Leitsatz (amtlich)
Bei einer wegen (vorübergehender) Erwerbsunfähigkeit gewährten Zeitrente ist der Versicherungsfall der Eintritt der Erwerbsunfähigkeit.
Normenkette
AVG § 24 Fassung: 1957-02-23, § 53 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 41 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1276 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 42 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 1962 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die Klägerin wurde im Oktober 1959 erwerbsunfähig. Die Beklagte nahm an, daß die Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein werde, und bewilligte daher Rente auf Zeit nach § 53 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) vom 20. April 1960 bis 31. Oktober 1961 (Bescheid vom 18. Juli 1960). Sie berechnete die Rente nach neuem Recht, während die Klägerin die für sie günstigere Berechnung nach Art. 2 § 41 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) (Vergleichsberechnung nach altem Recht mit Sonderzuschuß) erstrebt.
Nach dem Gesetz setzt die Vergleichsberechnung u. a. voraus, daß "ab 1. Januar 1957 für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles für mindestens 9 Monate Beiträge entrichtet sind" (Art. 2 § 41 Satz 2 AnVNG) Eine solche Beitragsleistung ist für die Jahre 1957 und 1958 nachgewiesen, sie fehlt dagegen für das Jahr 1959, in welchem die Klägerin nur 2 Monatsbeiträge entrichtet hat. Nach Ansicht der Beklagten ist für die Vergleichsberechnung die Entrichtung von mindestens 9 Monatsbeiträgen aber auch für das Jahr 1959 erforderlich, weil der Versicherungsfall erst im Jahre 1960 eingetreten sei; bei einer vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit trete der Versicherungsfall erst mit dem Beginn der 27. Woche ein.
Das Sozialgericht (SG) Gießen hat die Beklagte verurteilt, die Vergleichsberechnung durchzuführen und die sich dabei ergebende höhere Rente zu zahlen (Urt. v. 26. April 1961). Die Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 8. Februar 1962 zurückgewiesen. Nach der Meinung des LSG beinhaltet § 53 AVG keine besonderen Versicherungsfälle, wie sich aus Wortlaut, Sinn und Zweck der Vorschrift und aus der Systematik des Gesetzes ergebe; da der Versicherungsfall sonach mit dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit im Oktober 1959 zusammenfalle, sei die Vergleichsberechnung nicht von der Entrichtung von 9 Monatsbeiträgen im Jahre 1959 abhängig.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die Urteile des SG und des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung der §§ 23 (gemeint 24), 53 AVG.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II.
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet. Da die übrigen Voraussetzungen einer Vergleichsberechnung nach Art. 2 § 41 AnVNG nach den Feststellungen des LSG unstreitig gegeben sind, hängt die Entscheidung davon ab, ob der Versicherungsfall 1959 oder 1960 eingetreten ist; denn nur, wenn er noch in das Jahr 1959 fällt, kann die Klägerin die Vergleichsberechnung beanspruchen, weil es dann nicht der qualifizierten Beitragsleistung für 9 Monate des Jahres 1959 bedarf.
Der Senat ist mit dem LSG der Auffassung, daß der Versicherungsfall, der hier der wegen vorübergehender Erwerbsunfähigkeit gewährten Zeitrente zugrunde liegt, schon im Jahre 1959 eingetreten ist. Darüber, ob es einen besonderen Versicherungsfall der vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit (Erwerbsunfähigkeit von absehbarer Dauer) und ebenso einen besonderen Versicherungsfall der vorübergehenden Berufsunfähigkeit gibt, gehen die Ansichten im Schrifttum auseinander. (Dafür: Elsholz-Theile, Die gesetzliche Rentenversicherung, Anm. 2 zu Nr. 60; Hoernigk-Jorks, Rentenversicherung, § 1276 der Reichsversicherungsordnung - RVO - Anm. 4; Kübler, Soz. Vers. 1958 S. 92; Malkewitz, WzS 1963 S. 289; Verbandskomm., 6. Aufl. § 1276 Anm. 3. Dagegen: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 671, 712 a; Etmer, Angestellten-Rentenversicherung, § 53 AVG Anm. 2; Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, § 1276, RVO Anm. II; Riechels, Soz. Vers. 1959, Sonderbeilage zu Heft 11 S. 11; Söchting, Soz. Vers. 1961 S. 131, 134 und 1964 S. 356; Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts I. Band, S. 291, 295).
