Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmißbrauch im Prozeß
Leitsatz (amtlich)
Die Berufung betrifft nicht die Schwerbeschädigteneigenschaft, wenn für den Antrag, die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit einem Grad von 50 oder mehr vH festzustellen, ohne Zweifel jede sachliche Grundlage fehlt.
Orientierungssatz
1. Ein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, also rechtsmißbräuchlich, ist das Ausnutzen einer von der Rechtsordnung an sich gegebenen Rechtsschutzmöglichkeit oder einer prozessualen Befugnis zu einem der einschlägigen Norm - hier des SGG § 148 Nr 3 - widersprechenden Zweck.
2. Die funktionswidrige Inanspruchnahme der Rechtspflegeeinrichtung ist dadurch abzuwehren, daß angenommen wird, der beabsichtigte Prozeßerfolg sei nicht eingetreten (entsprechend BGB § 162 Abs 2).
Normenkette
SGG § 148 Nr 3 Fassung: 1953-09-03; BVG § 31 Abs 3 S 1 Fassung: 1975-06-09; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18, § 162 Abs 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I
Die Erwerbsbehinderung des Klägers ist wegen seines kriegsbedingten Körperschadens - einem Granatstecksplitter im rechten Lungenunterlappen und im linken Oberarm - mit 30 vH bewertet worden. Diese Bewertung ist verbindlich festgelegt und vom Kläger nicht beanstandet worden. Er strebt eine Anhebung dieser Bewertung aus dem Gesichtspunkt der besonderen beruflichen Betroffenheit an. Deshalb hatte er zunächst eine Aufstockung des Grades seiner Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 vH verlangt, dann aber - in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) und ebenso mit der Berufung - gefordert, die Einschätzung seiner Erwerbseinbuße um 20 vH zu erhöhen. Er beantragte, den Beklagten zur Gewährung einer Beschädigtenrente wegen einer MdE von 50 vH zu verurteilen. Das erweiterte Klagebegehren begründete er damit, daß ihm "die Möglichkeit zur Einlegung der Berufung gewahrt" bleiben müsse. Nach den Ausführungen des Gerichtsvorsitzenden in der Verhandlung vor dem SG müsse er mit der Abweisung der Klage rechnen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Es hat ausgeführt, das Rechtsmittel betreffe nicht eine Schwerbeschädigung des Klägers, sondern lediglich den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (§ 148 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). In dem Prozeßverhalten des Klägers erblickte das LSG den unerlaubten Versuch, sich den Zugang zur Sachprüfung durch das Berufungsgericht zu verschaffen. Dies erweise sich im Blick auf den Sachverhalt. Eine MdE von 20 vH allein für ein besonderes berufliches Betroffensein sei offensichtlich nicht darzutun. Es liege nicht nur kein außergewöhnlich großer beruflicher Nachteil vor. Vielmehr sei der Kläger in dieser Beziehung überhaupt nicht belastet. Den erlernten Beruf eines Hufschmiedes und Wagenschmiedes hätte er aus strukturellen Gründen alsbald nach dem Kriege nicht mehr ausüben können. Andererseits zeige seine jahrelange Tätigkeit als Straßenbauarbeiter, daß er anderen weniger anstrengenden, aber verwandten Berufen des Metallgewerbes trotz des Schädigungsleidens habe nachgehen können. Im übrigen seien auch die Voraussetzungen des § 30 Abs 2 Satz 2 Buchst b des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht erfüllt; für die Annahme einer außergewöhnlichen beruflichen Schädigung in dem zuletzt ausgeübten Beruf fehle es von vornherein an jeglichem Anhalt.
Der Kläger hat Revision eingelegt. Seines Erachtens hätte das LSG nicht durch Prozeßurteil entscheiden dürfen, sondern in der Sache selbst befinden müssen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Urteile sowie der angegriffenen Bescheide zu verurteilen, ihn als Schwerbeschädigten bei gleichzeitiger Anwendung der Vorschrift des § 30 Abs 2 BVG mit entsprechend anzuhebender Gesamt-MdE anzuerkennen, hilfsweise, das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Das LSG hat richtig erkannt, daß die Berufung in einer Angelegenheit der Kriegsopferversorgung nur den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit "betraf" (§ 148 Nr 3 SGG).
Nach dem eigenen Vorbringen des Klägers und nach den von der Revision nicht beanstandeten tatsächlichen Feststellungen durch das Berufungsgericht konnte Streitobjekt nur die Frage sein, ob dem Kläger die Beschädigtenversorgung lediglich wegen einer Erwerbseinbuße um 30 vH zusteht oder ob ihm infolge besonderen beruflichen Betroffenseins (§ 30 Abs 2 BVG) - der Regel entsprechend - eine um weitere 10 vH angehobene Leistungsbehinderung zuzusprechen ist. Bereits die erhöhte, auf 40 vH eingestufte Einschränkung im Arbeitsleben wäre nur verwirklicht, wenn der Kläger in seinem Beruf spezifisch benachteiligt wäre, dh wenn er eine erheblich größere Einbuße als im allgemeinen Erwerbsleben hinnehmen müßte (vgl BSGE 21, 263 ff; 29, 139, 141f).
Damit wäre aber eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit um lediglich 40 vH und nicht um mindestens 50 vH dargetan. Nur wenn letzteres zuträfe oder zutreffen könnte, käme die "Schwerbeschädigung" des Klägers in Betracht (§ 31 Abs 3 Satz 1 BVG). Erst dann wäre ihm das Rechtsmittel der Berufung nicht versperrt (§ 148 Nr 3 SGG). Hierfür ist zu fordern, daß die berufliche Betroffenheit des Klägers nicht bloß eine "besondere", sondern - darüber hinausgehend - eine "außergewöhnlich große" war (BSG, Urteil vom 22. Oktober 1970 - 9 RV 736/69 -; BSG SozR 3100 § 30 Nrn 6 und 34). Dazu ergab sich nach dem ermittelten Sachverhalt nicht der geringste Hinweis. Weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht war ernsthaft mehr zu erwägen als darauf einzugehen, ob der Kläger überhaupt den Tatbestand der besonderen Berufsbelastung erfülle. Schon dies wurde verneint, ohne daß der Kläger hiergegen substantiierte Angriffe vorgebracht hätte.
Sonach hatte es die Berufung mit einem Umfang der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Störung zu tun, der das Ausmaß der Schwerbeschädigung mit Sicherheit nicht erreichte.
Auf diesen durch die Sach- und Rechtslage objektiv gegebenen Berufungsgegenstand - "Streitwert" - hebt es das Gesetz in § 148 Nr 3 SGG ab. Daran vermag der abweichende Prozeßantrag eines Beteiligten nichts zu ändern. Sind der Antrag und der erhobene Anspruch nicht deckungsgleich, dann ist das Gericht ohnehin nicht an die Fassung des Antrags gebunden (§ 123 SGG). Vor allem aber ist für die Zulässigkeit der Berufung allein von Belang, was der Rechtsmittelkläger in Wirklichkeit als sachlich verfolgtes Prozeßziel anstrebt, was er unter den gegebenen Umständen allenfalls wollen kann. Maßgebend ist der materielle "Kern" des gerichtlichen Verfahrens (vgl BSG SozR Nr 6 zu § 146 SGG; Urteil vom 29. Februar 1972 - 4 RJ 237/71 -; BSGE 4, 206, 208; 18, 266, 267). Eine Tragweite, welche die objektive Begrenzung der Rechtsmittelbeschwer sprengte, kann dem Berufungsantrag nicht beigemessen werden. Sonst wäre die Statthaftigkeit der Berufung dem Belieben, ja der Willkür des Rechtsmittelklägers ausgeliefert. Dieser Konsequenz ist namentlich in einer Prozeßordnung zu begegnen, die den kostenfreien Rechtsschutz vorsieht (§ 183 SGG), so daß Rechtsmittel ohne Rücksicht auf ihre Erfolgsaussichten eingelegt werden können (Bundestagsdrucksache II/3415 S 5).
Käme der Fassung des Berufungsantrags - entgegen der hier vertretenen Rechtsansicht - eine größere Bedeutung zu, dann wäre zu beachten, daß der Kläger seinem Prozeßbegehren eine Formulierung gegeben hat, welche durch die Sachlage nicht gerechtfertigt ist. Es wäre ein Ergebnis zu bedenken, das von der Verfahrensordnung nicht gebilligt wird. Denn für den Streit bloß um die Einschätzung der MdE ist die Berufung nicht eröffnet. Die Schwerbeschädigteneigenschaft hat der Kläger aber nur ins Spiel gebracht, um eine Sachurteilsvoraussetzung gezielt herbeizuführen. Dies kann ihm nicht gestattet werden. Sein Vorgehen ist von dem Berufungsgericht zutreffend als ein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben bewertet worden. Ein solcher Verstoß, also rechtsmißbräuchlich ist das Ausnutzen einer von der Rechtsordnung an sich gegebenen Rechtsschutzmöglichkeit oder einer prozessualen Befugnis zu einem der einschlägigen Norm - hier des § 148 Nr 3 SGG - widersprechenden Zweck (Baumgärtel, Zeitschrift für Zivilprozeß - ZZP 69 (1956), 89, 93 f; ZZP 86 (1973), 353, 358). Die funktionswidrige Inanspruchnahme der Rechtspflegeeinrichtung ist dadurch abzuwehren, daß angenommen wird, der beabsichtigte Prozeßerfolg sei nicht eingetreten (entsprechend § 162 Abs 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches -BGB-; Baumgärtel, ZZP 86, 363).
Hiernach hat das LSG die Berufung zu Recht als unzulässig verworfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen