Leitsatz (amtlich)
1. Im Verfahren über eine zusammengefaßte Anfechtungs- und Leistungsklage (SGG § 54 Abs 4) hat das Tatsachengericht seiner Entscheidung die Sachlage zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung zugrunde zu legen (Anschluß BSG 1957-11-28 RJ 166/56 = BSGE 6, 136).
2. Auch ein Unfall, der sich später als der mit einer Rente von weniger als 20% zu entschädigende Unfall ereignet hat ist ein "anderer Unfall" im Sinne des RVO § 559a Abs 3 S 1 (Abweichung RVA GE 5286 = AN 1939, 190 Leitsätze Nr 6 und 7).
Normenkette
RVO § 559a Abs. 3 S. 1 Fassung: 1939-02-17; SGG § 54 Abs. 4
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 27. März 1958 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger hatte bereits in den Jahren 1920, 1930 und 1948 durch Unfälle Verletzungen an Fingern der rechten Hand erlitten, die indessen keine wesentlichen Folgen hinterließen. Am 13. April 1949 quetschte er sich bei der Arbeit den linken Zeigefinger, der bald danach amputiert werden mußte. Wegen dieses Arbeitsunfalls erhielt er von der Beklagten eine vorläufige Rente von zunächst 30 v.H., sodann 20 v.H. der Vollrente bis zum 30. November 1950; damals war die durch die Unfallfolgen bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) auf 10 v.H. abgesunken.
Anfang 1952 beantragte der Kläger, ihm die Unfallrente wieder zu gewähren, da sich der Zustand der linken Hand verschlimmert habe. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, nachdem eine ärztliche Untersuchung ergeben hatte, daß die MdE. infolge des Unfalls vom 13. April 1949 unverändert 10 v.H. betrug und eine meßbare Schädigung durch die früheren Unfälle nicht vorlag. Gegen den Ablehnungsbescheid vom 23. September 1952 legte der Kläger Berufung zum Oberversicherungsamt (OVA.) H ein und machte geltend, seine durch die Unfälle von 1930, 1948 und vom 13. April 1949 hervorgerufene MdE. sei zu niedrig geschätzt worden, er beanspruche hierfür eine Rente von insgesamt 25 v.H. Während des Berufungsverfahrens erlitt der Kläger am 22. März 1953 einen weiteren Arbeitsunfall, für dessen Folgen - Verlust des linken Daumenendgliedes - ihm seither die Hannoversche landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft (BG.) eine Rente von 10 v.H. gewährte. Eine im August 1933 vom OVA. veranlaßte ärztliche Untersuchung ergab, daß die früheren Unfälle keine meßbare MdE. verursachten, daß dagegen der an der linken Hand infolge der Unfälle vom 13. April 1949 und vom 22. März 1953 bestehende Zustand mit 20 bis 25 v.H. zu bewerten war; nach Ansicht des ärztlichen Sachverständigen waren die Folgen der mehreren Unfälle zwar nicht je für sich allein, wohl aber in ihrem Zusammentreffen geeignet, die Erwerbsfähigkeit des Klägers in erheblichem Grade zu beeinträchtigen.
Das OVA. hat am 24. September 1953 die Berufung zurückgewiesen: Eine Rente für den Unfall vom 13. April 1949 stehe dem Kläger nicht zu, da die MdE. sich nur auf 10 v.H. belaufe; die Voraussetzungen für die Gewährung einer sogenannten Gesamtrente nach § 559 a Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Berücksichtigung der übrigen Unfälle seien nicht gegeben.
Die gegen dieses Urteil eingelegte (weitere) Berufung des Klägers ist nach § 215 Abs. 8 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Landessozialgericht (LSG.) Celle übergegangen. In diesem Rechtszug hat der Kläger erklärt, er stütze seinen Anspruch nicht mehr auf die anfänglich behauptete Verschlimmerung der Folgen des Unfalls vom 13. April 1949 und lasse demgemäß seine Einwände gegen den angefochtenen Bescheid für die Zeit bis zum 22. März 1953 fallen; er hat - unter Hinweis auf den weiteren Arbeitsunfall von 22. März 1953 - beantragt, die Beklagte zur Gewährung einer Rente von 10 v.H. wegen des Unfalls vom 13. April 1949 für die Zeit vom 23. März 1953 an zu verurteilen. Die Beklagte hat zur Begründung ihres Antrags auf Zurückweisung der Berufung geltend gemacht, die Voraussetzungen für die Gewährung einer Gesamtrente lägen nicht vor, der Unfall vom 22. März 1953 habe auf die Entscheidung des Rechtsstreits keinen Einfluß.