Das ist z. T. darin begründet, daß schon der Begriff des Versicherungsfalles nicht einheitlich verstanden wird. Dieser Begriff wird vom Gesetzgeber zwar wiederholt gebraucht, aber an keiner Stelle erläutert oder normiert. Insoweit hat jedoch bereits der 1. Senat im Urteil vom 25. Oktober 1963 (BSG 20, 48, 50) dargelegt, daß mit dem Begriff Versicherungsfall nicht alle Leistungsvoraussetzungen umschrieben sind; damit werden vielmehr nur die Ereignisse im Leben des Versicherten bezeichnet, gegen deren Nachteile er oder seine Hinterbliebenen geschützt werden sollen. Dieser Auslegung sind der 12. Senat im Urteil vom 28. April 1964 (SozR Nr. 3 zu § 1255 RVO) und der erkennende Senat im Urteil vom 1. Dezember 1964 (SozR Nr. 28 zu Art. 2 § 42 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz - ArVNG -) gefolgt. Hiervon abzugehen bietet der vorliegende Fall keinen Anlaß.
Für die Begrenzung des Begriffs Versicherungsfall auf die Leistungsvoraussetzungen, die den versicherten Bedarfsfall kennzeichnen, spricht nicht nur die gleiche Begriffsdeutung in anderen Versicherungszweigen (vgl. für die gesetzliche Krankenversicherung BSG 20, 129, 131 und für die Privatversicherung Finke, Handwörterbuch des Versicherungswesens S. 2266, Stichwort Versicherungsfall A), sondern vor allem die wohl häufigste Verwendung des Begriffs im Übergangsrecht, wo es darum geht, für Übergangsfälle die maßgebenden Leistungsvoraussetzungen festzulegen. Würden nur alle Leistungsvoraussetzungen insgesamt den Versicherungsfall ausmachen, dann wäre es z. B. nicht möglich, daß nach Art. 2 § 24 Abs. 1 und 2 AnVNG (Art. 2 § 25 ArVNG) "bei Versicherungsfällen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingetreten sind, ...erst durch dieses Gesetz ein Anspruch auf Rente begründet wird"; ebensowenig ließe sich etwa § 89 Abs. 1 Satz 1 AVG (§ 1310 RVO) erklären, wonach "beim Eintritt eines Versicherungsfalles eine Leistung nur aus den Zweigen der Rentenversicherung gewährt wird, deren Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind". Das Übergangsrecht gibt zugleich den Schlüssel, welche Leistungsvoraussetzungen das Gesetz regelmäßig als den Versicherungsfall versteht: Es sind gerade die typischen Bedarfsfälle (Risiken) im Leben des Versicherten, wie vor allem ein bestimmtes Absinken seiner Leistungsfähigkeit, Alter und Tod, die wegen ihrer sozialpolitischen Bedeutung und ihrer zeitlichen Fixierbarkeit bei einer Rechtsänderung der geeignetste Anknüpfungspunkt für das anzuwendende Recht (hinsichtlich der übrigen Leistungsvoraussetzungen) sind. Diese Erwägungen schließen allerdings nicht aus, daß der Begriff Versicherungsfall ausnahmsweise auch anders auszulegen, d. h. mitunter stärker dem Leistungsfall (Erfüllung aller Leistungsvoraussetzungen) anzunähern oder ihm sogar gleichzustellen ist. Weil der Begriff des Versicherungsfalles im Gesetz nicht erläutert und im Schrifttum so unterschiedlich verstanden wird, ist es durchaus möglich, daß er - wie das überdies auch für andere Begriffe im Rentenversicherungsrecht gilt (vgl. etwa den Begriff der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit) - nicht immer die gleiche Bedeutung hat. Im Regelfall beschränkt sich der Begriff des Versicherungsfalles jedoch auf die versicherten Risiken. Daher gibt es zwar keinen Leistungsfall, dem nicht ein Versicherungsfall zugrunde liegt, wohl aber ist es möglich, daß der Versicherungsfall nicht in jedem Fall zu einer Leistung des Versicherungsträgers führt; dazu müssen vielmehr auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sein, von denen das Gesetz Leistungen abhängig macht.
Prüft man hiernach, welche Leistungsvoraussetzungen bei einer wegen vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit gewährten Zeitrente das versicherte Risiko und damit den Versicherungsfall darstellen, so versagen alle Erwägungen, die aus dem Rechtszustand vor 1957, aus der besonderen Übergangsvorschrift in Art. 2 § 21 AnVNG (Art. 2 § 22 ArVNG), aus dem Wortlaut der §§ 23, 24, 53 AVG (1246, 1247, 1276 RVO), aus der systematischen Stellung dieser Vorschriften und aus der angenommenen Sperr- und Umkehrwirkung des Versicherungsfalles Schlüsse ziehen wollen, weil die Ausgangsbasis entweder nicht (mehr) zutrifft oder doch unsicher ist. Mitunter werden auch die Folgen verkannt, welche bei der vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit die eine oder andere Auslegung des "Versicherungsfalles" hat. Für die Entstehung des Rentenanspruchs kommt es z. B. nicht auf den "Versicherungsfall" an, weil die Wartezeit auch bei der Zeitrente "vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit" erfüllt sein muß (§ 24 Abs. 3 AVG), wobei mit "Erwerbsunfähigkeit" immer der in § 24 Abs. 2 AVG beschriebene Tatbestand gemeint ist. Das Vorliegen dieses Tatbestandes, d. h. der Eintritt der Erwerbsunfähigkeit entscheidet auch allein darüber, welche Beiträge bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen sind (§ 32 Abs. 8 AVG) und welche freiwillig nachentrichtet werden dürfen (§ 141 AVG). Der "Versicherungsfall" ist dagegen maßgebend für die allgemeine Bemessungsgrundlage (§ 32 Abs. 2 AVG, wobei der Begriff aber gerade hier u. U. anders auszulegen ist, vgl. das angeführte Urteil des 12. Senats), für die Anrechnung von Ausfallzeiten (§ 35 Abs. 2 und 3 AVG) sowie einer Zurechnungszeit (§ 36 AVG) und für Leistungen für Pflegekinder (§ 39 Abs. 2 Nr. 7 AVG), die nur statthaft sind, wenn das Pflegekindschaftsverhältnis "vor Eintritt des Versicherungsfalles" begründet worden ist. Bei der Auslegung der Beklagten könnte der vorübergehend erwerbsunfähig gewordene Versicherte z. B. bei der Berechnung seiner Zeitrente - im Gegensatz zu dem dauernd erwerbsunfähigen Versicherten - eine 26 Wochen längere Ausfall- oder Zurechnungszeit angerechnet bekommen, während die in der gleichen Zeit zurückgelegten Versicherungszeiten nicht zu berücksichtigen wären; es würde sich ferner der in den §§ 36 Abs. 3 und 37 AVG beschriebene Zeitraum "vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles" - der grundsätzlich mit einer bestimmten Zahl von Pflicht beiträgen belegt sein muß - um 26 Wochen verlängern, was je nach den Verhältnissen es einzelnen Falles für den Versicherten günstig oder ungünstig sein könnte; der Versicherte könnte schließlich noch in den ersten 26 Wochen seiner Erwerbsunfähigkeit ein Pflegekind annehmen und dann zu seiner Zeitrente einen Kinderzuschuß erhalten, den er als dauernd Erwerbsunfähiger nicht bekommen könnte (Zu denken ist ferner an die hier im Vordergrund stehenden Folgen bei der Anwendung des Art. 2 § 41 AnVNG). Diese Betrachtung zeigt, daß die Folgen der einen oder anderen Auslegung keineswegs zur Annahme eines erst mit Ablauf von 26 Wochen eintretenden besonderen Versicherungsfalles der vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit nötigen; sie legen es im Gegenteil nahe, den Versicherungsfall auch dann mit dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit zusammenfallen zu lassen, wenn mit ihrer Behebung in absehbarer Zeit zu rechnen ist, weil ein Grund für die sonst eintretende unterschiedliche Behandlung von dauernd oder vorübergehend erwerbsunfähigen Versicherten nicht ersichtlich ist.
Für diese Auffassung des Senats sprechen ferner die folgenden Überlegungen: Es ist zwar durchaus denkbar, daß man in einer vermutlich bald zu behebenden Erwerbsunfähigkeit ein anderes Risiko (Ereignis) und einen anders gearteten Bedarfsfall sehen kann als in einer Erwerbsunfähigkeit von unabsehbarer Dauer. Desgleichen ist es nicht ausgeschlossen, einen Zeitablauf in den Tatbestand eines Versicherungsfalles einzubeziehen, wie es etwa beim vorzeitigen Altersruhegeld nach § 25 Abs. 2 AVG (1248 Abs. 2 RVO) geschieht, wo zu dem Versicherungsfall neben der Vollendung des 60. Lebensjahres eine Arbeitslosigkeit von einjähriger Dauer gehört. Während dort jedoch ohne den Zeitablauf ein Rentenanspruch nicht entstehen kann, dienen in § 53 Abs. 1 AVG der Zeitablauf von 26 Wochen und die Erwartung der baldigen Behebung der Erwerbsunfähigkeit im Grunde nur dazu, einen sonst nach § 24 AVG zu beurteilenden Anspruch in Beginn und Dauer zu begrenzen, d. h. zu modifizieren. Aus dem Begriff des Versicherungsfalles müssen aber nach Auffassung des Senats alle Umstände herausgehalten werden, die einen Anspruch nicht (oder weniger) dem Grunde nach bestimmen, sondern seinen Beginn, seine Höhe und Dauer beeinflussen oder sich doch als bloße Modifikationen des Grundanspruchs (Stammrechts) verstehen lassen. Die Bedeutung, die der Begriff des Versicherungsfalles überhaupt und namentlich im Übergangsrecht hat, gebietet jedenfalls bei Zweifeln die Auslegung, die ihn nicht unnötig "kompliziert". Der Versicherungsfall soll die typischen Bedarfsfälle, d. h. Ereignisse kennzeichnen, die den Versicherten persönlich betreffen, er soll verhältnismäßig leicht festzulegen (festzustellen) sein und möglichst keinen Raum für willkürliche Verschiebungen des versicherten Wagnisses lassen. Die in § 53 Abs. 1 AVG geforderte Prognose über die vermutliche Dauer der Erwerbsunfähigkeit würde, wenn man der Beklagten folgt, eine vermeidbare Unsicherheit über den Eintritt des Versicherungsfalles herbeiführen; es würde ohne zwingenden Grund Raum für willkürliche Manipulationen im ersten halben Jahr der Erwerbsunfähigkeit gegeben; es würde schließlich ein Zeitablauf von 26 Wochen zum Versicherungsfall gerechnet werden, obwohl dieser Zeitablauf seiner Funktion nach Bagatellfälle (Erwerbsunfähigkeit bis zu einem halben Jahr) von Versicherungsleistungen ausschließen, nicht aber bei vorübergehender Erwerbsunfähigkeit einen erhöhten Bedarf dartun soll.
Ist daher regelmäßig bei allen Renten wegen Erwerbsunfähigkeit und somit auch bei der Zeitrente der Eintritt der Erwerbsunfähigkeit als der Versicherungsfall anzusehen, so besteht auch kein Grund, den Begriff in Art. 2 § 41 AnVNG anders auszulegen, zumal die Verschiebung des Versicherungsfalles um ein halbes Jahr hier zur Folge hätte, daß der Versicherte, um in den Genuß der Vergleichsrente zu kommen, trotz bestehender Erwerbsunfähigkeit u. U. noch weitere Beiträge (bis zu 9 Monatsbeiträgen im Jahr) leisten müßte, was sicher nicht dem Sinn der in Satz 2 der Vorschrift geforderten qualifizierten Beitragsleistung entspricht.
Die Revision der Beklagten ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen