Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewährung von Übergangsgeld bei Arbeitsunfähigkeit oder (und) Nichtausübbarkeit einer ganztägigen Erwerbstätigkeit wegen der Teilnahme an Heilmaßnahmen
Orientierungssatz
1. Der Anspruch auf Übergangsgeld nach § 16 BVG besteht für den Betreuten wegen Teilnahme an einer Badekur auch dann, wenn er schon vor Antritt der Badekur wegen Nichtschädigungsfolgen arbeitsunfähig ist (Anschluß an BSG vom 1978-10-25 9 RV 60/77 = SozR 3100 § 20 Nr 1).
2. Zur Unterscheidung zwischen Arbeitsunfähigkeit und tatsächlicher Verhinderung zur Ausübung einer ganztägigen Erwerbstätigkeit (BVG § 16 Abs 2 BVG iVm § 13 RehaAnglG).
Normenkette
BVG § 16 Abs 1 Buchst a Fassung: 1974-08-07; BVG § 16 Abs 2 Fassung: 1974-08-07; RehaAnglG § 13 Fassung: 1974-08-07; SGG § 67 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 29.05.1980; Aktenzeichen L 2 V 91/78) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 15.02.1978; Aktenzeichen S 7 V 137/77) |
Tatbestand
Die Klägerin (Inhaberin eines Frisiersalons) begehrt Übergangsgeld nach § 16 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Sie bezieht wegen "inaktiver Bauchfelltuberkulose" Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH. Vom 25. November 1975 an war die Klägerin wegen schädigungsunabhängiger Gesundheitsstörungen arbeitsunfähig krank und bezog von der beigeladenen Innungskrankenkasse bis 22. Oktober 1976 Krankengeld. Der Beklagte führte wegen der anerkannten Schädigungsfolgen vom 28. Oktober bis 25. November 1976 eine Badekur durch. Für diese Zeit gewährte die beigeladene Innungskrankenkasse ebenfalls Krankengeld.
Das für die Zeit der Kur beantragte Übergangsgeld lehnte die Versorgungsverwaltung mit der Begründung ab, die Klägerin sei schon vor Kurbeginn wegen Nichtschädigungsfolgen arbeitsunfähig gewesen (Bescheid vom 31. Januar 1977; Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1977).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage wegen Fristversäumnis abgewiesen, die Berufung aber zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt und den Beklagten verpflichtet, für die Dauer der Kurbehandlung Übergangsgeld zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt: Übergangsgeld sei unbeschadet der nichtschädigungsbedingten Arbeitsunfähigkeit nach § 16 Abs 2 BVG zu gewähren. Es handele sich, wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden habe, um einen eigenständigen Anspruch.
Der Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts. In § 16 Abs 2 BVG, so meint der Beklagte, werde eine fiktive Arbeitsunfähigkeit unterstellt. Diese Vorschrift enthalte gegenüber § 16 Abs 1 Buchst a BVG keinen eigenen Anspruchstatbestand. Die schädigungsunabhängige Arbeitsunfähigkeit habe während der Kurbehandlung fortbestanden, sei also nicht durch Maßnahmen der Versorgungsverwaltung verursacht. Zudem hätte ein Grundurteil nur ergehen dürfen, wenn der Anspruch auf Übergangsgeld in einer Mindesthöhe gegeben sei. Das habe das LSG ohne weitere Prüfung unterstellt. Nach einer vorläufigen Berechnung bestünde ein Anspruch auf einen Zahlbetrag nicht.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die
Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin sowie die beigeladene Innungskrankenkasse beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Die beigeladene Bundesrepublik Deutschland stellt keinen Antrag. Sie hält die Revision des Beklagten für begründet. In § 16 Abs 2 BVG werde - so führt die Beigeladene ua aus - eine kausale Verknüpfung zwischen der Teilnahme an einer Rehabilitationsmaßnahme und der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gefordert. Sofern aber wie im vorliegenden Falle der Beschädigte infolge einer Gesundheitsstörung bereits arbeitsunfähig sei, könne die Kur nicht Ursache dafür sein, daß Erwerbstätigkeit nicht ganztätig ausgeübt werden könne.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Der Klägerin steht während der Dauer der Kurbehandlung Übergangsgeld nach den Vorschriften des BVG zu.
Zu Recht hat das Berufungsgericht in der Sache selbst über das Berufungsbegehren der Klägerin entschieden. Darauf ist im gegenwärtigen Rechtszuge einzugehen. Denn bei einer zulässigen Revision sind die unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen auch ohne Revisionsrüge von Amts wegen zu prüfen; dazu gehört auch die Zulässigkeit der Klage (ständige Rechtsprechung des BSG vgl BSGE 2, 225, 277). Sofern jedoch, wie im vorliegenden Falle, das LSG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) bewilligt hat, kann das BSG die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung regelmäßig nicht nachprüfen. Dies folgt aus der Unanfechtbarkeit der Entscheidung über die Wiedereinsetzung nach § 67 Abs 4 Satz 2 SGG (BSGE 13, 61, 62 = BSG SozR Nr 28 zu § 67 SGG).
Den Beschädigten wird nach § 16 Abs 1 Buchst a BVG idF des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974 (BGBl I S 881) -RehaAnglG- Übergangsgeld gewährt, wenn sie wegen einer Gesundheitsstörung, die als Folge einer Schädigung anerkannt ist oder durch eine anerkannte Schädigungsfolge verursacht ist, arbeitsunfähig iS der Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung werden. Daneben ist nach Abs 2 dieser Vorschrift auch der Berechtigte als arbeitsunfähig iS der §§ 16 bis 16f BVG anzusehen, der wegen der Durchführung einer Maßnahme der Heil- oder Krankenbehandlung oder einer Badekur keine ganztätige Erwerbstätigkeit ausüben kann. Der Ansicht des Beklagten sowie der Beigeladenen, der Klägerin stehe ein Anspruch auf Übergangsgeld während der Teilnahme an einer Badekur nicht zu, weil sie zuvor schon wegen schädigungsunabhängiger Gesundheitsstörungen arbeitsunfähig gewesen sei, ist nicht zu folgen.
Nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 25. Oktober 1978 - 9 RV 60/77 - (BSG SozR 3100 § 20 Nr 1), das der in diesem Rechtsstreit geäußerten Kritik standhält, enthält § 16 Abs 2 BVG einen selbständigen Anspruchstatbestand. Seine Voraussetzungen sind erfüllt, wenn der Berechtigte wegen einer Badekur "keine" ganztätige Erwerbstätigkeit ausüben kann. Dann ist er, so schreibt es das Gesetz unmißverständlich vor, "als arbeitsunfähig anzusehen", ohne daß tatsächliche Arbeitsunfähigkeit iS der Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung zu bestehen braucht. Die hier vertretene Auffassung wird durch den Wortlaut des § 13 RehaAnglG bestätigt. Dort wird dem Behinderten bei medizinischen Maßnahmen zur Rehabilitation Übergangsgeld zuerkannt, wenn er entweder arbeitsunfähig iS krankenversicherungsrechtlicher Vorschriften ist oder wegen Teilnahme an einer solchen Maßnahme keine ganztätige Erwerbstätigkeit ausüben kann. Mithin wird neben der Arbeitsunfähigkeit als weitere selbständige Anspruchsvoraussetzung Übergangsgeld auch bei einer tatsächlichen Unmöglichkeit zur Ausübung einer ganztätigen Erwerbstätigkeit zuerkannt. § 13 RehaAnglG ist zwar im Streitfall nicht unmittelbar anzuwenden. Diese Gesetzesbestimmung enthält jedoch, wie überhaupt die Vorschriften im zweiten Abschnitt des RehaAnglG (§§ 9 bis 20), einen einheitlichen Leistungsrahmen, der in die Einzelgesetze transformiert wurde. Dementsprechend wurden die Leistungsvorschriften in den für die einzelnen Rehabilitationsträger geltenden Gesetzen nach den Grundsätzen des zweiten Abschnittes ergänzt (Jung-Preuß, Rehabilitation, Die Angleichung der Leistungen, 2. Aufl 1975, S 9). Die neuen §§ 1ö bis 16f BVG sowie die Streichung des § 17 BVG aF gehen auf § 27 Nr 5 RehaAnglG zurück. Infolgedessen können - ohne gegenteiligen Hinweis des Gesetzes - in § 16 Abs 2 BVG nicht von § 13 RehaAnglG abweichende Leistungsvoraussetzungen gewollt sein.
Die Unterscheidung zwischen Arbeitsunfähigkeit und tatsächlicher Verhinderung zur Ausübung einer ganztätigen Erwerbstätigkeit ist sachangemessen. Arbeitsunfähig ist, wer weder seine letzte Erwerbstätigkeit noch eine ähnliche Arbeit verrichten kann (BSGE 41, 201, 203 = BSG SozR 2200 § 182 Nr 12). Bei der Prüfung, ob Arbeitsunfähigkeit vorliegt, ist lediglich zu fragen, welche Tätigkeit der Versicherte zuletzt verrichtet hat und ob er sie - oder eine ähnlich geartete - nach seinem Gesundheitszustand noch verrichten kann. Wenn und solange dies zu verneinen ist, ist er arbeitsunfähig (BSGE 26, 288, 290 = BSG SozR Nr 25 zu § 182 der Reichsversicherungsordnung -RVO-; BSGE 46, 190, 191 = BSG SozR 2200 § 182 Nr 34). Auf eine andere als die gewohnte Tätigkeit muß sich der Versicherte ausnahmsweise nur dann verweisen lassen, wenn er diese tatsächlich ausübt (BSGE 32, 18 = BSG SozR Nr 50 zu § 182 RVO). Desgleichen ist die Arbeitsunfähigkeit eines Versicherten, der an einer Arbeitserprobung als berufsfördernder Maßnahme teilnimmt, weiterhin nach der vor dieser Maßnahme "zuletzt ausgeübten Erwerbstätigkeit" zu beurteilen (BSGE 47, 47, 51 = BSG SozR 2200 § 182 Nr 34 und BSG SozR 2200 § 1237 Nr 9). Einer Arbeitsunfähigkeit steht demnach nicht die Annahme entgegen, daß außerhalb des letzten Tätigkeitsbereichs Arbeitsfähigkeit gegeben sein kann. Folglich kann ein Arbeitsunfähiger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt iS des § 103 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) verfügbar sein (BSGE SozR 2200 § 1241 Nr 14 und die dort angegebene Literatur). Lediglich beim Bezug von Krankengeld ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 118 Abs 1 Nr 2 AFG). Infolgedessen schließt Arbeitsunfähigkeit nicht begriffsnotwendig die Fähigkeit aus, ganztätig erwerbstätig zu sein. Sonach ist entgegen der Ansicht des Beklagten sowie der Beigeladenen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit, - überhaupt - ganztätig zu arbeiten und der Maßnahme iS des § 16 Abs 2 BVG auch dann gegeben, wenn Arbeitsunfähigkeit iS der Vorschriften der Krankenversicherung vorliegt. Letztere und das Hindernis, "keine" Erwerbstätigkeit ausüben zu können, decken sich nicht.
Schließlich ist nach § 16 Abs 2 letzte Alternative BVG die Gewährung von Übergangsgeld nicht mit dem Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit verknüpft. Vielmehr hat es allein darauf anzukommen, daß dem Berechtigten im Anschluß an eine stationäre Behandlung eine Schonungszeit zugebilligt worden ist. Ursprünglich gehörte das Schongeld zu den nachgehenden Maßnahmen und wurde nur gezahlt, wenn der Betreute nach einer durchgeführten stationären Heilbehandlung zwar arbeitsunfähig war, jedoch noch der Schonung bedurfte (zur Rechtsentwicklung vgl BSGE 48, 23, 25 f = BSG SozR 2200 § 1240 Nr 6). Nach der nunmehr zu § 1240 RVO (entspricht § 16 BVG) entwickelten Rechtsprechung wird allerdings Übergangsgeld auch dann zugestanden, wenn der Versicherte, dem eine Schonungszeit verordnet wird, bei der Entlassung aus der stationären Heilbehandlung noch arbeitsunfähig ist, sofern mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit innerhalb einer kurzen Übergangszeit zu rechnen ist (BSGE 46, 108 = BSG SozR 2200 § 1240 Nr 1). Auch hieraus folgt, daß bei Maßnahmen der Rehabilitation ein Anspruch auf Übergangsgeld unabhängig davon, ob Arbeitsunfähigkeit gegeben ist oder nicht, zustehen kann.
Im übrigen vermag der Senat dem Einwand der Beigeladenen, § 17 Abs 1 BVG aF habe im Gegensatz zu § 16 Abs 1 und 2 zwei deutlich voneinander abgrenzbare und in sich abgeschlossene Anspruchstatbestände vorgesehen, deren Verwirklichung unabhängig voneinander möglich gewesen sei, nicht zu folgen. § 17 Abs 1 BVG aF setzte, wie nunmehr auch § 16 Abs 1 und 2 BVG, begriffsnotwendig eine schädigungsbedingte Einkommenseinbuße voraus. Eine solche konnte entweder durch Arbeitsunfähigkeit oder durch die Art der Heilbehandlung bewirkt werden. Nicht anders sind § 16 Abs 1 und Abs 2 BVG zu verstehen. Der im Unterschied zu § 17 Abs 1 BVG aF in § 16 Abs 2 eingefügte Zusatz "wegen ... keine ganztätige Erwerbstätigkeit ausüben kann" diente lediglich der Klarstellung, weil in dieser Gesetzesvorschrift nunmehr alle Maßnahmen der Heil- und Krankenbehandlung erfaßt sind, also beispielsweise auch eine ambulante Krankenbehandlung. Bei dieser wäre die Ausübung einer ganztätigen Erwerbstätigkeit nicht von vornherein ausgeschlossen. Demgegenüber mußte bei den in § 17 Abs 1 BVG aF genannten Maßnahmen, wie Krankenhausbehandlung, Heilstättenbehandlung oder Badekur eine ganztätige Erwerbstätigkeit von vornherein außer Betracht bleiben. Mithin hatte es seinerzeit einer solchen ausdrücklichen Regelung nicht bedurft.
Überdies ist der Einwand der Beklagten nicht gerechtfertigt, das LSG hätte eine Verurteilung dem Grunde nach nicht vornehmen dürfen, da es ohne weitere Begründung davon ausgegangen sei, daß ein Anspruch auf Übergangsgeld bestehe, ohne hierzu die begründete Wahrscheinlichkeit darzulegen. Richtig ist, daß der Erlaß eines Grundurteils (§ 130 SGG) voraussetzt, daß der Anspruch wenigstens in einer Mindesthöhe gegeben ist (BSGE 13, 178, 181 = BSG SozR Nr 3 zu § 130 SGG). Allerdings genügt es, wenn das Gericht, das die Voraussetzungen des Anspruchs dem Grunde nach im übrigen für gegeben hält, nach den getroffenen Feststellungen als wahrscheinlich ansieht, daß der Anspruch in einer Mindesthöhe besteht (BSG aaO; BSG SozR Nr 4 zu § 130 SGG). Hiervon durfte das LSG ausgehen. Nach seinen unangegriffenen Feststellungen (§ 163 SGG) hatte die Klägerin von der beigeladenen Innungskrankenkasse bis wenige Tage vor Kurbeginn und auch während der Kurdauer Krankengeld bezogen. Infolge der durch das RehaAnglG geschaffenen einheitlichen Bemessung des Übergangsgeldes und des Krankengeldes (§ 13 ff RehaAnglG) bei allen Rehabilitationsträgern war es durchaus wahrscheinlich, daß der Anspruch auf Übergangsgeld auch zahlenmäßig realisierbar ist. Aufgrund dieser Gesetzeslage und des festgestellten Sachverhalts bedurfte es keiner besonderen Feststellungen des Berufungsgerichts mehr. Wenn sich nachträglich, also nach Schluß der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz ergeben sollte, daß kein Zahlbetrag zusteht - was die Revision ua vorträgt -, berührt dies die Rechtmäßigkeit des Grundurteils jedenfalls bei der gegenwärtigen Sach- und Rechtslage nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen