Leitsatz (amtlich)

Arbeitnehmer eines Gaswerks, die damit beschäftigt werden, die Schuldnerliste zu führen, Rückstände beizutreiben, bei Zahlungsverweigerung mit den Schuldnern zu verhandeln, je nach dem Ergebnis dieser Verhandlung die Gasleitung zu sperren oder die Schuld kurzfristig zu stunden sowie den Stadtwerken über den Zahlungswillen, die Zahlungsfähigkeit und die Kreditwürdigkeit der Schuldner schriftlich zu berichten, sind in der Rentenversicherung der Angestellten versicherungspflichtig.

 

Normenkette

AVG § 1 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1945-03-17, § 3 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Juni 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger ist seit 1950 bei den Stadtwerken in F als Mahn- und Sperrbote tätig. Seine Arbeitgeberin hat ihn in die Tarifordnung für Angestellte eingestuft, aber zur Rentenversicherung der Arbeiter angemeldet. Der Kläger begehrt die Feststellung, daß er vom 1. Januar 1951 an angestelltenversicherungspflichtig sei.

Das Verfahren war zunächst beim Versicherungsamt in F anhängig. Es ging mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Sozialgericht (SG.) Nürnberg über. Dieses lud die Landesversicherungsanstalt (LVA.) O sowie die Stadt F bei. Es wies die Klage ab: Der Kläger sei Bote, aber kein Büroangestellter (Urteil vom 11.5.1954). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) hob die Entscheidung des SG. auf. Es stellte fest, daß der Kläger vom 1. Januar 1951 an angestelltenversicherungspflichtig sei: Die Tätigkeit des Klägers trage die Merkmale einfacher Büroarbeit, auch wenn sie vorwiegend im Außendienst verrichtet werde; der Kläger sei daher nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) a. F. angestelltenversicherungspflichtig (Urteil vom 7.6.1955).

Das LSG. ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 13. September 1955 zugestellte Urteil am 10. Oktober 1955 Revision ein und begründete sie am 26. Oktober 1955. Sie beantragte, das angefochtene Urteil aufzuheben: Zählerableser und Einkassierer seien nur dann angestelltenversicherungspflichtig, wenn sie befugt seien, die Schuld zu errechnen, Quittungen zu erteilen und die Beträge selbständig abzurechnen. Dies sei hier nicht der Fall. Der Kläger hätte im übrigen die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK.) F als zuständige Beitragseinzugsstelle verklagen müssen.

Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen.

Die LVA. und die Stadt F schlossen sich den Ausführungen der Beklagten an.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Die beim Versicherungsamt im Beschlußverfahren anhängig gewesene Sache ist mit dem Inkrafttreten des SGG als Feststellungsklage auf das SG. übergegangen (§§ 194 Abs. 3 AVG a. F., 55, 215 Abs. 2 u. 4 SGG). Gegenstand der Feststellungsklage ist der Streit, ob der Kläger in der Rentenversicherung der Arbeiter oder in der Rentenversicherung der Angestellten versicherungspflichtig ist. Eine Feststellungsklage dieses Inhalts ist zulässig (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG. E. 4 S. 17 ff., 19).

Der Kläger begehrt die Feststellung, daß er angestelltenversicherungspflichtig ist. Die zuständige Beitragseinzugsstelle - AOK. F - hat hierüber keinen Verwaltungsakt erlassen. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ist somit als Trägerin der Angestelltenversicherung die richtige Beklagte. § 121 Abs. 3 AVG n. F. steht dem nicht entgegen. Danach sind die Beitragseinzugsstellen in Streitigkeiten über die Versicherungspflicht nur dann Partei, wenn sie - was hier nicht der Fall ist - über die Versicherungspflicht durch Verwaltungsakt entschieden haben. Die Parteistellung der Beklagten wird auch nicht durch § 12 Abs. 2 der Durchführungsverordnung (DVO) zur Zweiten Lohnabzugsverordnung in Frage gestellt. Satz 1 dieser Vorschrift bestimmt zwar, daß die Versicherungsträger im Streitverfahren über die Versicherungspflicht durch die Beitragseinzugsstellen "vertreten" werden; nach Satz 3 können die Versicherungsträger jedoch - was die Beklagte auch getan hat - den Rechtsstreit selbst zu führen. Der Senat braucht deshalb nicht zu entscheiden, ob § 12 Abs. 2 DVO überhaupt noch anzuwenden ist (vgl. Art. 3 § 2 AnVNG) und ob nach dieser Vorschrift die Beitragseinzugsstellen Prozeßbevollmächtigte kraft Gesetzes oder Partei sind.

Die Frage, ob Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Arbeiter oder in der der Angestellten besteht, ist jeweils nach der Lage des Einzelfalls zu beurteilen. Das LSG. hat hierzu in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, der Kläger sei täglich zunächst etwa zwei Stunden damit beschäftigt, die Schuldnerliste zu überprüfen, zu berichtigen und zu ergänzen; danach habe er die Rückstände beizutreiben, bei Zahlungsverweigerung mit den Schuldnern zu verhandeln und je nach dem Ergebnis dieser Verhandlungen die Gasleitung zu sperren oder die Schuld kurzfristig zu stunden; abschließend müsse er den Stadtwerken über den Zahlungswillen, die Zahlungsfähigkeit und die Kreditwürdigkeit der Schuldner schriftlich berichten. Nach diesen - das Revisionsgericht bindenden - Feststellungen erhält die Beschäftigung des Klägers ihr Gepräge durch die in der geschilderten Weise besonders gestaltete Mahntätigkeit und nicht - wie das SG. wohl angenommen hat - durch die mechanische Tätigkeit des Einkassierens der Schuldbeträge und des Sperrens der Gasleitung. Diese Mahntätigkeit des Klägers ist aber den - wenn auch einfachen - Büroarbeiten zuzurechnen. Daß sie teilweise im Außendienst verrichtet wird, steht dem nicht entgegen. Die Frage, ob eine Tätigkeit den Büroarbeiten zuzurechnen ist, beurteilt sich nach der Art der Tätigkeit, nicht nach dem Ort ihrer Verrichtung (vgl. RVA. GE. vom 30.4.1930, AN. 1930 S. IV 285 ff.). Das LSG. hat daher mit Recht festgestellt, daß der Kläger angestelltenversicherungspflichtig ist (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 AVG a. F.; § 2 Abs. 1 u. § 3 Abs. 1 Nr. 3 AVG n. F.).

Diese Auffassung des Senats widerspricht weder der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 28. September 1956 (BSG. E. 4 S. 17 ff.) noch der erwähnten Grundsätzlichen Entscheidung des Reichsversicherungsamts, wonach "Gasableser" in der Regel invalidenversicherungspflichtig sind. Im vorliegenden Fall handelt es sich nicht um die Versicherungspflicht eines "Gasablesers", so daß ein anderer Sachverhalt gegeben ist.

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 170 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926574

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