Orientierungssatz

Es ist nicht grundsätzlich unzumutbar, einen früheren Fahrhauer auf die Arbeiten eines kaufmännischen Angestellten der Gruppe 2 des Manteltarifvertrages für die Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus zu verweisen. Grundsätzlich können zahlreiche der unter diese Gruppe fallenden Tätigkeiten nur Angestellte verrichten, die gründliche Kenntnisse und Erfahrungen über Arbeitsbedingungen und Arbeitsablauf in einem bergbaulichen Betrieb haben, wie sie ein Fahrhauer in aller Regel aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit in ausreichendem Maße gewonnen haben wird.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Dezember 1972 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Streitig ist, ob dem im Jahre 1922 geborenen Kläger eine Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen ist.

Der Kläger war im Bergbau, zuletzt vom 1. Oktober 1957 bis 31. März 1968 als Fahrhauer tätig. Seine Tätigkeit endete wegen Betriebsstillegung. Er war seit dem 7. März 1967 arbeitsunfähig, bezog zunächst Krankengeld bis zur Aussteuerung und dann Wartegeld nach den Richtlinien für Betroffene nach Art. 56 § 2 des Montanunionvertrags für die Zeit vom 1. Oktober 1968 bis zum 31. März 1970. Seit dem 21. April 1970 ist er als Waschraumwärter tätig.

Einen am 18. Juli 1968 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. November 1968 ab, weil der Kläger weder erwerbsunfähig, noch berufsunfähig, noch vermindert bergmännisch berufsfähig sei. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 1969 zurückgewiesen. Die dagegen vor dem Sozialgericht (SG) Duisburg erhobene Klage hat das SG mit Urteil vom 3. November 1969 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 15. Dezember 1972 das Urteil des SG geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. August 1968 Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Zur Begründung seines Urteils hat das LSG ausgeführt, der Kläger könne seit seiner letzten Schicht als Fahrhauer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr unter Tage tätig sein. Seine Leistungsfähigkeit für Tätigkeiten über Tage sei auch insofern eingeschränkt, als er nur noch Arbeiten ohne schwere körperliche Belastung, ohne Zwangshaltung und nur noch in geschlossenen Räumen verrichten könne. Beschäftigungsmöglichkeiten in den Meistertätigkeiten im Bergbau über Tage (Holz-, Platz-, Wiege-, Hafenmeister und dergl.) und als Arbeiter über Tage schieden daher schon aus gesundheitlichen Gründen aus. Tätigkeiten der Gruppe 1 der technischen und kaufmännischen Angestellten seien für einen Fahrhauer nicht zumutbar. Eine Tätigkeit als technischer Angestellter der Gruppen 2 und höher schieden für den Kläger entweder deshalb aus, weil er nur noch in geschlossenen Räumen tätig sein könne oder weil er die jeweils erforderliche berufliche Qualifikation nicht besitze bzw. erst nach längerer Einarbeitungs- und Anlernzeit erwerben könne. Das gelte auch für eine Beschäftigung als kaufmännischer Angestellter der Gruppe 2 und höher. Insbesondere reiche die Berufserfahrung des Klägers nicht für eine Beschäftigung in der Registratur aus. Dabei sei zu beachten, daß die Registratur eines Bergwerksunternehmens in einer Weise gegliedert sei, die für den Registrator ein Übersichtsvermögen über den gesamten Bereich des Unternehmens voraussetze, um den jeweiligen Vorgang richtig einordnen zu können. Es sei auch nicht unbeachtet geblieben, daß außerhalb des Bergbaus, etwa bei einer großen Verwaltung wie der der beklagten Bundesknappschaft im Einzelfall Beschäftigungsmöglichkeiten in einer Registratur vorhanden sein mögen, die eine Einarbeitungszeit von nicht mehr als drei Monaten erfordern und mit so großer Verantwortung verbunden sein könnten, daß sie einem gelernten Facharbeiter zuzumuten seien. Hierzu müsse aber berücksichtigt werden, daß der Kläger einen solchen Arbeitsplatz nicht innehabe, und daß ein Facharbeiter nicht schlechthin auf derartige Büroarbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsfeld verwiesen werden könne, wenn er einen solchen Arbeitsplatz nicht innehabe.

Darüber hinaus besitze der Kläger als Fahrhauer eine über den Facharbeiter im allgemeinen hinausgehende besondere berufliche Qualifikation, so daß ihm ein weitergehender besonderer Verweisungsschutz zukomme. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.

Zur Begründung ihrer Revision trägt die Beklagte vor, der Kläger könne noch auf Büroarbeiten der Gruppe K 2, wie Staubkarteiführer, Angestellter in der Arbeiterannahme, im Fehlschichtenbüro, im Büro des Sicherheits- und Staubbeauftragten, in der Wohnungsverwaltung, in der Schichtenzettelkontrolle, im Maschinen- und Materialbestellungswesen, in der Maschinenkartei und in der Stabstelle (Wirtschaftsbüro), verwiesen werden. Dazu sei er auch könnens- und wissensmäßig in der Lage, denn während der Ausübung seiner Hauptberufstätigkeit als Fahrhauer habe er auch bestimmte schriftliche Arbeiten, wie die Führung eines Schichtenbuches, die Übertragung der Schichtenbuch-Aufzeichnungen in die Schichtenzettel, Ausfertigung von Materialbestellscheinen, Erstattung von kurzen schriftlichen Berichten in den Rapport- bzw. Sicherheitsbüchern, verrichten müssen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Dezember 1972 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 3. November 1969 zurückzuweisen,

hilfsweise: das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Nach seiner Ansicht ist die Rechtsauffassung des LSG richtig.

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Nach § 46 Abs. 2 Satz 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) kann ein Versicherter nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen kann der Kläger nur noch Arbeiten ohne schwere körperliche Belastung, ohne Zwangshaltung und nur noch in geschlossenen Räumen verrichten.

Der erkennende Senat hat bereits in mehreren Urteilen (Urteile vom 28. Februar 1974, vom 27. März 1974 und vom 18. Juli 1974 - 5 RKn 38/72, 5 RKn 27/73 und 5 RKn 5/73) zur Frage der Verweisbarkeit eines Fahrhauers Stellung genommen. Er hat in diesen Urteilen entschieden, daß einem ehemaligen Fahrhauer die kaufmännischen Arbeiten der Gruppe 1 (41) der Anlage A zum Manteltarifvertrag für die Angestellten des Rheinisch-Westfälischen Steinkohlenbergbaus sozial nicht zumutbar sind, weil es sich hierbei um schematische Büroarbeiten (wie z.B. einfache Abschreibarbeiten oder Abheften von Schriftgut) handelt, deren Stellenwert in einem bergbaulichen Betrieb deutlich geringer ist als diejenige eines Fahrhauers, also eines technischen Mitarbeiters, der aus dem Beruf des Hauers hervorgegangen ist und diesen infolge zusätzlich erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten in der betrieblichen Bedeutung überragt. Zumutbar sind einem Fahrhauer dagegen, wie auch das LSG anzunehmen scheint, die Arbeiten eines kaufmännischen Angestellten der Gruppe 2 (42) des Manteltarifvertrages. Allerdings kommen für den Kläger, der gesundheitlich zur Verrichtung solcher Tätigkeiten imstande ist, nur solche Arbeiten in Frage, für die er die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten mitbringt. Die Ansicht des LSG, daß für diese Tätigkeiten die Berufserfahrung eines Fahrhauers nicht ausreiche, ist in dieser Verallgemeinerung nicht richtig. Grundsätzlich ist vielmehr davon auszugehen, daß ein Fahrhauer die Kenntnisse und Fertigkeiten für die unter diese Gruppe fallenden Tätigkeiten im Sicherheitsbüro, in der Dienststelle des Staubbeauftragten, in der Schichtenzettelkontrolle, im Fehlschichtenbüro, im Maschinen- und Materialbestellwesen sowie in der Maschinenkartei besitzt. Diese Tätigkeiten können im allgemeinen nur Angestellte verrichten, die gründliche Kenntnisse und Erfahrungen über Arbeitsbedingungen und Arbeitsablauf in einem bergbaulichen Betrieb haben. Solche Kenntnisse wird ein Fahrhauer in aller Regel aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit in ausreichendem Maße gewonnen haben. Diese Tätigkeiten erfordern andererseits keine ausgeprägten kaufmännischen Kenntnisse und Fertigkeiten.

Es ist auch in der vom LSG vorgenommenen Verallgemeinerung nicht richtig, daß Tätigkeiten der Gruppe 1 der technischen Angestellten für einen Fahrhauer sozial nicht zumutbar sind. Es ist zwar richtig, daß nach der knappen Tätigkeitsbeschreibung im Manteltarifvertrag zur Ausübung einer solchen Arbeit "im allgemeinen" keine besondere Berufsausbildung erforderlich ist. Abgesehen davon, daß die Bedeutung des Berufs im Betrieb nicht nur von der Ausbildung abhängt, ist nicht zu übersehen, daß jedenfalls einzelne dieser Tätigkeiten immerhin eine Anlernung voraussetzen können, also möglicherweise Kenntnisse und Fertigkeiten verlangen, wie sie ein Fahrhauer aufgrund seiner Berufsausübung erworben haben mag. Hinzu kommt die tariflich relativ hohe Einstufung dieser Tätigkeiten; sie werden z.B. vom 1. August 1973 an mit einem Mindestendgehalt von dem vollendeten 18. Lebensjahr an von 1 308 DM entlohnt, also mit einem Gehalt, das deutlich höher liegt als das eines kaufmännischen Angestellten in einem anerkannten kaufmännischen Anlernberuf nach der Gruppe 2 (42) der Anlage A des Manteltarifvertrags (Mindestendgehalt 1 265 DM). Die tarifliche Einstufung deutet daher möglicherweise auf ein erhebliches betriebliches Gewicht zumindest einzelner dieser Tätigkeiten hin.

Die Beklagte ist im Gegensatz zum LSG der Ansicht, mit den beim Kläger vorhandenen gesundheitlichen Einschränkungen könne er noch als Wiegemeister tätig sein. Der Beklagten ist zuzustimmen, daß das Urteil keine näheren Ausführungen darüber enthält, warum der Gesundheitszustand des Klägers auch die Tätigkeit als Wiegemeister ausschließt. Es kann dahingestellt bleiben, ob in dem diesbezüglichen Vorbringen der Beklagten die begründete Rüge eines Verfahrensfehlers (unzureichende Sachaufklärung oder Überschreiten der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung) zu sehen ist. Das LSG wird jedenfalls nach der Zurückverweisung auch diese Frage zu prüfen haben, falls es für die erneute Entscheidung darauf ankommen sollte. In diesem Fall wird aber auch zu prüfen sein, ob es noch Wiegemeister im Bergbau gibt.

Auch hinsichtlich der rechtlich möglichen Verweisung des Klägers auf Tätigkeiten außerhalb des Bergbaus reichen die Feststellungen des LSG nicht aus, um eine abschließende Entscheidung zu treffen. Da es an einer Feststellung fehlt, welche Tätigkeiten außerhalb des Bergbaus der Kläger gesundheitlich und nach seinen Kenntnissen und Fertigkeiten verrichten kann, läßt sich auch die Frage nicht beurteilen, ob die in Frage kommenden Arbeiten mit einem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden sind oder nicht.

Falls das LSG zu einer Verneinung einer Berufsunfähigkeit im Sinne des § 46 RKG kommen sollte, wird es noch zu prüfen haben, ob der Kläger vermindert bergmännisch berufsfähig im Sinne des § 45 Abs. 2 RKG ist.

Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649198

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge