Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachverständigenentschädigung. gutachtliche Äußerung. sachverständiger Zeuge. Auslegung von Behördenformularen

 

Orientierungssatz

1. Der Anspruch auf Entschädigung gemäß dem ZuSEG hängt nicht davon ab, wie der Kläger den Auftrag verstanden hat, sondern wie er ihn verstehen durfte. Dabei ist von dem Rechtsgrundsatz auszugehen, daß behördliche Verlautbarungen grundsätzlich immer so zu verstehen sind, wie dies verständige Empfänger unter Würdigung aller ihnen bekannten Umstände aufzufassen pflegen - hier Ärzte, die sich in Schwerbehindertensachen über ihre Patienten äußern sollen (vgl BSG vom 8.10.1987 9a RVs 16/86 = SozR 1925 § 5 Nr 1 mwN).

2. Allein dadurch, daß sich ein formularmäßiges Auftragsschreiben nur auf bereits aktenkundige Tatsachen aus vorliegenden Unterlagen bezieht, erklärt eindeutig, daß ein Sachverständiger als Zeuge - das entspricht der Nr 3 - und nicht auch als Gutachter - das entspricht der Nr 4 der Anlage zu § 5 ZuSEG - in Anspruch genommen wird.

 

Normenkette

SGB 10 § 21 Abs 3 S 4; ZuSEG § 5 Abs 1 Anl 1 Nr 3; ZuSEG § 5 Abs 1 Anl 1 Nr 4; BGB § 133

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.01.1989; Aktenzeichen L 7 Vs 187/88)

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 27.10.1988; Aktenzeichen L 7 Vs 185/88)

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 29.09.1988; Aktenzeichen L 7 Vs 169/88)

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 29.09.1988; Aktenzeichen L 7 Vs 170/88)

SG Detmold (Entscheidung vom 15.07.1988; Aktenzeichen S 7 V 204/87)

SG Detmold (Entscheidung vom 15.07.1988; Aktenzeichen S 7 V 201/87)

SG Detmold (Entscheidung vom 15.07.1988; Aktenzeichen S 7 V 113/87)

SG Detmold (Entscheidung vom 21.06.1988; Aktenzeichen S 7 V 93/87)

 

Tatbestand

Der Kläger, ein Arzt für Allgemeinmedizin, erstattete Ende 1986 und Anfang 1987 dem Versorgungsamt in vier Schwerbehinderten-Verwaltungsverfahren "Befundberichte" auf einem Vordruck. Das Versorgungsamt setzte die Entschädigung nach Nr 3 der Anlage zu § 5 des Gesetzes über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (ZSEG) auf Beträge zwischen 10,- DM und 30,- DM fest. Es blieb damit jeweils unter dem vom Kläger angesetzten Rechnungsbetrag. Mit seinem Begehren, höhere Vergütungen zuzuerkennen, hatte der Kläger in den Vorinstanzen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 21. Juni 1988 - S 7 V 93/87 - und vom 15. Juli 1988 - S 7 V 113/87, S 7 V 204/87 und S 7 V 201/87 -; Urteile des Landessozialgerichts -LSG- vom 29. September 1988 - L 7 Vs 169/88 und L 7 Vs 170/88 -, vom 27. Oktober 1988 - L 7 Vs 185/88 - und vom 19. Januar 1989 - L 7 Vs 187/88 -). Das LSG hat die Leistungen des Klägers als Befundberichte mit kurzer gutachtlicher Stellungnahme iS der Nr 4 der Anlage zu § 5 ZSEG bewertet. Der Kläger habe sich nicht darauf beschränkt, als sachverständiger Zeuge eigene Wahrnehmungen von vergangenen Tatsachen und Zuständen zu bekunden, sondern sich ergänzend in der Rolle eines Sachverständigen betätigt, indem er sich zur Frage einer wesentlichen Veränderung der gesundheitlichen Verhältnisse geäußert habe. Er habe auch das formularmäßige Anschreiben des Beklagten in diesem Sinne verstehen dürfen. Zwar habe der Beklagte nicht ausdrücklich zusätzlich zu einem Befundbericht eine gutachtliche Stellungnahme angefordert. Er habe aber nicht hinreichend klargestellt, daß keine andere Verrichtung als eine solche iS der Nr 3 der Anlage zu § 5 ZSEG verlangt werde. Die Unklarheiten gingen zu Lasten der Verwaltung.

Dagegen wendet sich der Beklagte mit den vom LSG zugelassenen Revisionen, die der Senat zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hat. Der Beklagte rügt eine Verletzung des § 5 ZSEG iVm dem entsprechend anzuwendenden § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sowie des § 128 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG habe zu Unrecht angenommen, der Kläger habe eine gutachtliche Tätigkeit ausgeübt, indem er sich zur Frage der Änderung der Gesundheitsstörungen geäußert habe. Der Vergleich von neueren mit älteren Befunden gehe zwar über die Wiedergabe eines erstmals erhobenen Befundes hinaus; er vollziehe sich jedoch im Rahmen der dokumentierten Befundunterlagen und erfordere keine weiteren gutachtlichen Schlußfolgerungen. Etwas anderes sei dem Kläger mit den formularmäßigen Anschreiben auch nicht aufgegeben worden. Wenn das LSG zu dem Ergebnis gekommen sei, daß der Kläger den Auftrag dahin habe verstehen dürfen, er solle sich auch zur Erheblichkeit von Änderungen äußern, habe es dieses Ergebnis nicht begründet und damit gegen § 128 Abs 1 Satz 2 SGG verstoßen. Das fragliche Formblatt enthalte keine solche Aufforderung. Vor einer Auslegung des Auftragformulars hätte das LSG außerdem ermitteln müssen, wie der Kläger die Aufträge tatsächlich verstanden habe. Ihm sei aus früheren Verfahren bekannt gewesen, daß die Verwaltung zu den Befundberichten grundsätzlich keine gutachtliche Äußerungen verlange. Die den früheren Verfahren zugrundeliegenden Formblätter, die schon Veranlassung zu Rechtsstreitigkeiten mit dem Kläger gegeben hätten, seien überarbeitet worden. Mit den diesem Verfahren zugrundeliegenden Formblättern sei klar zum Ausdruck gebracht worden, daß eine zusätzliche Befundauswertung und eine gutachtliche Äußerung nicht gewünscht werde.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Er hält die angefochtenen Urteile für zutreffend. Durch die neu eingeführten Vordrucke habe sich im Vergleich zu den früheren Vordrucken nichts Wesentliches geändert. Er habe die Auftragschreiben so verstanden und auch verstehen dürfen, daß im Falle einer Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse eine kurze gutachtliche Stellungnahme verlangt werde.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen des Beklagten haben Erfolg.

Die Entschädigung des Klägers für seine Berichte richtet sich gemäß § 21 Abs 3 Satz 4 Halbs 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren (SGB X) nach dem ZSEG (in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Oktober 1969 - BGBl I 1756). Nach § 5 Abs 1 ZSEG bemißt sich die Entschädigung für Leistungen, die ein Sachverständiger oder sachverständiger Zeuge erbringt, im einzelnen nach der Anlage zu dieser Vorschrift.

§ 5 ZSEG und die Anlage dazu sind durch Gesetz vom 9. Dezember 1986 (BGBl I 2326) zum 1. Januar 1987 geändert worden. Gemäß Art 4 Abs 1 Nr 8 dieses Gesetzes bleibt das alte Recht maßgebend, wenn der Auftrag vor dem 1. Januar 1987 erteilt worden ist. Das trifft für das Klageverfahren S 7 V 93/87 zu. Für den vorliegenden Rechtsstreit sind die eingetretenen Gesetzesänderungen nicht bedeutsam. Sowohl nach altem Recht (§ 5 ZSEG und die Anlage dazu idF des Gesetzes vom 22. November 1976 - BGBl I 3221) wie nach neuem Recht hängt die Entscheidung allein davon ab, ob der Kläger einen Befundschein ausgestellt oder eine schriftliche Auskunft ohne nähere gutachtliche Äußerung erteilt hat (Nr 3 der Anlage) oder ein Zeugnis über einen ärztlichen Befund mit kurzer gutachtlicher Äußerung ausgestellt hat (Nr 4 der Anlage). Im Fall einer schriftlichen Auskunft ohne nähere gutachtliche Äußerung erhält der Arzt auch nach der Gesetzesänderung eine Entschädigung von 10,- DM bis 30,- DM, während unter den Voraussetzungen der Nr 4 der Anlage anstelle des Entschädigungsrahmens von 20,- DM bis 50,- DM ein Festbetrag von 45,- DM getreten ist. Streitig ist hier nur, welcher Entschädigungstatbestand vorliegt.

Der Senat folgt nicht den Vorinstanzen, die angenommen haben, daß der Kläger nach Nr 4 der Anlage zu entschädigen sei. Dabei kann der Senat von der Feststellung des LSG ausgehen, daß der Kläger die Auftragschreiben tatsächlich so verstanden hat, daß eine gutachtliche Äußerung verlangt werde. Der Anspruch hängt aber nicht davon ab, wie der Kläger den Auftrag verstanden hat, sondern wie er ihn verstehen durfte. Das hat das LSG auch zutreffend ausgeführt. Es ist dabei von dem Rechtsgrundsatz ausgegangen, daß behördliche Verlautbarungen wie die Auftragschreiben des Beklagten grundsätzlich immer so zu verstehen sind, wie dies verständige Empfänger unter Würdigung aller ihnen bekannten Umstände aufzufassen pflegen - hier Ärzte, die sich in Schwerbehindertensachen über ihre Patienten äußern sollen - (BSG SozR 1925 § 5 Nr 1 mwN).

Die Anwendung dieses Rechtsgrundsatzes auf die Auftragschreiben ergibt aber - im Unterschied zu der Auffassung des LSG -, daß der Kläger diese Schreiben nicht als Aufträge zu gutachtlicher Äußerung verstehen durfte. Entgegen der Meinung des LSG konnte aus den einleitenden Sätzen mit der Frage nach der Verschlimmerung von Leiden und dem Hinzutreten neuer Leiden nicht hergeleitet werden, daß ein verständiger Empfänger den Eindruck gewinnen konnte, es werde eine vergleichende Wertung des Gesundheitszustandes des Patienten mit einer Schlußfolgerung über die Erheblichkeit der Änderungen verlangt. Eine solche Auslegung steht schon im Widerspruch zu dem in dem Auftragschreiben enthaltenen, vom LSG wiedergegebenen Satz, daß der Bericht nur Angaben enthalten soll, die aus den Unterlagen bereits ersichtlich sind, und eine zusätzliche Befundauswertung oder eine nochmalige Untersuchung des Patienten nicht Gegenstand des Auskunftsersuchens sei. Außerdem findet sich auf der Rückseite des Vordrucks unter der Rubrik "neue Diagnosen" der Klammerzusatz "soweit von Ihnen in Ihren Unterlagen festgelegt" sowie unter der Rubrik "weitere Hinweise" der Klammerzusatz "soweit bei Ihnen aktenkundig". Die Auslegung, daß trotz dieses unmißverständlichen Wortlauts gleichwohl eine zusätzliche Befundauswertung verlangt worden ist, hat das LSG - entgegen der Auffassung des Beklagten verfahrensrechtlich ausreichend - damit begründet, daß der Auftrag von der Sache her unabdingbar mit einer zusätzlichen Befundauswertung verbunden ist. Es hat dabei nicht verkannt, daß zur Beantwortung der Frage nach einer Verschlechterung der gesundheitlichen Verhältnisse über die Mitteilung der festgehaltenen Befunde hinaus eine zusätzliche Befundauswertung nicht erforderlich ist, jedoch gemeint, es sei die Aufgabe des Sachverständigen im Schwerbehindertenverfahren, sich auch zur Erheblichkeit eingetretener Änderungen zu äußern. Das ist indessen nicht der Fall. Erheblichkeit kann hier nicht etwa bedeuten, ob therapeutische Konsequenzen zu ziehen sind, sondern allein, ob der Grad der Behinderung davon abhängt oder die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen vorliegen. Das ist aber eine Frage nach der Rechtserheblichkeit der Änderungen. Die Rechtserheblichkeit eingetretener Änderungen ist allein von der Verwaltung festzustellen, die sich allerdings wegen der medizinischen Fragen, die auf tatsächlichem Gebiet liegen, sachverständiger Hilfe bedienen muß. Diese sachverständige Hilfe leistet in erster Linie der versorgungsärztliche Dienst. Die behandelnden Ärzte sollen sich auf die Mitteilung solcher Angaben beschränken, die sie anhand ihrer vorhandenen Unterlagen ohne weiteres machen können. Dem steht nicht entgegen, daß es Sinn solcher Angaben auch ist, eigene Untersuchungen durch den versorgungsärztlichen Dienst zu erübrigen. Der Hinweis darauf in den Auftragschreiben soll den Arzt lediglich veranlassen, den Befundbericht sorgfältig zu erstellen. Mit sorgfältig gemachten Befundangaben, die vom Versorgungsarzt sachverständig ausgewertet werden, wird in den meisten Fällen schon eine abschließende Entscheidung ermöglicht. Im Regelfall bedarf es keiner sachverständigen Unterstützung des versorgungsärztlichen Dienstes bei der Auswertung der Befunde. Soweit es im Hinblick auf besondere Fachfragen dennoch erforderlich wird, kann der versorgungsärztliche Dienst anregen, besondere Gutachten in Auftrag zu geben. Es besteht keine Veranlassung, den behandelnden Arzt vorab mit einer gutachtlichen Stellungnahme zu beauftragen.

Allein dadurch, daß sich das formularmäßige Auftragschreiben nur auf bereits aktenkundige Tatsachen aus vorliegenden Unterlagen bezieht, wird somit eindeutig erklärt, daß hier ein Sachverständiger als Zeuge - das entspricht der Nr 3 - und nicht auch als Gutachter - das entspricht der Nr 4 der Anlage zu § 5 ZSEG - in Anspruch genommen wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

AusR 1990, 13

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