Entscheidungsstichwort (Thema)
Begriff der Familienwohnung iS des § 550 Abs 3 RVO
Orientierungssatz
1. Durch § 550 Abs 3 RVO wird kein Familienverhältnis iS des Bürgerlichen Rechts oder entsprechender Normen vorausgesetzt, sondern es genügt, wenn der Versicherte aufgrund enger persönlicher und wirtschaftlicher Beziehungen zu einer mit ihm nicht durch Verwandtschaft verbundenen Person in deren ständiger Wohnung tatsächlich den Mittelpunkt seiner Lebenshaltung hat (vgl BSG 1966-06-29 2 RU 63/62 = BSGE 25, 93).
2. Berücksichtigung psychischer Bindungen des Versicherten und Bedeutung des Aufbewahrungsortes seiner persönlichen Habe (Möbel, Kleidung, Wäsche) bei Prüfung der Familienwohnung iS des § 550 Abs 3 RVO.
Normenkette
RVO § 550 Abs 3 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 16.01.1980; Aktenzeichen L 4 U 23/79) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 30.01.1979; Aktenzeichen S 1 U 150/77) |
Tatbestand
Der in L wohnende Kläger erlitt am 17. Oktober 1976 (Sonntag) auf der Fahrt von H nach L gegen 10.35 Uhr mit seinem Kraftwagen einen Unfall und wurde erheblich verletzt. Der Kläger war als Verkäufer in einem Transit-Shop am S in L - T beschäftigt. Die tägliche Arbeitszeit begann regelmäßig um 12.30 Uhr und endete um 22.00 Uhr. Er bewohnte zusammen mit seiner Ehefrau und seinem 1974 geborenen Sohn in L eine 3 1/2-Zimmer-Wohnung. Nachdem seine Ehefrau 1975 gestorben war, behielt er diese Wohnung bei. Seinen Sohn gab er in die Obhut seiner in H lebenden Pflegemutter (Zeugin P), bei der er bis zur Eheschließung im Jahre 1971 gewohnt hatte. Am Tag vor dem Unfall hatte der Kläger seine Pflegemutter und seinen Sohn aufgesucht und von dort aus am nächsten Morgen die Fahrt zurück nach L angetreten. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 20. September 1977 Entschädigungsansprüche des Klägers ab. Da betriebliche Gründe für den Aufenthalt des Klägers in H ausschieden, habe er sich zur Unfallzeit auf dem unversicherten Rückweg von einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit befunden. Daran ändere auch nichts, daß der Sohn des Klägers in H wohne, da es sich bei dessen Aufenthaltsort nicht um eine "Familienwohnung" iS des § 550 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) handele. Das Sozialgericht (SG) L hat nach Vernehmung der Zeugen P, K, R und F durch den ersuchten Richter die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 17. Oktober 1976 Entschädigung zu gewähren (Urteil vom 30. Januar 1979). Es hat als erwiesen angesehen, daß die Wohnung der Pflegemutter des Klägers in H seine "ständige Familienwohnung" iS des § 550 Abs 3 RVO gewesen sei. Auf die Berufung der Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Januar 1980). Es hat als erwiesen angesehen, daß die Wohnung des Klägers in L seine "ständige Familienwohnung" gewesen sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Nach dem Tod seiner Ehefrau im Jahre 1975 habe sich der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse wieder zu seiner Pflegemutter (Zeugin P) nach H verlegt, so daß der Aufenthaltsort der Pflegemutter und seines Sohnes für ihn zur Familienwohnung geworden sei. Unerheblich sei, daß er seine Wohnung in L beibehalten habe und dort polizeilich gemeldet sei. Denn auch eine größere Wohnung am Arbeitsort könne unter besonderen Umständen als Unterkunft iS des § 550 Abs 3 RVO gewertet werden. Die beengten räumlichen Verhältnisse in der 2-Zimmer-Wohnung in H sprächen nicht gegen eine Familienwohnung. Entscheidend sei, daß er seinen Sohn häufig in H aufgesucht habe, soweit dies seine Arbeitsbelastung in L zugelassen habe. Das LSG hätte bei der Anzahl der Besuche in H berücksichtigen müssen, daß sein Aufenthalt in L arbeitsorientiert gewesen sei, während starke Bindungen zu seinem Sohn und seiner Pflegemutter in H bestanden hätten.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts
vom 16. Januar 1980 aufzuheben und die Berufung der
Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck
vom 30. Januar 1979 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie trägt vor, daß der Kläger zur Unfallzeit seine Wohnung in L genutzt habe, wo er sich auch versorgt habe. Es sei kaum vorstellbar, daß er von dort aus nicht auch weiterhin die Kontakte aus der Zeit seiner Ehe und seine beruflichen Kontakte weiter gepflegt habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Der Kläger hat am 17. Oktober 1976 auf der Fahrt von H nach L keinen Arbeitsunfall erlitten. Nach § 548 Abs 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet. Der Kläger war aufgrund seiner Beschäftigung in einem Transit-Shop am S - in L - T nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gegen Arbeitsunfall versichert. Daß sich der Kläger zur Unfallzeit auf einer Fahrt im Zusammenhang mit seinem Beschäftigungsverhältnis (Betriebsweg) befand, ist von ihm nicht vorgetragen worden und auch nicht ersichtlich. Als Arbeitsunfall gilt nach § 550 Abs 1 RVO auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Zwar hat der Gesetzgeber durch diese Vorschrift den Versicherungsschutz nicht auf Wege zwischen Wohnung und Ort der Tätigkeit beschränkt, sondern lediglich darauf abgestellt, daß der Ort der Tätigkeit Ziel oder Ausgangspunkt des Weges ist. Jedoch hat der Gesetzgeber damit nicht schlechthin den Versicherten auf jedem Weg unter Versicherungsschutz gestellt, der zum Ort der Tätigkeit hinführt oder von ihm aus begonnen wird. Vielmehr ist darüber hinaus erforderlich, daß der Weg mit der Tätigkeit im Unternehmen in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang steht. Dazu genügt es nicht, daß der Weg vom Ort der Tätigkeit aus angetreten wird, weil er sich zeitlich sofort an die Arbeit anschließt oder daß er unmittelbar zum Ort der Tätigkeit führt, weil mit der Arbeit anschließend begonnen werden soll. Die erforderliche ursächliche Verknüpfung mit der versicherten Tätigkeit muß rechtlich so wesentlich sein, daß andere, mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängende Ursachen unberücksichtigt bleiben müssen (vgl BSGE 1, 171, 173; 8, 53, 55; 22, 60, 61; BSG USK 73244). Bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs ist die Fahrt des Klägers nach H zu seinem Sohn und seiner Pflegemutter als Einheit zu behandeln. Diese Fahrt stand nach den Feststellungen des LSG mit seiner versicherten Tätigkeit rechtlich nicht im Zusammenhang, sondern war wesentlich durch Gründe veranlaßt, die dem persönlichen Lebensbereich des Klägers zuzurechnen sind. Dies gilt dann auch für die Rückfahrt des Klägers am 17. Oktober 1976. Auf einem Weg, dessen Ziel der Ort der Tätigkeit ist, steht der Versicherte nicht unter Versicherungsschutz, wenn es sich um den Rückweg von einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit handelt (BSGE 1, 171, 173; 8, 53, 55; SozR 2200 § 550 Nr 6; BSG USK 72217; BG 1967, 115; BG 1969, 195).
Der Kläger hat zur Unfallzeit aber auch nicht nach § 550 Abs 3 RVO unter Versicherungsschutz gestanden. Nach dieser Vorschrift schließt der Umstand, daß der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft hat, die Versicherung auf dem Weg von und nach der Familienwohnung nicht aus. Der Gesetzgeber hat damit für die Fahrten zur Familienwohnung einen Versicherungsschutz geschaffen, der über den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO hinausgeht und es ermöglicht, rechtlich die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für die Fahrt weitergehend unberücksichtigt zu lassen (vgl BSGE 1, 171, 173; 2, 78, 80). Nach den von der Rechtsprechung zu dem Begriff "Familienwohnung" entwickelten Grundsätzen muß die Wohnung den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bilden (RVA EuM 49, 140; BSGE 1, 171, 173; 2, 78, 80; 5, 165, 166; 17, 270, 271; 20, 110, 111; 25, 93, 95; 35, 32, 33; 37, 98, 99; SozR 2200 § 550 Nrn 31 und 34; BSG USK 72217, 73108; Breith. 1966, 383). Durch § 550 Abs 3 RVO wird kein Familienverhältnis iS des Bürgerlichen Rechts oder entsprechender Normen vorausgesetzt, sondern es genügt, wenn der Versicherte aufgrund enger persönlicher und wirtschaftlicher Beziehungen zu einer mit ihm nicht durch Verwandtschaft verbundenen Person in deren ständiger Wohnung tatsächlich den Mittelpunkt seiner Lebenshaltung hat (vgl BSGE 17, 270, 271; 20, 110, 111; 25, 93, 96). Somit ist bei der Prüfung, ob der Kläger seine ständige Familienwohnung zur Unfallzeit in H hatte, nicht nur zu berücksichtigen, daß sich dort sein Sohn aufhielt, sondern auch, daß sein Sohn bei der Pflegemutter des Klägers (Zeugin P) wohnte. Die dadurch bedingten im Bereich des Psychischen wurzelnden Bindungen hat das LSG nicht verkannt, sie jedoch zutreffend als nicht ausreichend erachtet, um die Wohnung der Pflegemutter auch für den Kläger zur Familienwohnung zu machen (vgl BSGE 25, 93, 96).
