Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 26.07.1994) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Juli 1994 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Wegeunfall der Klägerin am 5. Oktober 1988 als Arbeitsunfall zu entschädigen ist.
Die Klägerin war seit dem Wintersemester 1987/88 an der Technischen Universität München (TU) im Studiengang Mathematik immatrikuliert. Am 5. Oktober 1988 erlitt sie einen Auffahrunfall, als sie in einem Pkw auf der Bundesstraße 12 am Ortsende von Anzing in die von München wegführende Richtung fuhr. Sie erlitt dabei ua eine Schädelprellung, mußte mehrere Wochen stationär behandelt werden und war unfallbedingt bis zum 18. Dezember 1988 arbeitsunfähig krank.
Dem Beklagten erklärte die Klägerin, sie habe sich am Unfalltag anderthalb bis zwei Stunden in der Universitätsbibliothek aufgehalten, sodann an der Ausgabestelle des Mathematischen Instituts der Universität einen Übungsschein über die Übungen zur Vorlesung „Lineare Algebra und analytische Geometrie II” abgeholt und sei anschließend bis zur Unfallstelle auf direktem Weg in die Richtung ihrer und ihrer Eltern Wohnung in B. … gefahren.
Der Bekagte lehnte eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil nicht erwiesen sei, daß die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten habe. Eine Bestätigung für ihre Behauptungen über ihren Aufenthalt und ihre Tätigkeit in der TU habe nicht ermittelt werden können (Bescheid vom 28. Mai 1990, Widerspruchsbescheid vom 9. August 1990).
Das Sozialgericht (SG) München hat nach Anhörung der Klägerin die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. Februar 1993). Für die Anwesenheit der Klägerin in der TU und für die Ausübung einer studienbezogenen Tätigkeit dort vor Antritt der unfallbringenden Fahrt lägen kein objektiver Nachweis und auch keine sonstigen beweisenden Umstände vor. Dagegen hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) nach Anhörung der Klägerin, Vernehmung ihres Ehemannes als Zeugen und Einholung einer ergänzenden Auskunft des Mathematischen Instituts der TU den Beklagten verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 5. Oktober 1988 als Arbeitsunfall zu entschädigen (Urteil vom 26. Juli 1994). Aus den glaubhaften Angaben des Ehemannes der Klägerin ergebe sich, daß die Klägerin am Unfalltag die TU habe aufsuchen wollen. Die damit von Anfang an übereinstimmenden Angaben der Klägerin verbunden mit dem Umstand, daß das Studienbuch im Unfallwagen gefunden worden sei, bildeten einen gewichtigen Anhaltspunkt dafür, daß die Klägerin am Unfalltag den Übungsschein abgeholt und ihn in das Studienbuch gelegt habe. Das Gericht sei überzeugt, daß die Klägerin auf dem Rückweg von der TU verunglückt sei. Dabei habe sie unter Versicherungsschutz gestanden, weil sie zuvor zu Studienzwecken die Universitätsbibliothek aufgesucht und den Übungsschein abgeholt habe. Bereits der studienbezogene Aufenthalt in der Universitätsbibliothek sei eine Tätigkeit im Organisationsbereich der TU gewesen, die versichert sei, gleichgültig, ob sie in Beziehung zu einem konkreten Studienabschnitt gestanden habe, was sich nicht im einzelnen mehr habe aufklären lassen, oder nur allgemein im Zusammenhang mit dem Studieninhalt. Das könne letztlich auch dahingestellt bleiben, denn jedenfalls habe die Klägerin eine versicherte Tätigkeit verrichtet, als sie ihren Übungsschein von der Abholstelle des Mathematischen Instituts abgeholt habe.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Beklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Beweiswürdigung und Tatsachenfeststellung des LSG seien fehlerhaft (§§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung sei der erforderliche Vollbeweis weder für das Aufsuchen der Universitätsbibliothek noch für das Abholen des Übungsscheins erbracht worden. Dafür reiche eine bloße Wahrscheinlichkeit nicht aus. Es stehe fest, daß die Klägerin kein Buch aus der Bibliothek mitgenommen habe, ihre Anwesenheit dort sei auch nicht auf andere Weise belegt, und gleiches gelte für die Frage, wann die Klägerin den Übungsschein ausgehändigt bekommen habe. Die Aussage ihres Ehemannes, sie habe ihn am Abend vor dem Unfalltag gebeten, ihr seinen Pkw zu leihen, weil sie morgen etwas aus der Uni holen wolle, genüge jedenfalls nicht.
Versicherungsrechtlich genüge es auch nicht, daß der Aufenthalt in der Bibliothek allgemein einen Bezug zum Studieninhalt habe, sondern es sei erforderlich festzustellen, welches Buch zu welchem Zweck sich die Versicherte im Einzelfall besorgen wollte. Das Abholen des Übungsscheines könne ebenfalls nicht als studienbezogene Tätigkeit gewertet werden. Denn es fehle eine von der TU vorgegebene Notwendigkeit zur Abholung des Übungsscheins gerade am Unfalltag in der vorlesungsfreien Zeit. Deshalb sei diese Maßnahme auch nicht in den organisatorischen Verantwortungsbereich der TU gefallen. Das LSG habe verkannt, daß das Abholen des Übungsscheines in erster Linie – wenn nicht ausschließlich – im Interesse der Verletzten selbst gelegen habe.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das angefochtene Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie vertritt die Ansicht, das LSG habe weder formelles noch materielles Recht verletzt. Seine Entscheidungsgründe seien zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist unbegründet.
Zu Recht hat das LSG dem Grunde nach entschieden, daß der Beklagte den Unfall der Klägerin am 5. Oktober 1988 als Arbeitsunfall zu entschädigen hat. Die Klägerin stand auf der Heimfahrt von der TU nach B. … unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Nach § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) gilt als Arbeitsunfall ua ein Unfall auf einem mit einer der in § 539 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Auf einem solchen Weg verunglückte die Klägerin; denn sie hatte vor Antritt der Rückfahrt nach ihrem Heimatort B. … eine Tätigkeit als Studierende während der Aus- und Fortbildung an einer Hochschule verrichtet (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst d RVO).
Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin auf dem Rückweg von der TU verunglückte. Sie hatte an diesem Unfalltag die TU mit der Absicht aufgesucht, in der Universitätsbibliothek ein Buch zu Studienzwecken zu besorgen. Dort ist sie auch gewesen. Allerdings kann vor allem wegen des Erinnerungsverlusts der Klägerin nach dem Unfall nicht mehr aufgeklärt werden, ob sie sich ein bestimmtes Buch besorgen wollte und ob dieses Buch der Vorbereitung eines bestimmten naheliegenden Studienabschnitts dienen sollte oder nur allgemein der Vertiefung des Studiums. Sie verließ die Bibliothek wieder, ohne ein Buch mitzunehmen. Außerdem holte die Klägerin von der Ausgabestelle des Mathematischen Instituts der TU ihren Übungsschein über die Übungen zur Vorlesung „Lineare Algebra und analytische Geometrie II” ab.
Diese tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil sind für den Senat bindend, weil der Beklagte dagegen keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben hat (§ 163 SGG). Die Feststellungen des LSG sind das Ergebnis seiner Beweiswürdigung. Gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Demgegenüber hat der Beklagte nicht schlüssig dargelegt, daß das LSG die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung verletzt oder überschritten hat.
Vor allem hat das LSG einen Sachverhalt festgestellt, der nach seiner Überzeugung erwiesen und nicht nur wahrscheinlich ist. Es hat entsprechend § 128 Abs 1 Satz 2 SGG in den Entscheidungsgründen ausgeführt, daß es seine Überzeugung in erster Linie auf die übereinstimmenden Angaben des Ehemannes der Klägerin und diejenigen der Klägerin selbst stütze, die es ihrem gesamten Inhalt nach für glaubhaft halte. Damit stimme auch das übrige Ergebnis des Verfahrens insgesamt überein. Die Tatsache allein, daß der Beklagte seinerseits das Gesamtergebnis des Verfahrens noch nicht für ausreichend hält, um von den festgestellten Tatsachen ebenso wie das LSG überzeugt zu sein, erklärt lediglich eine andere subjektive Meinung als die des Gerichts, legt aber nicht dar, daß das Gericht die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung verletzt hat. Das gleiche gilt für die Feststellung des LSG, daß die Klägerin den Übungsschein bei der bezeichneten Gelegenheit tatsächlich abgeholt hat.
Ebenso wie der Versicherungsschutz während eines Besuchs allgemeinbildender Schulen (§ 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO) ist auch der Versicherungsschutz während der Aus- und Fortbildung an Hochschulen zur Abgrenzung vom eigenwirtschaftlichen Bereich der Studierenden auf Tätigkeiten innerhalb des organisatorischen Verantwortungsbereichs der Hochschule beschränkt. Hier ist der Schutzbereich enger als der Versicherungsschutz in der gewerblichen Unfallversicherung (s BSGE 73, 5, 6 mwN). Allerdings sind bei der Abgrenzung des organisatorischen Veranwortungsbereichs der Hochschule die gegenüber dem Bereich der allgemeinbildenden Schulen besonderen Verhältnisse einer Aus- und Fortbildung an Hochschulen zu beachten. Nicht nur der unmittelbare Besuch von Vorlesungsveranstaltungen an der Hochschule während der Vorlesungszeit soll versichert sein, da sich das Studium an der Hochschule hierin nicht erschöpft und oftmals – je nach der persönlichen Ausrichtung des Studiums des einzelnen Studenten – die Teilnahme an solchen Veranstaltungen nicht einmal den wesentlichen Teil des Aufenthalts an der Hochschule ausmacht. Studierende sind deshalb in der Regel auch versichert, wenn sie anstelle von Unterrichtsveranstaltungen oder daneben andere Hochschuleinrichtungen wie zB Seminare, Institute und Universitätsbibliotheken zu Studienzwecken aufsuchen (BSG aaO mwN; s auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Auflage, S 483x; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Auflage, § 539 Anm 87 Buchst b).
Von diesen Grundsätzen ausgehend hat die Klägerin vor Antritt der unfallbringenden Rückfahrt nach Hause an der TU eine versicherte Tätigkeit verrichtet. Das betrifft bereits den Aufenthalt in der Universitätsbibliothek, wie das LSG zutreffend erkannt hat. Es steht nicht nur im inneren Zusammenhang mit der Aus-und Fortbildung an Hochschulen, wenn ein Student eine Bibliothek aufsucht, um ein bestimmtes Buch zu entleihen, das mit der Vorbereitung zu einem bestimmten, naheliegenden Studienabschnitt in Beziehung steht. Vielmehr ist dieser anspruchsbegründende innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit auch gegeben, wenn der Student sich nachweislich dort aufhält, um zu erforschen, ob ein geeignetes Buch für seine Studienzwecke vorhanden ist. Auch wenn die entsprechenden Nachforschungen der Klägerin erfolglos gewesen sind, war sie bei ihrem Studienzwecke verfolgenden Aufenthalt in der Bibliothek versichert. Ebenso verrichtete die Klägerin eine versicherte Tätigkeit, als sie ihren Übungsschein an der Ausgabestelle des Mathematischen Instituts der TU abholte. Dazu reicht es jedenfalls aus, daß es – wie das LSG festgestellt hat – nach der Organisation der TU erforderlich ist, den Übungsschein an der Ausgabestelle abzuholen, um ihn bei der studienplanmäßigen Anmeldung zum Vordiplom vorzulegen. Wann die Studentin den Übungsschein abholen will, ist in ihre freie Entscheidung gestellt, ohne daß es ihrem gesetzlichen Unfallversicherungsschutz Abbruch tun könnte. Soweit der Beklagte darauf hinweist, daß die Studentin auch ein eigenes Interesse daran hat, einen solchen Übungsschein abzuholen, ist dieses Interesse des Studierenden am Ergebnis der Aus- und Fortbildung typisch studienbezogen. Ebenso wie die Ausstellung und Ausgabe von Übungsscheinen fällt auch die Abholung eines Übungsscheines in den unfallversicherungsrechtlich erheblichen organisatorischen Verantwortungsbereich der Hochschule.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen