Leitsatz (redaktionell)
Auch das Fehlen von Zähnen ist eine Krankheit iS des RVO § 182, wenn dadurch die natürlichen Funktionen des Kauens, Beißens und Sprechens nicht unerheblich gestört werden und diese Funktionsstörungen durch eine zahnprothetische Versorgung behoben werden können.
Die KK sind nach der heute noch gültigen Vorschrift des RAM- Erl 1943-11-02 Abschn 1 Nr 4 berechtigt, sich bei Zahnersatz auf die Gewährung von Zuschüssen zu beschränken.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1967-12-21; RAMErl 1943-11-02 Abschn. 1 Nr. 4
Tenor
Die Sprungrevision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 14. Januar 1972 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Krankenkasse dem bei ihr als Rentner versicherten Kläger die Kosten für die Reparatur einer herausnehmbaren Oberkieferprothese in voller Höhe zu erstatten hat oder ob sie ihm nur den dafür festgesetzten Zuschuß zu gewähren braucht.
Der Kläger ließ im Juni 1970 seine gesprungene Prothese von einem Zahnarzt reparieren. Dieser berechnete dafür 21,80 DM zahnärztliches Honorar und 17 DM Laborkosten, zusammen 38,80 DM. Davon übernahm die Beklagte - entsprechend den vom Kassenvorstand erlassenen Richtlinien über die Gewährung von Zuschüssen zu den Kosten für Zahnersatz - die Hälfte in Höhe von 19,40 DM. Eine volle Kostenerstattung lehnte sie unter Berufung auf den Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 2. November 1943 (Abschnitt I 4, AN 1943, II 485) ab (Bescheid vom 10. Juli 1970 und Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1970).
Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen, weil der mit dem Fehlen einer gebrauchsfähigen Prothese verbundene Zustand der Zahnlosigkeit keine Krankheit im Sinne des § 182 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei, der Kläger deshalb keinen Anspruch auf Krankenpflege - als eine von der Beklagten auf deren Kosten zu gewährende Sachleistung - gehabt habe (Urteil vom 14. Januar 1972, in dem die Berufung zugelassen worden ist).
Der Kläger hat mit Einwilligung der Beklagten Sprungrevision eingelegt. Er meint, bei ihm habe wegen zeitweiliger Zahnlosigkeit eine Krankheit vorgelegen, die auch behandlungsbedürftig gewesen sei; die Beklagte hätte ihm deshalb Krankenpflege gewähren müssen. Er beantragt, das angefochtene Urteil und die Bescheide der Beklagten aufzuheben und sie zu verurteilen, ihm weitere 19,40 DM zu erstatten.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend und beantragt die Zurückweisung der Sprungrevision.
II
Die Sprungrevision des Klägers, gegen deren Zulässigkeit keine Bedenken bestehen (§§ 144 Abs. 1 Nr. 1, 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ist unbegründet. Dem angefochtenen Urteil ist im Ergebnis beizutreten. Nicht bedenkenfrei sind allerdings die Ausführungen des SG insoweit, als es das Vorliegen einer Krankheit beim Kläger verneint hat. Das Fehlen von Zähnen braucht zwar - anders als nach dem weiter gespannten Krankheitsbegriff des Zahnheilkundegesetzes vom 31. März 1952 (vgl. dessen § 1 Abs. 2 Satz 2 und dazu BSG 11, 102, 111 f) - nicht in jedem Fall auch eine Krankheit im Sinne des Versicherungsrechts zu sein. Andererseits liegt eine solche entgegen einer früher auch vom Reichsversicherungsamt (RVA) vertretenen Auffassung, das in der "bloßen" Zahnlosigkeit noch keine Krankheit gesehen hatte (GE 4067, AN 1931 IV 219, 220), nicht erst dann vor, wenn es schon zu bestimmten Folgeerscheinungen gekommen ist. Es genügt vielmehr - ähnlich wie bei Zahnstellungsanomalien (vgl. Urteile des Senats vom 20. Oktober 1972 und 23. Februar 1973, SozR Nr. 52 und Nr. 56 zu § 182 RVO)-, daß durch das Fehlen von Zähnen die natürlichen Körperfunktionen des Kauens, Beißens oder Sprechens nicht unerheblich gestört sind und begründete Aussicht besteht, daß die Funktionsstörung durch eine zahnprothetische Versorgung behoben, gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt wird. Diese Voraussetzungen werden in der Regel nicht nur bei völliger Zahnlosigkeit vorliegen, sondern können auch schon beim Fehlen einiger Zähne, u. U. bereits eines einzigen Zahnes erfüllt sein, ohne daß dann die Notwendigkeit einer Heilbehandlung noch besonders, etwa mit dem Hinzutreten einer Folgekrankheit, begründet zu werden braucht (Urteil des Senats vom 12. Dezember 1972, SozR Nr. 55 zu § 182 RVO).
Auch wenn hiernach der Kläger während der zeitweiligen Gebrauchsunfähigkeit seiner Oberkieferprothese wegen der dadurch bedingten Störungen beim Kauen, Beißen und Sprechen krank im Sinne des § 182 RVO war, hat er dennoch keinen Anspruch auf volle Erstattung der streitigen Reparaturkosten. Wie der Senat in dem zuletztgenannten Urteil näher ausgeführt hat, schuldet die Krankenkasse ihren Mitgliedern nach noch geltendem Recht die Gewährung von Zahnersatz nicht als eine - von ihr auf eigene Kosten zu erbringende - Sachleistung. Der Erlaß des ehemaligen Reichsarbeitsministers vom 2. November 1943 betr. Verbesserungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (sog. Verbesserungserlaß AN 1943, II 485), der mit gesetzesgleicher Wirkung ergangen und weiterhin gültig ist, ermächtigt die Krankenkasse vielmehr, "zu den Kosten für Zahnersatz, Zahnkronen und Stiftzähnen Zuschüsse zu gewähren" (Abschnitt I 4: Leistungen für Zahnersatz, Zahnkronen und Stiftzähne zu §§ 182, 187 Nrn. 3 und 4, § 193 RVO). Aufgrund dieser, etwa entgegenstehendes Gesetzesrecht verdrängenden Regelung ist die Versorgung mit Zahnersatz - für dessen Wiederherstellung bei Reparaturbedürftigkeit gilt das gleiche - auch heute noch keine Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern "eine Leistung eigener Art mit teilweiser oder völliger Kostenerstattung an den Versicherten" (BSG 25, 119). Von dieser Auffassung abzugehen, hält sich der Senat - unter voller Würdigung der dagegen im Schrifttum vorgetragenen Gründe - nicht für befugt (im Ergebnis ebenso insbesondere Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Auflage, S. 388 ff mit zahlreichen Nachweisen; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Auflage, § 182 Anm. 4 f, § 187 Anm. 5 d; Heinemann/Liebold, Kassenarztrecht, 4. Auflage, § 368 a Anm. 9 a. E.; ähnlich auch Krohn, Krankenversicherung, 1967, 284, 285 f).
Hat die Beklagte somit ihre Leistungen an den Kläger auf einen Zuschuß zu seinen Aufwendungen beschränken dürfen und - was auch vom Kläger nicht bestritten wird - entsprechend ihren Verwaltungsrichtlinien beschränkt, so ist sein weitergehender Klageanspruch unbegründet. Der Senat hat deshalb die Sprungrevision zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen