Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 23.11.1993) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. November 1993 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob bei der Berechnung der Übergangsleistung nach § 3 Abs 2 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 20. Juni 1968 (BGBl I S 721 idF der Verordnung vom 8. Dezember 1976, BGBl I S 3329) ein fiktiver höherer Verdienst aufgrund eines zu erwartenden beruflichen Aufstieges zugrunde zu legen ist.
Der Kläger war – auch nach seiner am 30. Juni 1987 bestandenen Meisterprüfung – als Bäckergeselle tätig. Er leidet an einer beruflich bedingten obstruktiven Atemwegserkrankung. Nachdem die Beklagte mit Bescheid vom 9. September 1987 für den Fall der Aufgabe der Tätigkeit ua einen angemessenen Ausgleich des Minderverdienstes für längstens fünf Jahre zugesagt hatte, kündigte der Kläger sein Arbeitsverhältnis zum 16. November 1987. Mit Bescheid vom 3. Februar 1988 bewilligte ihm die Beklagte eine Übergangsleistung gemäß § 3 BKVO in Höhe des Ausgleiches seines Minderverdienstes oder sonstiger wirtschaftlicher Nachteile für das erste Jahr, in Höhe von 4/5 der wirtschaftlichen Nachteile für das zweite Jahr, 3/5 für das dritte Jahr, 2/5 für das zweite Jahr und 1/5 für das letzte Jahr nach Unterlassen der die Berufskrankheit (BK) verursachenden Tätigkeit.
Mit Bescheid vom 21. Februar 1989 teilte die Beklagte die von ihr für die Zeit vom 17. November 1987 bis 31. Oktober 1988 unter Zugrundelegung eines entgangenen tariflichen Gesellenlohnes abzüglich bezogenen Arbeitslosen- bzw Übergangsgeldes ermittelte Höhe der Übergangsleistung mit.
Am 17. August 1989 beantragte der Kläger die Neuberechnung der Übergangsleistung unter Hinweis darauf, daß er am 1. April 1989 ohne die BK eine Stelle als betriebsleitender Bäckermeister mit einem Bruttogehalt von 3.100,00 DM, ab dem dritten Monat 3.800,00 DM hätte antreten können. Seinem Schreiben fügte er einen entsprechenden Arbeitsvertrag vom 20. März 1989 bei.
Mit Bescheid vom 7. Dezember 1989 teilte die Beklagte den Minderverdienst und die entsprechend dem Bescheid vom 3. Februar 1988 verminderte Höhe der Übergangsleistung für die Zeit vom 1. November 1988 bis 31. Oktober 1989 mit. Der Berechnung des Minderverdienstes lag der tariflich erhöhte Lohn eines Bäckergesellen abzüglich der im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme von der Beklagten gewährten Leistungen zugrunde, nicht aber das im vorgelegten Arbeitsvertrag ausgewiesene Gehalt eines Bäckermeisters, da der Kläger bereits am 31. Oktober 1987 erklärt habe, nicht mehr im schädigenden Beruf zu arbeiten. Der Arbeitsvertrag habe somit nicht erfüllt werden können. Auch für die Folgejahre bis zum Ende des Fünfjahreszeitraumes wurde der Minderverdienst des Klägers und entsprechend die Höhe der Übergangsleistung in gleicher Weise ermittelt (Bescheid vom 20. November 1990 für die Zeit vom 1. November 1989 bis 31. Oktober 1990, Bescheid vom 13. November 1991 für die Zeit vom 1. November 1990 bis 31. Oktober 1991 und Bescheid vom 16. November 1992 für die Zeit vom 1. November 1991 bis 31. Oktober 1992).
Die getrennt erhobenen Klagen gegen die Bescheide vom 7. Dezember 1989 und 20. November 1990 sowie die Klage gegen diese Bescheide in Gestalt des während der Klagverfahren erlassenen, die Widersprüche zurückweisenden Widerspruchsbescheides vom 29. April 1992 hat das Sozialgericht verbunden. Mit Urteil vom 30. Juni 1993 hat es die Klage gegen diese Bescheide und gegen die – nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einbezogenen – Bescheide vom 13. November 1991 und 16. November 1992 abgewiesen. Zwar sei in § 3 BKVO die Frage nach dem Ausgleich eines hypothetischen Minderverdienstes nicht ausdrücklich geregelt. Wegen der entsprechenden Bezugnahme auf den Jahresarbeitsverdienst in dieser Bestimmung könne aber § 571 und § 573 Reichsversicherungsordnung (RVO) herangezogen werden. Eine fiktive berufliche Position sei danach nur zu berücksichtigen, wenn die Schul- oder Berufsausbildung im Zeitpunkt des Arbeitsunfalles noch nicht abgeschlossen sei. Ein derartiger Fall liege nicht vor.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung mit Urteil vom 23. November 1993 zurückgewiesen. Die beruflichen Aufstiegschancen des Klägers aufgrund der bestandenen Meisterprüfung könnten bei der Feststellung des Minderverdienstes nicht berücksichtigt werden. Die Übergangsleistung solle den Versicherten zur Aufgabe der ihn gefährdenden Tätigkeit veranlassen und das übergangslose Absinken auf die durch die BK bedingte Stellung eines Erwerbslosen oder eines Versicherten mit geringerem Verdienst abmildern. Es könne nur der Minderverdienst gegenüber dem zuletzt vor Auftreten der BK und Arbeitsplatzaufgabe tatsächlich erzielten Arbeitsverdienst entschädigt werden. Die Übergangsleistung solle keinen Ausgleich für die verbleibende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und die daraus folgenden Nachteile wie entgangene Erwerbschancen als Bäckermeister oder besser entlohnte Anstellungen als Bäckergeselle gewährleisten.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 3 Abs 2 BKVO. Diese Vorschrift enthalte lediglich die Begrenzung, daß bei einer monatlich wiederkehrenden Zahlung die Höchstdauer fünf Jahre betrage und letztlich nur bis zur Höhe der Vollrente zu gewähren sei, nicht dagegen einen Ausschluß der Berücksichtigung von konkret nachgewiesenen Aufstiegs- bzw entsprechenden Verdienstchancen. Bei der Ermittlung des auszugleichenden Minderverdienstes sei zu berücksichtigen, daß er bereits vor der Anerkennung der BK durch Bescheid vom 9. September 1987 die Meisterprüfung im Bäckerhandwerk abgelegt habe, also Bäckermeister gewesen sei. Mehrmals zuvor habe er auch verschiedene Bewerbungen an Betriebe wegen einer Anstellung als Meister gerichtet. Er habe sich also vor Anerkennung der BK eine Position geschaffen, die ihm ein höheres als das bislang erzielte Einkommen gesichert habe. Eine Konkretisierung des höheren Verdienstes liege damit vor, es handele sich nicht nur um eine fiktive künftige Erwerbschance. Auch der von den Vorinstanzen gesehene Sinn und Zweck der Übergangsleistung, in eine geringer entlohnte Erwerbstätigkeit überzuleiten sowie den Betroffenen zur beruflichen Neuorientierung anzuregen, stünden seinem Anspruch nicht entgegen. Die Bemessung der Übergangsleistung nach dem höheren Verdienst eines Bäckermeisters hätte seine Motivation zur neuen Berufsfindung nicht gemindert, sondern erhöht.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. November 1993 sowie das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 30. Juni 1993 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 7. Dezember 1989 und 20. November 1990 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 1992 sowie unter Aufhebung der Bescheide vom 13. November 1991 und 16. November 1992 zu verurteilen, bei der Gewährung der Übergangsleistung für die Zeit vom 1. November 1988 bis 31. Oktober 1992 von einem Minderverdienst im Vergleich zum Tarifgehalt eines Bäckermeisters auszugehen und darüber einen neuen Bescheid zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Ausgangspunkt für die Erfüllung des Normzweckes, dem Versicherten den Übergang in neue Lebens- und Verdienstverhältnisse zu erleichtern, könne nur der am alten Arbeitsplatz erzielbare Nettoverdienst sein. Eine gesicherte und nun wegfallende Aufstiegschance als betriebsleitender Bäckermeister habe der Kläger nicht innegehabt. Eine erfolgreich absolvierte Meisterprüfung sei keine Aufstiegsgarantie. Im Zeitpunkt der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit sei eine Anstellung als Bäckermeister nicht erkennbar und schon gar nicht gesichert gewesen. Dem Zweck der Übergangsleistung, den Versicherten zur beruflichen Neuorientierung zu veranlassen, würde es widersprechen, wenn man durch Berücksichtigung einer viel später offerierten Arbeitsstelle im alten Beruf Anreize schaffen würde, sich im alten Beruf nach besseren Angeboten umzuschauen, die dann doch nicht in Anspruch genommen werden könnten, statt die Suche nach echten Alternativen in den Mittelpunkt zu stellen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine höhere, unter Zugrundelegung des Gehalts eines Bäckermeisters errechnete Übergangsleistung.
Streitgegenstand des Klageverfahrens sind die Bescheide vom 7. Dezember 1989 und 20. November 1990 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 1992 sowie die Bescheide vom 13. November 1991 und 16. November 1992. Die Einbeziehung der zuletzt genannten Bescheide beruht auf einer – jedenfalls aus Gründen des Vertrauensschutzes (vgl BSG Urteil vom 24. August 1994, 6 RKa 8/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen –) erfolgenden – entsprechenden Anwendung des § 96 SGG in derartigen Fällen zeitabschnittsweise erlassener und mit identischer Begründung angefochtener Verwaltungsakte (vgl BSGE 18, 93, 94, insoweit in BSG SozR Nr 16 zu § 96 SGG nicht abgedruckt; BSG SozR 1500 § 96 Nr 24).
Nach § 3 Abs 2 Satz 1 BKVO hat der Träger der Unfallversicherung einem Versicherten zum Ausgleich der durch Aufgabe einer gefährdenden Tätigkeit verursachten Minderung des Verdienstes oder sonstiger wirtschaftlicher Nachteile eine Übergangsleistung zu gewähren. Als Übergangsleistung wird ein einmaliger Betrag bis zur Höhe der Jahresvollrente oder eine monatlich wiederkehrende Zahlung bis zur Höhe der Vollrente, längstens für die Dauer von fünf Jahren, gewährt (§ 3 Abs 2 Satz 2 BKVO).
Angesichts des bindend gewordenen (§ 77 SGG) Bescheides vom 3. Februar 1988 über die Gewährung der Übergangsleistung in degressiv nach Bruchteilen der wirtschaftlichen Nachteile gestaffelter Höhe ist nur noch über das Ausmaß dieser wirtschaftlichen Nachteile im streitigen Zeitraum vom 1. November 1988 bis 31. Oktober 1992 zu befinden.
Die Ermittlung der ausgleichspflichtigen wirtschaftlichen Nachteile unterliegt, anders als die im Ermessen der Beklagten stehende Entscheidung über Art, Dauer und Höhe der Leistung (vgl BSG SozR 5677 § 3 Nr 3), der vollen gerichtlichen Nachprüfung (BSG SozR Nr 3 zu § 3 der 7. BKVO).
Entgegen der vom Kläger vertretenen Auffassung kann ein im Zeitpunkt der Tätigkeitseinstellung noch nicht erfolgter beruflicher Aufstieg im Sinne einer höherqualifizierten Tätigkeit und ein damit verbundener höherer Verdienst jedenfalls dann nicht berücksichtigt werden, wenn sich dieser Aufstieg erst durch Ereignisse nach Tätigkeitseinstellung – hier: Angebot einer Arbeitsstelle als Bäckermeister 16 Monate nach Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit – konkretisieren kann. Allein die mit dem Ablegen der Meisterprüfung erworbene höhere berufliche Qualifikation hatte noch nicht zu einem derartigen Aufstieg und entsprechend höherem Verdienst geführt. Vielmehr war der Kläger bis zur Tätigkeitseinstellung weiterhin als Geselle beschäftigt. Auf die Ausführungen von Lauterbach (Unfallversicherung, 3. Aufl, § 551 Anm 32 S 302/31) über die dort den wirtschaftlichen Nachteilen zugeordneten gesicherten und nun weggefallenen Aufstiegschancen kann sich der Kläger somit nicht berufen. Ob und unter welchen Voraussetzungen allgemein zu den ausgleichspflichtigen mutmaßlichen künftigen Nettoverdiensten (BSG SozR 5677 § 3 Nr 3) neben den normalen, regelmäßigen Tariferhöhungen auch ein künftiger Mehrverdienst aufgrund eines beruflichen Aufstieges (zB im Zeitpunkt der Tätigkeitseinstellung schon vereinbarte oder übliche Höhergruppierung auf demselben Arbeitsplatz; Arbeitsvertrag mit höherer Entlohnung bei einem anderen Arbeitgeber) gehört, läßt der Senat offen.
Bezugspunkt für die Ermittlung einer Minderung des Verdienstes und sonstiger wirtschaftlicher Nachteile ist nicht etwa irgendein nachweisbar mögliches Beschäftigungsverhältnis aus dem Bereich der gefährdenden Tätigkeit mit einem entsprechenden Verdienst, sondern jenes Beschäftigungsverhältnis, in dem der Versicherte vor Aufgabe der Tätigkeit gestanden hat mit den in diesem Beschäftigungsverhältnis erzielten bzw erzielbaren Einkünften und wirtschaftlichen Vorteilen. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorschrift, folgt aber – vom LSG zutreffend erkannt – aus dem Zweck der Übergangsleistung, den bei einem Arbeitsplatzwechsel auftretenden etwaigen Unterschied zwischen den Nettoverdiensten aus der bisherigen und der neuen Beschäftigung sowie die zusätzlich erforderlichen Aufwendungen für den neuen Arbeitsplatz auszugleichen (amtliche Begründung zu § 3 der 7. BKVO, BR-Drucks 128/68 S 3) und damit ein übergangsloses Absinken des Versicherten im wirtschaftlichen Status zu vermeiden (BSGE 50, 40, 42). Sie ist darauf angelegt, innerhalb eines Zeitraumes bis zu fünf Jahren von der wirtschaftlichen Situation vor Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit in die unter Umständen ungünstigere wirtschaftliche Situation danach überzuleiten (BSGE aaO). Schon aus diesem Grunde kann ein möglicher Mehrverdienst des Klägers aufgrund eines künftigen beruflichen Aufstieges nicht berücksichtigt werden.
Hinzu kommt, daß die schadensausgleichende Wirkung der Übergangsleistung nicht der Entschädigung für eine BK und damit verbundener wirtschaftlicher Nachteile im Erwerbsleben dient – dies ist Aufgabe der unfallversicherungsrechtlichen Rentenleistungen –, daß es sich vielmehr bei dem entschädigenden Charakter des § 3 Abs 2 BKVO um eine Regelung der Prävention und Krankheitsvorsorge handelt (BSG Urteil vom 5. August 1993 – 2 RU 46/92 – in HV-INFO 1994, 496; BSGE 19, 157, 158), um den Versicherten zur Aufgabe der ihn gefährdenden Tätigkeit zu veranlassen (BSGE 50, 40, 42; 40, 146, 150). Anders als das bürgerliche Schadensersatzrecht (vgl §§ 249 Satz 1, 252 Bürgerliches Gesetzbuch) bezweckt § 3 Abs 2 BKVO demnach keinen vollständigen Schadensausgleich.
Bei der Ermittlung der wirtschaftlichen Nachteile ist somit vom Unterschied zwischen dem mutmaßlich erzielbaren Nettoverdienst aus der bisherigen und jenem der neuen Beschäftigung (BSG SozR 5677 § 3 Nr 3) sowie den sonstigen im Zusammenhang mit der jeweiligen Beschäftigung stehenden wirtschaftlichen Vorteilen auszugehen. Wurde eine neue Beschäftigung nicht aufgenommen, müssen die aus Anlaß der Aufgabe der bisherigen Tätigkeit gewährten Leistungen und erworbenen Vorteile berücksichtigt werden (SozR 3-5670 § 3 Nr 1). Schließlich sind eventuelle, mit der jeweiligen Beschäftigung verbundene, wirtschaftliche Nachteile in den Vergleich einzubeziehen.
Es ist deshalb nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte als entgangenen Verdienst den entsprechend dem jeweiligen Beurteilungszeitraum tariflich erhöhten Lohn des Klägers aus seinem aufgegebenen Beschäftigungsverhältnis zugrunde legt. Hinsichtlich der Anrechnung der von der Beklagten im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme gewährten Leistungen besteht zwischen den Beteiligten weder dem Grunde noch der Höhe nach Streit.
Die Revision war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen