Entscheidungsstichwort (Thema)
gesetzliche Unfallversicherung. Unfallrente. Neuberechnung des JAV. Schlosser im Bergbau. späteres Studium. Diplomingenieur
Orientierungssatz
Zum Nichtvorliegen eines Anspruchs eines Versicherten, der während seiner Tätigkeit als einundzwanzigjähriger Schlosser 1952 im Bergbau einen Arbeitsunfall erlitt und nach einem späteren Studium das Ingenieurzeugnis in der Abteilung Konstruktionstechnik erwarb, auf höhere Verletztenrente bzw auf Neufeststellung der Unfallrente unter Berücksichtigung eines JAV in Höhe des Durchschnittsgehalts eines Diplom-Ingenieurs.
Normenkette
RVO § 563aF; RVO § 573 Abs. 3nF
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. August 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist die Höhe der Verletztenrente aus der Unfallversicherung (UV), insbesondere die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV).
Der im Jahre 1931 geborene Kläger, der die Oberschule bis zur Versetzung in die Obersekunda besucht hatte, war nach Erwerb des Facharbeiterbriefes als Maschinenschlosser, seit dem 1. April 1952 als Schlosser - zuletzt im Bergbau - tätig. Dort erlitt er am 6. November 1952 einen Arbeitsunfall, der zu einer Querschnittslähmung führte. Die Beklagte gewährte ihm mit den Bescheiden vom 14. Januar 1954 und 18. Februar 1955 die Vollrente vom 6. November 1952 an. Als JAV legte sie nach § 563 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF das 300fache des durchschnittlichen Tagesverdienstes im Unternehmen mit 4.287,- DM zugrunde. Der Kläger, der nach dem Unfall keine Beschäftigung ausgeübt hatte, erwarb am 16. Februar 1959 nach dem im Jahre 1957 begonnenen Studium das Ingenieurzeugnis in der Abteilung Konstruktionstechnik. Gleichzeitig wurde er zum Hochschulstudium empfohlen. Bis Ende des Jahres 1968 übte er verschiedene Erwerbstätigkeiten aus; seitdem ist er ohne Arbeit.
Der Kläger begehrte mit Schreiben vom 9. März 1971 die Neufeststellung seiner Rente unter Berücksichtigung eines JAV in Höhe des Durchschnittsgehalts eines Diplom-Ingenieurs. Er machte geltend, der Unfall habe den von vornherein in Aussicht genommenen beruflichen Aufstieg zunächst verhindert; die Berufsausübung sei ihm jetzt unmöglich geworden. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 30. März 1971 ab.
Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat angenommen, die Beklagte brauche sich nicht davon zu überzeugen, daß die Rente zu niedrig festgesetzt sei. Der JAV sei nach § 563 RVO aF richtig berechnet. Die Voraussetzungen des § 566 RVO aF lägen nicht vor. Weder lasse sich die Berechnung nach den §§ 563 bis 565 RVO aF nicht durchführen, noch lägen die Voraussetzungen für eine Berechnung nach den §§ 564, 565 RVO aF vor, die unbillig sein könnte. Insbesondere habe sich der Kläger zur Zeit des Unfalles nicht in der Schul- oder Berufsausbildung befunden. Auf den im Jahre 1952 eingetretenen Versicherungsfall sei § 577 RVO nF nicht anzuwenden; im übrigen lägen dessen Voraussetzungen auch nicht vor. Künftigen Berufsentwicklungen könne lediglich in den engen Grenzen des nicht anwendbaren § 573 Abs. 1 und 2 RVO nF Rechnung getragen werden. Der Kläger solle jedoch eine Überprüfung seines JAV nach dem anwendbaren § 573 Abs. 3 RVO nF (Anpassung des JAV im Falle der Unfähigkeit zur Erwerbstätigkeit) in Betracht ziehen.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, in § 577 RVO nF, der auf im Jahre 1952 eingetretenen Versicherungsfall nicht unmittelbar anzuwenden sei, komme ein allgemeiner Rechtsgedanke zum Ausdruck, der auch schon in § 566 RVO aF enthalten gewesen sei. Die letztere Vorschrift sei daher im Sinne des § 577 RVO nF auszulegen. Im übrigen habe das LSG den § 581 Abs. 2 RVO nF nicht beachtet. Diese Vorschrift wolle Härten vermeiden, die darin liegen, daß ein durch den Unfall verhinderter, sonst aber aufgrund bereits erworbener besonderer beruflicher Kenntnisse möglich gewesener beruflicher Aufstieg nicht berücksichtigt werde. Im vorliegenden Falle habe der Unfall den ohne ihn möglichen Aufstieg zum Ingenieur oder sogar zum Diplom-Ingenieur verhindert. Zwar sei nach § 581 Abs. 2 RVO nF der verhinderte berufliche Aufstieg nur im Rahmen der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu berücksichtigen. Wenn aber - wie hier - die MdE 100 v.H. betrage, so müsse die Unbilligkeit durch eine Erhöhung des JAV unter Anwendung des § 577 RVO ausgeglichen werden. Schließlich habe das LSG den Kläger zu Unrecht darauf verwiesen, die Anwendung des § 573 Abs. 3 RVO nF in einem neuen Verfahren überprüfen zu lassen. Das LSG hätte diese Vorschrift im anhängigen Verfahren anwenden und die Beklagte entsprechend verurteilen müssen. Jedenfalls hätte das LSG den Kläger nicht im Urteil, sondern schon vorher auf den § 573 Abs. 3 RVO nF hinweisen und auf die Stellung eines entsprechenden Antrags hinwirken müssen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts abzuändern, soweit es die Klage abgewiesen hat, und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30. März 1971 und des Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 1971 zu verurteilen, die Rente des Klägers unter Zugrundelegung eines höheren Jahresarbeitsverdienstes neu zu berechnen;
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet. Zusätzlich trägt sie noch vor, der Rechtsgedanke des § 581 Abs. 2 RVO nF könne auf die Berechnung des JAV keine Anwendung finden. Da es für den vorliegenden Fall um eine Überprüfung des JAV nach § 627 RVO handele, sei nur der ursprüngliche Rentengewährungsbescheid auf seine Richtigkeit nachzuprüfen, so daß spätere Möglichkeiten der Rentenerhöhung davon nicht erfaßt würden. Insbesondere sei das LSG zutreffend davon ausgegangen, daß eine etwaige Anhebung von Rentenleistungen nach § 573 Abs. 3 RVO nF nicht in das schwebende Verfahren einbezogen werden dürften. Im übrigen lägen aber auch die Voraussetzungen des § 573 Abs. 3 RVO nF nicht vor, denn der JAV sei nach dem Endlohn eines Grubenschlosser berechnet worden. Im Bergbau erhalte aber bereits der 18-jährige den Endlohn seiner Lohnstufe.
II
Die zulässige Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) zurückgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine höhere als die festgestellte Verletztenrente.
Da sich der Unfall vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) ereignet hat, gelten nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG für die Berechnung des JAV nicht die §§ 571, 575 RVO nF, sondern § 563 RVO aF. Die Berechnung des JAV nach § 563 RVO aF ist richtig, was der Kläger auch nicht bestreitet. Nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG sind die Absätze 1 und 2 des § 573 RVO nF nicht anzuwenden. Es gelten daher die §§ 564 bis 566 RVO nF und § 573 Abs. 3 RVO nF, die aber im vorliegenden Fall keinen höheren als den nach § 563 RVO aF berechneten JAV zur Folge haben.
Die Tatbestandsmerkmale des § 564 RVO aF, insbesondere die der Nr. 6 aaO (berufliche Ausbildung) liegen nicht vor. Ebenso liegen die Voraussetzungen des § 565 RVO aF (Berufs- oder Schulausbildung) nicht vor. Im Zeitpunkt des Unfalls befand sich der Kläger nicht in der Berufsausbildung, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat. Er hat vielmehr einen vollwertigen Beruf ausgeübt, auch wenn er schon zu dieser Zeit die Absicht gehabt haben sollte, in absehbarer Zeit das Studium aufzunehmen. Selbst wenn die Ausübung des Schlosserberufs dazu dienen sollte, die finanziellen Mittel für das spätere Studium zu erwerben, gehörte die Ausübung des Schlosserberufs doch nicht selbst zur Ausbildung. Da die Voraussetzungen der §§ 564, 565 RVO aF also nicht vorliegen und die Berechnung des JAV sich nach § 563 RVO aF durchaus durchführen läßt und auch richtig durchgeführt worden ist, scheidet die Berechnung des JAV nach § 566 RVO aF aus. Es ist - entgegen der Ansicht des Klägers - auch nicht möglich, den Inhalt des § 577 RVO nF, der nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG auf den vorliegenden Versicherungsfall nicht anzuwenden ist, in den § 566 RVO aF hineinzuinterpretieren. Entgegen der Ansicht des Klägers ist die letztere Vorschrift nur anwendbar, wenn sich die Berechnung des JAV nach den §§ 563 bis 565 RVO aF nicht durchführen läßt oder aber der nach den §§ 564, 565 RVO aF berechnete JAV unbillig ist. Diese Voraussetzungen liegen aber nicht vor.
Dem Kläger ist zwar darin zuzustimmen, daß das LSG es zu Unrecht unterlassen hat, die Voraussetzungen des § 573 Abs. 3 RVO nF zu prüfen. Es hätte vielmehr die Berechnung des JAV unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten und daher auch unter Berücksichtigung des nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG anwendbaren § 573 Abs. 3 RVO nF prüfen müssen. Zwar mag es sich bei der Überprüfung des JAV im übrigen um ein Verfahren nach § 627 RVO handeln, so daß insoweit nur die Überzeugungsbildung der Beklagten darauf nachzuprüfen ist, ob sie unter keinen Umständen vertretbar ist, während die Nachprüfung des JAV nach § 573 Abs. 3 RVO nF ohne Berücksichtigung dieser Einschränkung zu erfolgen hätte. Dieser Unterschied ändert aber nichts daran, daß der § 573 Abs. 3 RVO auch im vorliegenden Verfahren anzuwenden ist. Seine Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor. Zwar gehört der Kläger zu dem dort genannten Personenkreis, weil er zur Zeit des Unfalles noch nicht 25 Jahre alt war; der Kläger mag auch durch die Unfallfolgen gehindert sein, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Eine Erhöhung des JAV nach § 573 Abs. 3 RVO nF kommt jedoch deshalb nicht in Betracht, weil nach den Tarifverträgen für den rheinischwestfälischen Steinkohlenbergbau, in dem der Kläger bis zu seinem Unfall tätig gewesen ist, für Schlosser zu keiner Zeit eine vom Lebens- oder Dienstalter abhängige Erhöhung des Lohnes vorgesehen war. Vielmehr erhielt und erhält jeder Schlosser im Bergbau vom 18. Lebensjahr an den vollen Lohn, der nicht mehr einer Steigerung fähig ist. Da der Berechnung des JAV des Klägers der nicht steigerungsfähige Lohn eines Schlossers zugrunde liegt, kann § 573 Abs. 3 RVO nF nicht zu einer Erhöhung dieses JAV führen.
Im Gegensatz zu der Ansicht des Klägers hat auch § 581 Abs. 2 RVO nF, der auf den vorliegenden Versicherungsfall zeitlich anzuwenden ist, keinen höheren als den festgestellten JAV zur Folge. Es mag dahingestellt bleiben, ob der Kläger vor dem Unfall besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen erworben hatte, die er infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann. Selbst wenn das der Fall sein sollte, könnte sich das auf die Berechnung des JAV nicht auswirken. § 581 Abs. 2 RVO nF erlaubt die Berücksichtigung der eingetretenen Nachteile nur bei der Bemessung der MdE, nicht aber bei der Berechnung des JAV. Das gilt auch dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - die MdE bereits 100 v.H. beträgt, so daß sich § 581 Abs. 2 RVO nF auf die Bemessung der MdE nicht mehr auswirken kann.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision des Klägers zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen