Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorverlegung des Rentenbeginns einer Hinterbliebenenrente in der Angestelltenversicherung. Wahrnehmung von Kriegsfristen. Rückwirkung von Vorschriften des Fremdrentenrechts

 

Orientierungssatz

Die Vorverlegung des Rentenbeginns einer Hinterbliebenenrente in der Angestelltenversicherung nach § 2 KrFrHemmSV/AVG ist ausgeschlossen, wenn § 17 SVFAG Anwendung findet, der den Leistungsbeginn frühestens für den 1.4. 1952 festsetzt.

 

Normenkette

KrFrHemmSV/AVG § 2 Fassung: 1952-11-13; RVO § 1286; SVFAG § 17 Abs. 1 Fassung: 1953-08-07, Abs. 6 Fassung: 1953-08-07

 

Verfahrensgang

SG Hamburg (Entscheidung vom 02.04.1957)

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. April 1957 wird aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Kläger sind die frühere Witwe und der minderjährige Sohn des Angestellten W W. Dieser hat der Angestelltenversicherung angehört. Er ist seit 29. April 1945 vermißt und seit 23. November 1951 rechtskräftig für tot erklärt worden. Die Landesversicherungsanstalt Hansestadt H, die damals die Aufgaben der Angestelltenversicherung wahrnahm, gewährte den Klägern mit Bescheiden vom 2. April 1951 die Hinterbliebenenrenten vom 1. Mai 1950 an. Die Witwenrente fiel Ende Dezember 1951 wegen Wiederverheiratung der Klägerin weg.

Im August 1955 beantragten die Kläger, ihnen nach § 2 des Kriegsfristengesetzes (KFG) die Hinterbliebenenrenten bereits vom 1. Mai 1945 an zu gewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 7. Oktober 1955 ab, weil ein Anspruch auf Leistungen nur nach dem Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz (FremdRG) gegeben sei und weil sie nach § 17 Abs. 1 FremdRG die Leistungen frühestens vom 1. April 1952 an zu gewähren habe.

Das Sozialgericht Hamburg verurteilte die Beklagte, den Klägern die Hinterbliebenenrenten für die Zeit vom 1. Mai 1945 bis 30. April 1950 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren: Das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) sei nach 1945 nicht außer Kraft gesetzt worden. Die Aufgaben der Angestelltenversicherung seien damals von den Landesversicherungsanstalten übernommen worden. Diese hätten als Auftragsangelegenheit die Renten auf Grund des Versicherungsverhältnisses bei der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA.) nach dem AVG festgestellt und gewährt. Die Beklagte habe nach dem Errichtungsgesetz die Aufgaben der Angestelltenversicherung von den Landesversicherungsanstalten übernommen und habe diese Aufgaben in gleichem Umfange auszuführen. Maßgebend für die Gewährung von Leistungen sei allein das Leistungsrecht. Dessen einzige Einschränkung ergebe sich für die britische Zone aus der Sozialversicherungsanordnung (SVA) Nr. 1 vom 29. Januar 1947 für Flüchtlinge, die Anspruch auf Rentenzahlung frühestens vom Zuzug in die britische Zone an hätten. Dagegen habe das FremdRG das Leistungsrecht nicht beschränkt, insbesondere nicht die Leistungsansprüche aus vorhergehenden Zeiten beseitigt. Aus § 17 Abs. 6 FremdRG ergebe sich nur, daß früher nach anderen Vorschriften gewährte Renten ab 1. April 1952 eine neue Rechtsgrundlage erhalten haben. Auch aus § 17 Abs. 1 FremdRG lasse sich nichts über den Ausschluß von Leistungen für Zeiten vor dem 1. April 1952 entnehmen. Einheimische Versicherte würden durch § 20 Abs. 2 und 3 FremdRG nicht betroffen. Für sie seien für Zeiten vor dem 1. April 1952 die Reichsversicherungsgesetze maßgebend. Selbst wenn der Gesetzgeber gewollt hätte, daß Leistungen, die unter das FremdRG fallen, für Zeiten vor dem 1. April 1952 nicht mehr erbracht werden dürfen, so sei dies jedenfalls im Gesetz nicht hinreichend deutlich geworden. Eine solche Absicht des Gesetzgebers müsse auch bezweifelt werden (Urteil vom 2.4.1957).

Das Sozialgericht ließ die Berufung zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 8. April 1957 zugestellte Urteil am 27. April 1957 Sprungrevision ein. Die schriftliche Einwilligungserklärung der Kläger fügte sie bei. Sie beantragte, das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie begründete die Revision nach Verlängerung der Begründungsfrist am 14. Juni 1957: Gerügt werde die unrichtige Anwendung des § 2 KFG und die Nichtanwendung der §§ 17 und 20 FremdRG. Die Auffassung des Sozialgerichts widerspreche der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Hinterbliebenenrenten aus Beiträgen zur ehemaligen Reichsversicherungsanstalt, die vor Verkündung des FremdRG von einem Versicherungsträger im Bundesgebiet oder im Land Berlin rechtskräftig festgestellt worden seien, würden von der Beklagten frühestens vom Inkrafttreten des FremdRG an (1.4.1952) geschuldet. Neben dieser eindeutigen gesetzlichen Regelung bleibe für Erwägungen, die eine Verbindlichkeitsübernahme aus dem Gesichtspunkt der Funktionsnachfolge, der Auftragsangelegenheit, der Treuhand oder des Rechtsinstituts des Handelns für den, den es angeht, kein Raum.

Der Prozeßbevollmächtigte der Kläger hat am 24. September 1957 mitgeteilt, daß er die Vertretung niedergelegt habe.

Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig und begründet. Die Kläger haben die Bescheide der Landesversicherungsanstalt Hansestadt Hamburg vom 2. April 1951 nicht angefochten. Es kann demnach nur geprüft werden, ob der Beginn der in diesen Bescheiden festgestellten Hinterbliebenenrenten nach § 2 KFG vorzuverlegen ist. Dies ist nicht der Fall.

Der Versicherte hat nur Beiträge zur RfA. entrichtet. Diese ist nach der Kapitulation stillgelegt und am 1. August 1953 aufgelöst worden. Die Beklagte als neue Trägerin der Angestelltenversicherung ist nicht ihre Gesamtrechtsnachfolgerin. Die aus den Beiträgen zur RfA. hergeleiteten Ansprüche fallen unter das FremdRG. Dieses Gesetz bestimmt, in welchem Umfange aus solchen Beiträgen Leistungen von einem Versicherungsträger im Bundesgebiet oder im Land Berlin zu gewähren sind. Nach § 2 FremdRG sind "für die Leistungen grundsätzlich die im Bundesgebiet geltenden Vorschriften der Sozialversicherung unter Berücksichtigung der in den §§ 3 bis 7 vorgesehenen Besonderheiten maßgebend". Die §§ 3 bis 7 FremdRG befassen sich nicht mit dem hier streitigen Rentenbeginn. Dieser richtet sich daher nach den im Bundesgebiet sonst geltenden sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften. Zu ihnen gehört auch § 2 KFG (vgl. BSGE. 4 S. 96); diese Vorschrift enthält im Verhältnis zum FremdRG kein Sonderrecht, sondern gilt kraft dessen § 2 auch für Fremdrenten. § 2 KFG bestimmt, daß Renten an die Hinterbliebenen von Kriegsteilnehmern und Internierten - abweichend von § 1286 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - mit dem Ablauf des Sterbemonats beginnen, sofern der Antrag vor Ablauf des auf die Todesnachricht oder Todeserklärung folgenden Kalenderjahres gestellt wird. Sie regelt mithin nur den Leistungsbeginn, nicht auch den Leistungsanspruch, so daß die Hinterbliebenenrenten nur insoweit vor Ablauf des Antragsmonats beginnen können, als der zuständige Versicherungsträger im Bundesgebiet oder im Land Berlin überhaupt zu Leistungen verpflichtet war.

Das FremdRG gehört zu den zahlreichen Bundesgesetzen, die zur Regelung der Folgen des Krieges erlassen sind und die Körperschaften des öffentlichen Rechts im Bundesgebiet und im Land Berlin verpflichten, öffentlich-rechtliche Ansprüche gegen Körperschaften des öffentlichen Rechts, die für das ganze damalige Reichsgebiet zuständig waren oder außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin lagen oder liegen, unter bestimmten Voraussetzungen und "bis zu einer anderen gesetzlichen Regelung" (§ 1 Abs. 1 FremdRG) zu erfüllen. In allen diesen Fällen handelt es sich um fremde Verpflichtungen, für die bisher nach dem Recht oder auch nur nach Verwaltungsvorschriften der Länder oder der Besatzungsmächte Leistungen nur zum Teil oder nur unter verschiedenen Voraussetzungen und in verschiedener Höhe gewährt worden waren. In weitem Umfang schuf das FremdRG erstmals echte Rechtsansprüche gegen Versicherungsträger im Bundesgebiet und im Land Berlin; für alle Arten von Fremdrenten brachte erst das FremdRG einheitliche und gleichmäßige Rechtsgrundlagen. Im Zuge dieser Bereinigung bestimmt das Gesetz, daß auch dann, wenn der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des Gesetzes eingetreten und nicht bereits eine Leistung für die vorhergehende Zeit festgestellt worden ist, die Rente frühestens vom Tage des Inkrafttreten des Gesetzes (1.4.1952) an zu gewähren ist (§ 17 Abs. 1 FremdRG). Das gilt auch bei Fremdrenten für Kriegshinterbliebene; auch diese können von keinem früheren Zeitpunkt an gewährt werden, ob es sich nun um Fälle des Satzes 1 oder der Sätze 3, 4 des § 2 KFG handelt. Für den - hier gegebenen - Fall, daß eine Leistung bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes (oder vor der Verkündung des Gesetzes - BSGE. 4 S. 96/101) von einem Versicherungsträger im Bundesgebiet oder im Land Berlin rechtskräftig festgesetzt worden ist, trifft § 17 Abs. 6 FremdRG eine besondere Regelung, die dem Gedanken der Wahrung des Besitzstandes Rechnung trägt. Von dieser Ausnahmevorschrift werden nach ihrem Sinn und Wortlaut alle Fälle umfaßt, in denen bereits vor Verkündung des FremdRG eine Leistung für einen Berechtigten nach diesem Gesetz rechtskräftig festgesetzt worden ist, in denen also eine solche Leistung vor Verkündung des FremdRG bereits bezogen wurde. Diese schon früher erworbenen Ansprüche sollen den Berechtigten erhalten bleiben, weshalb eine Änderung der festgestellten Leistungen nach § 17 Abs. 6 FremdRG nur zu Gunsten der Berechtigten und nur nach Maßgabe des FremdRG, d. h. nicht für eine vor dem 1. April 1952 liegende Zeit (§ 17 Abs. 6 Sätze 2, 3 FremdRG) möglich ist. Dies gilt auch für Anträge auf Neufeststellung solcher Renten für Kriegshinterbliebene auf Grund des § 2 Sätze 3, 4 KFG; denn auch diese Vorschrift kann nur "nach Maßgabe des FremdRG" (§ 17 Abs. 6 FremdRG) zu einer Änderung des Rentenbeginns führen, d. h. nur über § 2 FremdRG und nur im Rahmen des § 17 Abs. 1 FremdRG.

An dieser Auffassung, die der Senat in ständiger Rechtsprechung vertreten hat (Urteile vom 29.10.1956 - BSGE. 4 S. 96 - und 1 RA 85/55, vom 27.2.1957 - 1 RA 46/56 -, vom 27.3.1957 - 1 RA 41/56 -, vom 30.10.1957 - 1 RA 129/56 und 35/57 -), ist entgegen den Ausführungen im angefochtenen Urteil festzuhalten. Die Frage, welche Verbindlichkeiten aus einem Versicherungsverhältnis bei der RfA. von der Beklagten zu erfüllen sind, hat das FremdRG ausschließlich geregelt. Neben dieser ausschließlichen Regelung ist für andere rechtliche Erwägungen, wie sie das Sozialgericht angestellt hat, kein Raum. Dies währe mit dem Zweck des FremdRG unvereinbar.

Da die Kläger die Hinterbliebenenrenten aus der Angestelltenversicherung vom 1. Mai 1950 an auf Grund der rechtskräftig gewordenen Bescheide der Landesversicherungsanstalt der Hansestadt Hamburg vom 2. April 1951 bezogen haben, kann ein früherer Beginn dieser Renten nach den Vorschriften des FremdRG und den nur in ihrem Rahmen geltenden Vorschriften des KFG nicht festgelegt werden. Das Urteil des Sozialgerichts, das den Klägern die Hinterbliebenenrenten für die Zeit vom 1. Mai 1945 bis 30. April 1950 zugesprochen hat, muß daher aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2291039

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