. in diesem Verfahren auch für die Entscheidung der bürgerlich-rechtlichen Vorfragen anwenden. Der erkennende Senat glaubte, diesem letzteren Weg den Vorzug geben zu müssen, weil damit dem Grundsatz der materiellen Wahrheitserforschung weitestgehend Rechnung getragen und sichergestellt wird, daß in diesem Verfahren stets von einheitlichen Todes- und Lebensvermutungen bei der Entscheidung der bürgerlich-rechtlichen und der sozialversicherungsrechtlichen Fragen ausgegangen wird. Es ist zwar nicht zu verkennen daß hierdurch die Frage, ob und wann die Ehe als aufgelöst anzusehen ist, eine im Zivilprozeß und im sozialgerichtlichen Verfahren unterschiedliche Beurteilung erfahren kann. Dies würde aber auch dann nicht vermieden, wenn die Todes- und Lebensvermutungen des Versch. Ges. entsprechend angewandt würden, weil in zivilprozessualen Entscheidungen weiterhin von den abweichenden Todes- und Lebensvermutungen des Versch. Änd. Ges. ausgegangen werden müßte. Ohne daß also die Nachteile vermieden würden, würden die durch die Anwendung der Todes- und Lebensvermutungen der §§ 1259, 1260 RVO a. F. sich ergebenden verfahrensrechtlichen Vorteile nicht erzielt werden können. Alles dieses spricht für die hier gefundene Lösung. Es darf auch nicht übersehen werden, daß z. B. auch im Strafprozeß die Möglichkeit einer vom Zivilprozeß abweichenden Entscheidung bürgerlich-rechtlicher Fragen in Kauf genommen wird, um dem Grundsatz der materiellen Wahrheitserforschung gerecht zu werden (RGSt. Bd. 57 S. 277).
Es ist somit bei der Anwendung des § 1293 BGB davon auszugehen, daß der Versicherte an dem nach §§ 1259, 1260 RVO a. F. festgestellten Tag - vermutlich - gestorben ist. Dies bedeutet, daß - beschränkt auf dieses Verfahren - auch davon auszugehen ist, daß die Ehe des Versicherten an diesem Tage durch seinen Tod - vermutlich - aufgelöst ist. Dies hat zwar, da die Auflösung der Ehe erst durch den Tod eines Ehegatten oder - nach § 38 des Gesetzes von 1946 - mit der nach erfolgter Todeserklärung eines Ehepartners geschlossenen neuen Ehe erfolgt, nicht zur Folge, daß die Ehe tatsächlich aufgelöst ist, sondern nur, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in dem Verfahren auf Gewährung von Waisenrente aus der Invalidenversicherung davon auszugehen haben, daß die Ehe an dem nach § 1260 RVO a. F. festgestellten - wahrscheinlichen - Todestag aufgelöst ist (vgl. dazu auch RG-Räte, Kommentar, 10. Aufl., Anm. 1 zu § 9 Versch. Ges.; Palandt, Kommentar zum BGB, 15. Aufl., Anm. 1 zu § 9 Versch. Ges.; RG 60, 196).
Der erkennende Senat konnte selbst nicht über den Anspruch entscheiden, weil das Landessozialgericht lediglich festgestellt hat, daß der Versicherte im Jahre 1945 oder im Jahre 1946 gestorben ist. Diese Feststellung reicht nicht aus, weil der Kläger hiernach, je nachdem, welcher genaue - vermutliche - Todestag anzunehmen ist, während bzw. innerhalb von 302 Tagen nach der - vermuteten - Auflösung der Ehe oder aber später als 302 Tage danach geboren sein kann. Das Landessozialgericht wird daher noch einen bestimmten - vermutlichen - Todestag festzustellen haben. Gegen die Feststellung des Todestages durch das Landessozialgericht bestehen nicht etwa deshalb Bedenken, weil nach § 1260 RVO a. F. die Versicherungsanstalt den Todestag nach billigem Ermessen festzustellen hat. Es handelt sich hier nicht, wie der Wortlaut vermuten lassen könnte, um eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers, sondern um die Feststellung des wahrscheinlichen Todestages. Diese Feststellung kann von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht nur in vollem Umfang nachgeprüft, sondern kann von ihnen auch, wenn sie der Versicherungsträger unterlassen hat, nachgeholt werden. Sollte das Landessozialgericht den - vermuteten - Todestag zeitlich so festlegen, daß der Kläger noch während der Ehe oder innerhalb von 302 Tagen nach Auflösung der Ehe geboren ist, so würde seine Unehelichkeit nach § 1593 BGB nicht geltend gemacht werden können; sollte es ihn dagegen zeitlich so festlegen, daß der Kläger später als 302 Tage nach diesem Tage geboren ist, so kann die Unehelichkeit des Klägers in diesem Verfahren geltend gemacht werden. Ob der Kläger als eheliches Kind des Versicherten im Sinne des § 1258 Abs. 2 RVO a. F. anzusehen ist, richtet sich also nach dieser Feststellung des - wahrscheinlichen - Todestages.
Die Voraussetzungen der Nr. 2 bis 7 des § 1258 Abs. 2 RVO a. F. (§ 1262 Abs. 2 RVO n. F.) sind keinesfalls erfüllt. Insbesondere können, wenn das Landessozialgericht zu der Auffassung kommt, daß der - vermutete - Todestag mehr als 302 Tage vor der Geburt des Klägers liegt und damit seine Unehelichkeit geltend gemacht werden kann, auch die Voraussetzungen der Nr. 2 schon deshalb nicht erfüllt sein, weil der Kläger in diesem Fall nicht in den Haushalt des Versicherten aufgenommen worden sein kann, da es sich dann bei dem Haushalt, in welchen er aufgenommen worden ist, nicht mehr um den Haushalt des Versicherten, sondern schon um den der Mutter des Klägers gehandelt hat.
Da das Revisionsgericht die noch erforderliche Feststellung nicht selbst treffen kann, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Die Festsetzung der Gebühr für die Berufstätigkeit der Rechtsanwälte Dr. S und S vor dem Bundessozialgericht erfolgte nach § 196 SGG.
Fundstellen