Der vorliegende Fall ist ungeachtet aller sonstigen noch zu erörternden Umstände vor allem dadurch gekennzeichnet, daß der Kläger seit seiner Eheschließung im Jahre 1971 seine ständige Familienwohnung in L in der Nähe seiner Arbeitsstätte hatte. Zwar ist es rechtlich nicht ausgeschlossen, daß die in der Nähe der Arbeitsstätte vorhandene Familienwohnung aus Gründen, die mit der versicherten Tätigkeit nicht im Zusammenhang stehen, nach auswärts verlegt und die Wohnung in der Nähe der Arbeitsstätte nur noch als Schlafstelle benutzt wird (vgl BSGE 2, 78, 80; BSG Breith. 1966, 383). Jedoch wurde die Wohnung des Klägers in L nicht schon dadurch zur bloßen Unterkunft iS des § 550 Abs 3 RVO, daß die Ehefrau des Klägers im Jahre 1975 starb und der Kläger das gemeinsame Kind in die Obhut seiner Pflegemutter in H gab. Wenn auch der Zweck des Gesetzes nicht gebietet, den Begriff Unterkunft mit der Vorstellung eines behelfsmäßigen Unterkommens zu verbinden (vgl BSGE 20, 110, 113; USK 73108), so ist der Gesetzgeber jedoch in § 550 Abs 3 RVO von der Lebenserfahrung ausgegangen, daß im Mittelpunkt der Lebensverhältnisse im Regelfalle auch die besseren Wohnverhältnisse gegeben sein werden (vgl BSGE 35, 32, 34). Daß der Kläger vernünftige Gründe dafür hatte, die eheliche Wohnung nach dem Tod seiner Frau nicht aufzugeben, widerspricht dieser Erfahrung nicht. Hinzu kommt, daß der Kläger nach den Feststellungen des LSG in dieser Wohnung seine persönliche Habe (Möbel, Kleidung, Wäsche) aufbewahrte und seine Wäsche auch dort gewaschen wurde. Auch diese Umstände sprechen für die Beibehaltung der Familienwohnung in L (vgl BSGE 17, 270, 272; SozR 2200 § 550 Nr 31; BSG Urteil vom 8. September 1977 - 2 RU 121/75 - unveröffentlicht). Unerheblich ist, daß der Kläger 1971 in die von seiner Ehefrau eingerichtete Wohnung nach L gezogen war und er seine eigenen Möbel in der 2-Zimmer-Wohnung seiner Pflegemutter in H zurückgelassen hatte. Die Tatsache, daß der Kläger nur einen Teil seiner Freizeit in H verbracht hat, ist vom LSG zutreffend als Argument gegen die Verlegung der Familienwohnung nach H gewertet worden (vgl BSGE 20, 110, 113; 24, 159, 160; 25, 93, 96; SozR Nr 17 und 24 zu § 543 RVO aF; BSG USK 74108; BSG Urteil vom 29. Juni 1971 - 2 RU 111/68 - unveröffentlicht). Die Entfernung war jedenfalls kein Grund dafür, daß der Kläger nach den Feststellungen des LSG in der Hauptsaison von Juli bis Oktober höchstens viermal im Monat und in der übrigen Zeit nur zwei- bis dreimal in der Woche nach H fuhr (BSG USK 73108; BSG Urteil vom 12. Oktober 1973 - 2 RU 25/73 - unveröffentlicht). Daß der Aufenthalt des Klägers, wie er vorträgt, in L arbeitsorientiert war, ist kein Kriterium dafür, wo sich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Klägers zur Unfallzeit befunden hat (vgl BSGE 35, 32, 33). Zulässigerweise hat das LSG sich auch auf die Angaben des Klägers gegenüber dem Berufshelfer der Beklagten vom 27. Juli 1977 gestützt, wonach der Kläger seine L Wohnung als seinen häuslichen Mittelpunkt bezeichnet hat. Diese Angabe betraf auch die Verhältnisse zur Unfallzeit, auf die es für die Entscheidung der Streitsache ankommt (vgl BSGE 2, 78, 81; 35, 32, 33; BSG USK 72217, 73108, 74108; BSG Urteile vom 31. Oktober 1972 - 2 RU 137/70 und 2 RU 56/72 - unveröffentlicht).
Angesichts der von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen und der Beweiswürdigung durch das LSG ist die Entscheidung des LSG, der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Klägers habe sich im Unfallzeitpunkt in L befunden, rechtlich nicht zu beanstanden, auch wenn es entgegen der Auffassung des LSG für die Beantwortung der Frage nach der Familienwohnung des Klägers nicht darauf ankam, wo der Kläger polizeilich gemeldet war (vgl BSGE 2, 78, 81; 5, 165, 167; 17, 270, 272; BSG SozR 2200 § 550 Nr 31; USK 73108), obwohl die polizeiliche Meldung gelegentlich auch als Indiz für den Ort der Familienwohnung gewertet worden ist (vgl SozR 2200 § 550 Nr 31), und es nicht in jedem Fall gegen eine Familienwohnung spricht, daß der Versicherte in beengten Verhältnissen zu leben genötigt ist (vgl SozR Nr 24 zu § 543 RVO aF).
Die Revision mußte daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen