Leitsatz (amtlich)
1. Ein Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes (SGG § 109) braucht nicht ausdrücklich als "Antrag nach SGG § 109" bezeichnet zu werden. Es genügt, wenn beantragt wird, den durch Name und Anschrift hinreichend bezeichneten Arzt über ein für die Entscheidung rechtserhebliches Beweisthema gutachtlich zu hören.
2. Hat die Tatsacheninstanz weder durch besonderen Beschluß noch in den Urteilsgründen über den Antrag nach SGG § 109 entschieden, ist SGG § 109 verletzt.
Leitsatz (redaktionell)
Über den Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes ist entweder durch Beschluß oder durch Urteil zu entscheiden. Wird in der mündlichen Verhandlung ein Beschluß über die Ablehnung des Antrages verkündet, so ist dies in der Verhandlungsniederschrift zu vermerken. Fehlt ein solcher Vermerk, dann bedeutet dies, daß über den Antrag durch Beschluß nicht entschieden ist.
Normenkette
SGG § 109 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Juni 1956 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Ehefrau und der Sohn des ... 1945 in B verstorbenen Postfacharbeiters K St beantragten am 12. September 1950 Hinterbliebenenversorgung nach dem Gesetz über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihrer Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 (VOBl. f. Groß-Berlin, 1950 I S. 318) und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Der Verstorbene hatte vom 29. auf 30. April 1945 beim Löschen eines durch Feindeinwirkung entstandenen Brandes seines Wohnhauses mitgeholfen und die Nacht hindurch den Brandherd beobachtet. In den Morgenstunden ist er verschieden. St war schon seit 1941 wegen Bluthochdrucks, Herzbeschwerden und Herzfunktionsstörungen sowie wegen Coronarinsuffizienz und Angina mehrfach arbeitsunfähig gewesen. Zweimal hatte er Badekuren in Anspruch genommen.
Das Versorgungsamt lehnte den Antrag der Kläger mit Bescheid vom 2. April 1952 ab, weil das Herzleiden unabhängig von der Überanstrengung in der Brandnacht schicksalsmäßig zum Tode geführt habe. Eine Verschlimmerung sei durch die Löscharbeiten nicht eingetreten. Den Einspruch der Kläger wies das Landesversorgungsamt mit Entscheidung vom 11. Mai 1953 zurück, weil nach ärztlicher Auffassung bei einer Herzkranzgefäßverkalkung schon leichte körperliche Anstrengung oder Erregung zum Tod durch Herzinfarkt führen könne, so daß Überanstrengung beim Löschen nicht Todesursache sei. Das Sozialgericht (SG.) Berlin wies mit Urteil vom 24. Januar 1955 die Klage ab. Über die gegen das Urteil des SG. eingelegte Berufung der Kläger wurde am 22. Juni 1956 vor dem Landessozialgericht (LSG.) Berlin verhandelt. In Ergänzung ihres Sachantrags beantragten die Kläger hilfsweise, Obermed. Rat Dr. H B, W Straße, als Sachverständigen darüber zu hören, ob das zum Tode führende Leiden auf ungewohnte und übermäßige Belastungen anläßlich des Luftangriffes am 30. April 1945 zurückzuführen ist.
Das LSG. wies mit Urteil vom 22. Juni 1956 die Berufung der Kläger zurück. Es führte aus, daß Anstrengungen und Aufregungen des Löschens nicht zum Tode des schwer herzkranken Ehemannes und Vaters der Kläger geführt hätten. Dieser wäre auch ohne diese Belastungen voraussichtlich zur selben Zeit einem Herzschlag erlegen. Auf den Antrag der Kläger auf Einholung eines Gutachtens von Obermed. Rat Dr. H ging das LSG. nicht ein. Revision wurde nicht zugelassen.
Gegen das dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger am 16. Juli 1956 zugestellte Urteil legten die Kläger am 13. August 1956 Revision ein und begründeten diese innerhalb der bis 16. Oktober 1956 verlängerten Revisionsbegründungsfrist. Die Kläger haben beantragt,
das Urteil des LSG. Berlin vom 22. Juni 1956 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Revision rügt Verletzung des § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil das LSG. den Hilfsantrag, Dr. H als Gutachter nach § 109 SGG zu hören, abgelehnt habe. Das LSG. habe zu Unrecht eine Verschleppungsabsicht darin erblickt, daß der Antrag nicht schriftlich innerhalb der vierwöchigen Erklärungsfrist gestellt worden sei. Erst in der mündlichen Verhandlung hätten die Kläger erkennen können, daß ein weiteres ärztliches Gutachten erforderlich sei. Die Ablehnung des Antrags sei ein wesentlicher Verfahrensmangel, weil das in das Wissen des Sachverständigen gestellte Beweisthema rechtserheblich sei.
Der Beklagte hat beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Das Berufungsgericht habe davon überzeugt sein können, daß ein weiteres ärztliches Gutachten den Abschluß des Verfahrens unnötig verzögere. Die in freier Beweiswürdigung gewonnene Überzeugung könne mit der Revision nicht angegriffen werden.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet worden. Nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG hat die auf Verfahrensmängel gestützte Revision die Tatsachen und Beweismittel zu bezeichnen, die den Mangel ergeben. Dieser Vorschrift genügt die Revision noch mit dem Vorbringen, das LSG. habe § 109 SGG dadurch verletzt, daß es dem Antrag der Kläger auf gutachtliche Anhörung des Dr. H über den strittigen Ursachenzusammenhang nicht stattgegeben habe, der Antrag habe nicht wegen Verspätung abgelehnt werden dürfen. Ob in Wahrheit das LSG. den Antrag nach § 109 SGG nicht abgelehnt, sondern überhaupt nicht geprüft hat, macht bei der Prüfung der Revisionsformalien keinen Unterschied, weil der tatsächlich vorliegende Verfahrensverstoß in diesem Fall noch weitgehender ist als der von der Revision behauptete.
Da die Revision nicht zugelassen wurde (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), ist sie nur statthaft, wenn der gerügte Verfahrensmangel vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, BSG. 1 S. 150). Die Rüge einer Verletzung des § 109 SGG ist begründet.
Diese Bestimmung regelt einen Sonderfall der allgemeinen Aufklärungspflicht des Gerichts nach § 103 SGG: Während sonst ein Beweisantrag das Gericht nur zu Beweiserhebungen anregt - dieses hat die tatsächliche Aufklärung nach § 103 SGG von Amts wegen vorzunehmen -, wird es durch einen Antrag nach § 109 SGG genötigt, den vom Antragsteller benannten bestimmten ärztlichen Sachverständigen zu hören, sofern es nach dem sachlich-rechtlichen Standpunkt des Gerichts für die Entscheidung auf das in das Wissen des Sachverständigen gestellte Beweisthema ankommt. Die Anhörung kann von der Zahlung eines Kostenvorschusses durch den Antragsteller abhängig gemacht werden. Der Antrag kann nur unter bestimmten, im Gesetz (§ 109 Abs. 2 SGG) aufgeführten Voraussetzungen wegen Verspätung abgelehnt werden. Diese besondere Ausgestaltung machen § 109 SGG zu einem eigenen Rechtsinstitut innerhalb der Vorschriften über die Beweiserhebung.
Ein ordnungsmäßiger Antrag nach § 109 SGG liegt demnach vor, wenn der Antragsteller die gutachtliche Anhörung eines namentlich bestimmten oder mindestens bestimmbaren Arztes beantragt, wenn das Beweisthema für die Entscheidung rechtserheblich ist und wenn - von Ausnahmen abgesehen - in der Instanz noch keinem Antrag aus § 109 SGG zum gleichen Beweisthema entsprochen worden ist. Der Antrag selbst kann unmittelbar oder auch nur hilfsweise gestellt werden (SozR. SGG § 109 Bl. Da 10 Nr. 17 und Da 17 Nr. 25).
Aus der Verhandlungsniederschrift vom 22. Juni 1956 ergibt sich der Antrag der Kläger, das Beweisthema und die genaue Bezeichnung des gewünschten ärztlichen Sachverständigen mit Name, Amtstitel und Wohnung. Daß der Antrag von den Antragstellern ausdrücklich als Antrag nach § 109 SGG hätte bezeichnet werden müssen, war nicht erforderlich; es genügte, wenn er nach Form und Inhalt den in § 109 SGG genannten Erfordernissen entsprach. In den Tatsacheninstanzen der Sozialgerichtsbarkeit kann von den Parteien im allgemeinen eine genaue Bezeichnung gesetzlicher Vorschriften weder erwartet noch verlangt werden. Ebensowenig bedurfte der Antrag einer Erklärung der Antragsteller, daß sie ggf. zur Zahlung eines Kostenvorschusses bereit seien. Da es im Ermessen des Gerichts steht, die Anhörung des bestimmten Arztes von einer Vorschußleistung abhängig zu machen oder nicht, kann der Antragsteller bei Antragstellung noch nicht wissen, ob seinem Antrag mit oder ohne Kostenauflage entsprochen wird.
Wie das Bundessozialgericht (BSG.) bereits mehrfach entschieden hat - vgl. BSG. 7 S. 241 -, ist der einen Antrag nach § 109 SGG ablehnende Beschluß zu begründen. Das gleiche muß gelten, wenn der Antrag in den Urteilsgründen abgelehnt wird, weil nur dann für die höhere Instanz die Möglichkeit besteht, die Ablehnung auf ihre Zulässigkeit zu prüfen. Das LSG. hat hier den Antrag aus § 109 SGG überhaupt übergangen; es hat ihn weder geprüft, noch darüber - sei es im besonderen Beschluß, sei es im Urteil - entschieden. Weder die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 1956 noch die Urteilsgründe erwähnen eine Stellungnahme des LSG. zu dem Antrag.
Ein in der mündlichen Verhandlung verkündeter Beschluß über den Antrag aus § 109 SGG wäre als wesentlicher Vorgang in der Verhandlung in die Niederschrift aufzunehmen gewesen (§ 122 Abs. 1 Satz 2 SGG). Da dies nicht geschehen ist, gegen die Richtigkeit des Protokollinhalts aber nur der Nachweis der Fälschung möglich ist (§ 164 ZPO, § 122 Abs. 3 SGG), liegt ein Beschluß des LSG. über den Antrag nicht vor. Ebenso wird durch den Inhalt der Urteilsgründe bewiesen, daß sich das LSG. auch bei der Sachentscheidung mit dem Antrag nach § 109 SGG nicht befaßt hat.
Das Außerachtlassen des Antrags der Kläger, Dr. H als ärztlichen Sachverständigen nach § 109 SGG zu hören, stellt einen Mangel im Verfahren des LSG. dar. Bei dieser Sachlage brauchte nicht mehr geprüft zu werden, ob eine Zurückweisung des Antrags durch das LSG. wegen Prozeßverschleppung, wie die Revision vorträgt, unzulässig gewesen wäre. Da eine erkennbare Entscheidung über den Antrag überhaupt nicht erfolgt ist, kann der Antrag auch nicht - zu Recht oder zu Unrecht - nach § 109 Abs. 2 SGG zurückgewiesen worden sein.
Der gerügte Verfahrensmangel ist auch wesentlich; denn die Möglichkeit, daß das von Ober-Med. Rat Dr. H einzuholende Gutachten den strittigen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Tod des Vaters und Ehemanns der Kläger und den Vorgängen in der Brandnacht bejaht hätte und daß das LSG. diesem Gutachten gefolgt wäre, kann nicht ausgeschlossen werden, nachdem das LSG. das Vorliegen unmittelbarer Kriegseinwirkung grundsätzlich bejaht hat (§ 162 Abs. 2 SGG).
Da das angefochtene Urteil unter Verletzung des § 109 SGG ergangen ist und die Vermeidung dieses Fehlers möglicherweise zu einer anderen sachlich-rechtlichen Entscheidung geführt hätte, beruht es auf diesem Verfahrensmangel. Die Revision ist somit zulässig und begründet. Der Senat brauchte deshalb nicht mehr prüfen, ob die Revision etwa noch aus anderen Gründen zulässig ist. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.
Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, weil noch über den Antrag der Kläger aus § 109 SGG zu befinden und eine etwaige Beweiserhebung auf Grund dieses Antrags durchzuführen ist. Beides ist dem Revisionsgericht verwehrt. Die Sache war daher gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG. zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Das LSG. wird bei der erneuten Verhandlung, falls es nicht ein weiteres ärztliches Gutachten über den ursächlichen Zusammenhang von Amts wegen einzuholen beschließt, dem Antrag der Kläger nach § 109 SGG stattzugeben haben.
Es wird prüfen müssen, ob es die Durchführung dieser Beweisaufnahme von der Vorlage eines Kostenvorschusses abhängig machen will oder nicht. Erst nach Abschluß der Beweisaufnahme oder für den Fall, daß der Kläger einer etwaigen Vorschußauflage nicht nachkommt, vermag das LSG. erneut zur Sache zu entscheiden.
Der erkennende Senat des LSG. wird bei der künftigen Entscheidung auch zu beachten haben, daß er mit Berufsrichtern besetzt sein muß, die den im Urteil des BSG. vom 4. Februar 1959 (BSG. 9 S. 137) und im Urteil des erkennenden Senats vom 3. November 1959 (9 RV 758/56) aufgestellten Erfordernissen genügen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten (§ 193 SGG).
Fundstellen