Leitsatz (amtlich)

Einer Weberin, die ihren bisherigen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auszuüben vermag, können als Tätigkeiten nach RVO § 1246 Abs 2 S 2 jedenfalls alle anderen angelernten Arbeiten in der Textilindustrie zugemutet werden.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Juli 1957 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die 1897 geborene verheiratete Klägerin, die bis 1943 als Weberin invalidenpflichtversichert beschäftigt war und sich seitdem - als Hausfrau - freiwillig weiterversichert hatte, beantragte im November 1954 bei der Beklagten ohne Erfolg die Gewährung der Invalidenrente; auch das Sozialgericht Würzburg verneinte in seinem Urteil vom 27. März 1956 nach Einholung weiterer Gutachten das Vorliegen von Invalidität.

Das Bayer. Landessozialgericht in München wies nach Einholung eines klinischen Beobachtungsgutachtens mit seinem Urteil vom 26. Juli 1957 die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurück. Es geht auf Grund der erhobenen Beweise davon aus, daß das Gallensteinleiden der 60jährigen Klägerin durch die eingehaltene Diät hintan gehalten würde, ohne ihr Gewicht ungünstig zu beeinflussen; an Lunge, Herz und Kreislauf bestünden nur altersgemäße Veränderungen ohne besondere Ausfallerscheinungen; auch die von der Klägerin als besonders erwerbsvermindernd in den Vordergrund gestellten Beschwerden an der Lendenwirbelsäule stellten nur eine altersmäßige Beeinträchtigung dar. Diese gestatteten zwar die Wiederaufnahme der früheren Weberinnentätigkeit nicht, da diese Arbeit gerade an die Stehfähigkeit besondere körperliche, der Klägerin nicht mehr zumutbare Anforderungen stelle; wohl aber könne die Klägerin sonstige Arbeiten verrichten, wie sie sich an ihrem Wohnort, einer industriereichen Gegend, fänden. Dabei käme nicht lediglich - wie das Sozialgericht angenommen habe - eine Verweisung auf lohnabhängige Hausarbeiten als sog. "Zugeherin" in Frage, zumal von derartigen stundenweise beschäftigten weiblichen Personen gerade die Verrichtung schwerster Hausarbeit (Kohlen tragen, waschen, bohnern) erwartet würde; vielmehr sei die Klägerin zu verweisen auf überwiegend im Sitzen zu verrichtende Packerinnen-, Sortiererinnen- und sonstige einfache Anlernarbeiten sowie Aufräumarbeiten bei Behörden, Tätigkeiten als Helferin in Gasthausküchen und ähnliche Arbeiten, die alte Frauen häufig zu leisten pflegten.

Auch auf Grund der Vorschriften des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) komme eine Rentengewährung nicht in Frage. Die Klägerin habe zwar im August 1957 ihr 60. Lebensjahr vollendet, sie habe jedoch keinen Anspruch auf "vorgezogenes Altersruhegeld"; sie sei weder arbeitslos, denn sie habe sich dem Arbeitsamt nicht zur Verfügung gestellt oder sonst ihre "Arbeitslosigkeit unter Beweis gestellt" (§ 1248 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung -RVO- n.F.), noch habe sie die Voraussetzungen des Abs. 3 a.a.O. erfüllt, da sie ihre versicherungspflichtige Tätigkeit bereits 1943 aufgegeben habe.

Auch Berufsunfähigkeit im Sinne von § 1246 Abs. 2 RVO n.F. liege nicht vor. Die Tatsache allein, daß die Klägerin den früher stets ausgeübten Beruf als Weberin nicht mehr ausüben könne, reiche für die Annahme von Berufsunfähigkeit nicht aus. Auch wenn ein Versicherter jahrelang eine bestimmte mechanische Fabriktätigkeit, bei der es nach Anlernung und Gewöhnung auch auf eine gewisse in langjähriger Beschäftigung erworbene Erfahrung ankomme, die für den Arbeitgeber nutzbringend sei, verrichtet habe, sei für ihn die Verweisung auf andersgeartete leichtere Fabrikarbeiten zumutbar und zulässig, wenn auch diese Tätigkeiten ohne besondere Fähigkeiten und Kenntnisse (wie Lehrlings- und Gesellenausbildung, Fachvorbildung u.ä.) gegebenenfalls nach kurzer Anlernung und Einarbeitung körperlich und geistig verrichtbar seien.

Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 18. Oktober 1957 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 26. Oktober 1957 unter Antragstellung Revision eingelegt und diese am 6. November 1957 begründet. Die Revision beschränkt sich unter ausdrücklicher Betonung, daß Verfahrensmängel nicht gerügt würden, auf die Rüge einer rechtsirrtümlichen Anwendung des Begriffs der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO n.F. Die vom Landessozialgericht vorgenommene Verweisung auf den Beruf einer Packerin, Sortiererin, Helferin in Gasthausküchen und Putzfrau bei Behörden sei nicht als zumutbar anzusehen. Es fehle zudem für die Annahme der Zumutbarkeit an jeder Klärung des beruflichen Werdegangs der Klägerin. Die "wirtschaftliche Gleichwertigkeit" der zuzumutenden Arbeiten könne nur über einen bisher nicht angestellten Lohnvergleich der in Frage kommenden Tarife getroffen werden. Für die Frage, ob die zugemutete Verweisung einen sozialen Abstieg bedeute, fehle eine Würdigung des Berufsethos in dem jahrzehntelang ausgeübten Beruf sowie eine Prüfung der Frage, ob in der Verweisung auf eine neue Tätigkeit bei dem Alter der Klägerin nicht eine besondere unbillige Härte liege.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides und der Entscheidungen der Vorinstanzen zu verurteilen, ihr vom 1. Januar 1957 an Berufsunfähigkeitsrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.

Der Klägerin, die keine qualifizierte Facharbeitertätigkeit ausgeübt habe, könne auch nach neuem Recht zugemutet werden, andere mechanische Arbeiten auszuüben, selbst wenn diese eine Anlernung und Einarbeitung erforderten. Derartige Tätigkeiten seien der Klägerin nach den Feststellungen des Landessozialgerichts auch zumutbar; die von der Klägerin begehrten weiteren Feststellungen erübrigten sich somit.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet worden; sie ist vom Landessozialgericht zugelassen und somit statthaft.

Sachlich erscheint die Revision nicht begründet.

Mit der nach § 99 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässigen Beschränkung des Klageantrages auf die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 ist die Ablehnung der Gewährung von Invalidenrente nach § 1254 RVO a.F. bis zu jenem Zeitpunkt rechtskräftig geworden; es ist demnach einzig noch darüber zu entscheiden, ob der gegen die Ablehnung der Rente wegen Berufsunfähigkeit nach den durch das ArVNG geänderten Vorschriften der RVO erhobene Revisionsangriff durchgreift.

Mit dem Landessozialgericht ist aus den von diesem zutreffend dargelegten Gründen zunächst davon auszugehen, daß die Klägerin keinen Anspruch auf ein Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 2 oder 3 RVO hat.

Auch die Annahme des Landessozialgerichts, bei der Klägerin liege keine Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO vor, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Da die Klägerin allein als Weberin pflichtversichert gewesen ist, ist auch nur diese Tätigkeit, nicht jedoch auch diejenige als Hausfrau, während deren Dauer sie freiwillig weiterversichert war, als bisheriger Beruf zugrunde zu legen (Urteil des erkennenden Senats in BSG. 7 S. 66).

Die Berufstätigkeit als Weberin kann die Klägerin, wie von keiner Seite angezweifelt wird, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben; dagegen ist sie nach den tatsächlichen Feststellungen des Landessozialgerichts, die von ihr nicht angefochten und daher gemäß § 163 SGG für das Bundessozialgericht bindend sind, noch in der Lage, überwiegend im Sitzen zu verrichtende einfache Anlernarbeiten, nämlich die Tätigkeit einer Packerin, einer Sortiererin, einer Reinemachefrau in Behörden, einer Helferin in Gasthausküchen u.ä. zu verrichten.

Fraglich ist mithin allein, ob das Landessozialgericht zu Recht davon ausgegangen ist, daß die Klägerin auf die vorgenannten Arbeiten auch verwiesen werden kann. Die von der Klägerin bisher verrichtete Tätigkeit als Weberin setzt keine besondere Berufsausbildung voraus, sondern konnte bereits nach einer gewissen Anlernzeit verrichtet werden. Der Klägerin können unter diesen Umständen zum mindesten alle anderen angelernten Arbeiten in der Textilindustrie zugemutet werden, da diese sogar innerhalb desselben Berufszweiges liegen, und ihre Verrichtung für eine Weberin zwar möglicherweise eine finanzielle Einbuße mit sich bringt, jedoch keinen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeutet, sie vielmehr im wesentlichen in der ihr vertrauten Sphäre und Umgebung verbleibt. Nach den für die gewerblichen Arbeitnehmer der Nordbayerischen Textilindustrie in Frage kommenden Lohntarifverträgen, die für die Zeit nach dem 1. Januar 1957 gelten, lag und liegt der Tariflohn selbst der niedrigsten Lohngruppen immer noch erheblich über der Hälfte des Tariflohns, der der höchsten Lohngruppe gewährt wird. Der erkennende Senat war, entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Beschluß des 5. Senats vom 23.12.1958 - 5 RKn 35/58, SozR. RKG § 35 a.F. A a 8 Nr. 9), in der Lage, die in Frage kommenden tariflichen Regelungen als materiellrechtliche Norm selbst dann anzuwenden, wenn das Landessozialgericht von ihrer Anwendung abgesehen hat.

Da die Klägerin jedenfalls zur Verrichtung einer Reihe jener angelernten Tätigkeiten in der Textilindustrie nach den Feststellungen des Landessozialgerichts auch gesundheitlich in der Lage ist, diese Tätigkeiten von ihr ohne oder nach ganz geringer Anlernzeit verrichtet werden können, hat das Landessozialgericht die Klägerin zu Recht auf jene, nicht nur vereinzelt vorkommenden Arbeiten verwiesen und deshalb das Vorliegen von Berufsunfähigkeit ohne Rechtsirrtum verneint.

Eine Prüfung, ob der Klägerin auch eine Verrichtung derjenigen Tätigkeiten zugemutet werden kann, auf die das Landessozialgericht sie außerhalb der Textilindustrie zusätzlich verwiesen hat, konnte unter diesen Umständen dahingestellt bleiben.

Die Revision war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 189

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