Leitsatz (redaktionell)
Es wird die Entscheidung der Frage offengelassen, ob Leistungen nach FAG SV § 9 nicht nur an frühere deutsche Staatsangehörige iS des GG Art 116 Abs 2, sondern darüber hinaus auch an Verfolgte iS des AVG § 100 Abs 5 nF gewährt werden kann.
Orientierungssatz
Bei der Prüfung zumutbarer anderer Berufstätigkeiten läßt sich die Berücksichtigung von Sprachschwierigkeiten nicht ohne weiteres ausschließen. Den im Ausland lebenden Versicherten der deutschen Angestelltenversicherung wird zwar regelmäßig die Berufung auf fehlende Sprachkenntnisse zu versagen und die Rückkehr nach Deutschland zuzumuten sein, wenn es um ihre Berufsfähigkeit geht; bei den Verfolgten des Nationalsozialismus kann und muß dieser Grundsatz jedoch mit Rücksicht auf ihr Schicksal unter Umständen Ausnahmen erleiden.
Normenkette
AVG § 100 Abs. 5 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1321 Abs. 5 Fassung: 1960-02-25; GG Art. 116 Abs. 2; SVFAG § 9
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 26. Mai 1961 wird aufgehoben; der Rechtsstreit wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die 1907 geborene Klägerin beantragte im April 1957 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Sie war von Januar 1926 bis Januar 1927 im Geschäft ihres Vaters in B als kaufmännische Angestellte tätig, in dieser Zeit in der Angestelltenversicherung (AnV) pflicht- und danach bis 1937 freiwillig versichert. 1939 wanderte sie nach Palästina aus und arbeitete dort in der Folgezeit als Hausangestellte, Haushaltsleiterin und Köchin. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag durch Bescheid vom 6. Juni 1958 ab, weil die Klägerin keinen Rentenanspruch nach § 8 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (FAG) habe - insoweit gab sich die Klägerin mit dem Bescheid zufrieden - und weil auch die Voraussetzungen des § 9 FAG nicht gegeben seien; die Klägerin gehöre nämlich nicht zu den Berechtigten dieser Vorschrift; sie sei keine "frühere deutsche Staatsangehörige i. S. des Art. 116 Abs. 2 des Grundgesetzes" (§ 9 Abs. 1 b i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 2 b FAG), weil sie die palästinensische (heute israelische) Staatsangehörigkeit seit Dezember 1939 besitze; ihr sei die deutsche Staatsangehörigkeit nicht aufgrund der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 entzogen worden. Im übrigen sei die Klägerin auch nicht berufsunfähig. Widerspruch und Klage, die sich allein gegen die Versagung der Rente nach § 9 FAG wandten, hatten keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 1958, Urteil des Sozialgerichts - SG - Berlin vom 11. Februar 1959); das SG rechnete die Klägerin ebenfalls nicht zum Personenkreis des § 9 FAG und wies schon darum die Klage ab.
Im Berufungsverfahren bestritt die Beklagte - offenbar aufgrund eines rechtskräftig gewordenen Urteils des Landessozialgerichts (LSG) Berlin vom 13. November 1959 in der Sache L 1 An 87/59 - nicht mehr die Zugehörigkeit der Klägerin zum Kreis der Berechtigten des § 9 FAG; auch das LSG beschäftigte sich damit nicht; es prüfte allein die Berufsunfähigkeit, holte hierüber ein Gutachten von Dr. M (G, Israel) ein und wies sodann durch Urteil vom 26. Mai 1961 die Berufung zurück: Die Klägerin sei nicht berufsunfähig, sie müsse sich auf einfache Büroarbeiten (mechanische Schreibarbeiten, Adressenschreiben, Tätigkeiten in Registratur und Karthotek ) verweisen lassen, ihr Gesundheitszustand erlaube mindestens halbtägige Beschäftigung; dazu sei die vollständige Beherrschung des Hebräischen in Wort und Schrift nicht erforderlich, es genüge, daß die Klägerin sich ohne Schwierigkeiten mündlich verständigen könne; ihre "sehr mangelhaften Kenntnisse in der Orthografie und im Stil" hinderten sie bei der einfachen Bürotätigkeit nicht, zumal ihr andererseits Sprachkenntnisse in Deutsch und Englisch zugute kämen.
Das LSG ließ die Revision gegen sein Urteil nicht zu. Die Klägerin legte sie gleichwohl ein mit dem Antrag,
die Beklagte unter Aufhebung bzw. Abänderung der Vorentscheidungen zur Erteilung eines Bescheides über die Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente zu verurteilen, hilfsweise die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Sie rügte, daß die Feststellungen des LSG über ihre sprachliche Befähigung für einfache Büroarbeiten in Israel unter Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen seien; das LSG habe dabei die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung (§ 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) überschritten und seine Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt.
Die Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Sie bestreitet Verfahrensmängel im Berufungsverfahren und meint außerdem, daß Sprachschwierigkeiten keine Berufsunfähigkeit begründen könnten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 165 Abs. 1, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Klägerin hat die Revision frist- und formgerecht eingelegt und begründet (§ 164 SGG); sie ist auch statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) und damit zulässig, weil die Klägerin mit Recht wesentliche Mängel im Verfahren des LSG rügt. Insoweit kommt es auf den sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG an. Das Berufungsgericht hat es für rechtserheblich angesehen, ob die Klägerin die für einfache Büroarbeiten in Israel erforderlichen Sprachkenntnisse besitzt; das LSG hat das zwar bejaht; hierbei hat es aber gegen die §§ 103, 128 SGG verstoßen, weil es die Frage nicht aufgrund der ihm vorliegenden Verfahrensergebnisse ohne zusätzliche Ermittlungen bejahen durfte.
Das Urteil des LSG leidet darunter, daß das LSG nicht klargestellt hat, welche Kenntnisse der hebräischen Schrift die einfache Bürotätigkeit fordert und über welche Kenntnisse die Klägerin verfügt. Das LSG sagt hierzu nur, die vollständige Beherrschung der Schrift sei nicht notwendig und eine sehr mangelhafte Orthografie und ein gleich mangelhafter Stil seien unschädlich. Damit hat das LSG nur eine negative Abgrenzung gegeben; es hat nicht positiv festgestellt, welche Kenntnisse der hebräischen Schrift einfache Bürotätigkeiten verlangen und welche Schriftkenntnisse die Klägerin hat. Selbst die negative Abgrenzung der Fähigkeiten der Klägerin ist aber nicht verfahrensrechtlich einwandfrei getroffen worden; dafür, daß eine einfache Bürotätigkeit in Israel die vollständige Beherrschung der hebräischen Schrift (Druckschrift, Handschrift) im Schreiben und Lesen und Kenntnisse der hebräischen Rechtschreibung (praktisch) nicht voraussetzt, hat das LSG keine Unterlagen gehabt; insoweit hat es sich auch nicht um offenkundige, d. h. allgemein- oder wenigstens gerichtskundige Tatsachen (§ 291 der Zivilprozeßordnung) gehandelt, die keines Beweises bedurft hätten. Das LSG hätte daher, beispielsweise bei sachverständigen Stellen in Israel, ermitteln müssen, welche Anforderungen die einfache Bürotätigkeit dort an die Beherrschung der hebräischen Schrift stellt und ob die Klägerin über die entsprechenden Kenntnisse verfügt; erst dann konnte es entscheiden, ob die Klägerin die sprachliche Befähigung für diese Arbeiten hat. Die Aufklärung war um so mehr geboten, weil schon der in Israel lebende ärztliche Gutachter Dr. M erwähnt hatte, daß der Klägerin für eine kaufmännische Tätigkeit in Israel u. a. die notwendigen Sprachkenntnisse fehlten.
Dieser Verfahrensmangel macht die Revision zugleich begründet, weil sich nicht ausschließen läßt, daß das LSG bei richtigem Verfahren zu einem anderen Urteil gelangt wäre und weil der Senat die Entscheidung des LSG auch nicht aus anderen Gründen als richtig bestätigen kann (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Revision müßte zwar zurückgewiesen werden, wenn die Klägerin nicht zu dem nach § 9 FAG berechtigten Personenkreis gehören würde. Diese Frage kann der Senat jedoch nicht entscheiden, weil das angefochtene Urteil zwar Ausführungen der Beteiligten über den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit der Klägerin bringt, aber keine eigenen tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) enthält, auf die der Senat die Entscheidung über die Zugehörigkeit der Klägerin zum Personenkreis des § 9 FAG stützen könnte. Der Senat muß daher offenlassen, ob Leistungen nach § 9 FAG nicht nur an frühere deutsche Staatsangehörige i. S. des Art. 116 Abs. 2 des Grundgesetzes, sondern darüber hinaus auch an Verfolgte i. S. des § 100 Abs. 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - nF (bzw. §§ 1 Abs. 2 Nr. 2 bb und § 8 Abs. 3 FAG) gewährt werden können. Ebensowenig entscheidungsreif ist die von der Beklagten in der Revisionserwiderung angeschnittene Frage, ob Sprachschwierigkeiten bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit zu berücksichtigen sind. Sprachschwierigkeiten können zwar dann keine Rolle spielen, wenn sie die Fortsetzung des "bisherigen Berufes" hindern; insoweit darf es nur darauf ankommen, ob Krankheit, Gebrechen oder eine Kräfteschwäche (§ 23 Abs. 2 Satz 1 AVG) die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen; die Ausführungen des LSG lassen jedoch nicht deutlich erkennen, ob es die einfache Bürotätigkeit als den "bisherigen Beruf" - als den während der Pflichtversicherung 1926/27 ausgeübten Beruf - hat ansehen wollen; bei der Prüfung zumutbarer anderer Berufstätigkeiten läßt sich aber die Berücksichtigung von Sprachschwierigkeiten nicht ohne weiteres ausschließen. Den im Ausland lebenden Versicherten der deutschen AnV wird zwar regelmäßig die Berufung auf fehlende Sprachkenntnisse zu versagen und die Rückkehr nach Deutschland zuzumuten sein, wenn es um ihre Berufsfähigkeit geht; bei den Verfolgten des Nationalsozialismus kann und muß dieser Grundsatz jedoch mit Rücksicht auf ihr Schicksal u. U. Ausnahmen erleiden.
Da dem Senat schließlich eine sachliche Entscheidung zugunsten der Klägerin bei dem derzeitigen Sachstand mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen ebenfalls nicht möglich ist, muß der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG). Das LSG hat in seinem abschließenden Urteil dabei über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden.
Fundstellen