Mit Urteil vom 27. März 1958 (veröffentlicht in BG. 1959 S. 79) hat das LSG. Celle unter Änderung der Entscheidung des OVA. und des angefochtenen Bescheides die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Rente von 10 v.H. vom 23. März 1953 an zu gewähren: Die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung einer Rente für eine MdE. von weniger als 20 v.H. folge aus § 559 a Abs. 3 RVO. Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit dieser Vorschrift hätten zwar bis März 1953 nicht vorgelegen, denn die vor 1949 eingetretenen Unfälle des Klägers hätten keine meßbare MdE. hinterlassen. Als "anderer Unfall" im Sinne des § 559 a Abs. 3 Satz 1 RVO sei jedoch - entgegen der vom Reichsversicherungsamt (RVA.) in der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5286 (AN. 1939 S. 190) vertretenen Ansicht - der Arbeitsunfall des Klägers vom 22. März 1953 aufzufassen. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 23. April 1958 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22. Mai 1958 Revision eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 559 a Abs. 3 RVO und bezieht sich auf die nach ihrer Meinung zutreffende Grundsätzliche Entscheidung Nr. 5286 des RVA. Sie beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des OVA. H zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach seiner Auffassung entspricht das angefochtene Urteil sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn des Gesetzes.
II.
Die Revision der Beklagten ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Gegen die Statthaftigkeit der Berufung zum LSG., die nur nach den Vorschriften des SGG zu beurteilen ist (vgl. BSG. 1 S. 284), bestehen keine Bedenken, da von der Entscheidung über die Neufeststellung der Dauerrente die Gewährung der Rente abhing (§ 145 Abs. 4 SGG).
Dem vom Kläger angefochtenen Bescheid lag ein Sachverhalt zugrunde, welcher einen Rentenanspruch wegen des Arbeitsunfalls vom 13. April 1949 ausschloß: Die durch diesen Unfall verursachte MdE. betrug nur 10 v.H., eine der Voraussetzungen des § 559 a Abs. 3 bis 5 RVO für die Gewährung einer solchen kleinen Rente lag bis März 1953 nicht vor, was der Kläger im Laufe des Berufungsverfahrens auch eingeräumt hat. Erst mit dem späteren Arbeitsunfall vom 22. März 1953 und der hierdurch hervorgerufenen zusätzlichen MdE. von 10 v.H. änderte sich der zur Zeit der Bescheiderteilung gegebene Sachverhalt derart, daß nunmehr u.U. eine Verpflichtung der Beklagten zur Rentengewährung für den Unfall vom 13. April 1949 entstehen konnte. Das LSG. hat bei seiner Entscheidung diese Änderung der Sachlage berücksichtigt, obgleich der angefochtene Bescheid sich hiermit noch nicht befaßt haben konnte und die Beklagte auch nicht im Laufe des Verfahrens einen weiteren, hierauf Bezug nehmenden Verwaltungsakt erlassen hat. Nach Auffassung des erkennenden Senats ist dies nicht zu beanstanden. Das vom Kläger anhängig gemachte Verfahren betraf eine zusammengefaßte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG); dem Kläger konnte es nicht lediglich auf die Aufhebung des Bescheides vom 23. September 1952 ankommen, mit dem die Beklagte die Wiedergewährung der Rente für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 13. April 1949 abgelehnt hatte, weil die dadurch verursachte MdE. nach wie vor weniger als 20 v.H. betrug; vielmehr trat neben das hierauf gerichtete Klagbegehren das weitere, mit dem der Kläger schlechthin eine Rentengewährung für den Unfall vom 13. April 1949 anstrebte, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür vorlagen. Das Hinzutreten des späteren Unfalls vom 22. März 1953 bewirkte eine Änderung der Sachlage, welche das Leistungsbegehren des Klägers stützen konnte und auf die er sich auch im Verfahren vor dem LSG. berufen hat, während die Beklagte trotz dieses neuen Sachverhalts an ihrem ablehnenden Bescheid festhielt, weil sie der geänderten Sachlage keine rechtliche Bedeutung für das Leistungsbegehren des Klägers beimaß. Das LSG. hatte, da ihm eine zusammengefaßte Anfechtungs- und Leistungsklage vorlag, seiner Entscheidung die Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung zugrunde zu legen (vgl. BSG. 6 S. 136 (141); SozR. SGG § 162 Bl. Da 12 Nr.52; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 6. Aufl. S 240 e, 240 h, 240 i mit weiteren Nachweisen). Es hat demnach mit Recht die erst im Laufe des Verfahrens eingetretene, durch den Unfall vom 22. März 1953 gekennzeichnete Gestaltung des Sachverhalts mit berücksichtigt.
Dabei hat das LSG. den seit dem 22. März 1953 vorliegenden Sachverhalt auch rechtlich zutreffend beurteilt. Die Anwendbarkeit des § 559 a Abs. 5 RVO hat es mit Recht verneint; nach dieser Vorschrift könnte die als Folge des Unfalls vom 13. April 1949 verbliebene MdE. von 10 v.H. zur Bemessung einer Rente nur herangezogen werden, wenn der Kläger für die Folgen dieses Unfalls und der zeitlich vorangegangenen Arbeitsunfälle niemals Rente erhalten hätte (RVA. Grunds. Entsch. Nr. 5286, AN. 1939 S. 190, Grunds. Nr. 11; BSG. 1 S. 174 (179)). Da es bereits an diesem Erfordernis mangelte, bedurfte es keiner Prüfung, ob bei Heranziehung des § 559 a Abs. 5 RVO überhaupt die Beklagte oder nicht vielmehr u.U. die landwirtschaftliche BG. als leistungspflichtig in Betracht käme. Nach Ansicht des LSG. steht dagegen dem Kläger wegen des Unfalls vom 13. April 1949 auf Grund des § 559 a Abs. 3 RVO seit dem 22. März 1953 gegen die Beklagte ein Anspruch auf Gewährung der Rente von 10 v.H. zu, weil der an diesem Tage vom Kläger erlittene Arbeitsunfall als "anderer Unfall" im Sinne der genannten Vorschrift aufzufassen ist. Die Auslegung, die das LSG. damit dem § 559 a Abs. 3 RVO gegeben hat, wird vom erkennenden Senat gebilligt.
Diese Auslegung ist - wie die Beklagte in ihrem Revisionsvorbringen selbst zugegeben hat - "durchaus einleuchtend", wenn zunächst der Wortlaut des § 559 a Abs. 3 RVO als solcher "unbefangen" betrachtet wird. Wie das LSG. zutreffend ausführt, steht dabei § 559 a Abs. 3 Satz 1 im Vordergrund, während Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 außer Betracht bleiben können, da sie lediglich besondere Merkmale für die Abgrenzung des Kreises der zu berücksichtigenden "anderen Unfälle" aufzählen, auf deren Prüfung es hier nicht ankommt. Aus § 559 a Abs. 3 Satz 1 ist dagegen die allgemeine Frage zu beantworten, ob die zeitliche Reihenfolge der einzelnen Unfälle von Bedeutung ist. Die Vorschrift besagt nun, daß für eine durch Arbeitsunfall verursachte MdE. von weniger als 20 v.H. - aber mindestens 10 oder 15 v.H. (RVA. a.a.O. Grundsatz Nr. 2) - eine entsprechende "kleine" Rente nur gewährt wird, solange eine weitere MdE. "infolge eines anderen oder mehrerer anderer Unfälle" besteht. (Daß die durch die einzelnen Unfälle verursachten MdE.-Sätze bei Zusammenrechnung - wie das Gesetz ausdrücklich vorschreibt - wenigstens 20 v.H. erreichen müssen, versteht sich von selbst, da wegen der Außerachtlassung der weniger als 10 betragenden Hundertsätze schon zwei zu berücksichtigende Unfälle zusammen immer wenigstens diese Zahl ergeben.) Der Fassung des Gesetzes ist keinerlei Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, daß es bei dem "anderen Unfall" darauf ankommen könnte, ob dieser sich früher oder später als der mit einer Rente von weniger als 20 v.H. zu entschädigende Unfall ereignet hat.
Dieser völlig losgelöst von der rechtshistorischen Entwicklung gewonnene Eindruck verstärkt sich noch, wenn zum Vergleich das vorhergehende, bis zum 31. Dezember 1938 in Geltung gewesene Recht herangezogen wird. Die 4. Notverordnung vom 8. Dezember 1931 (RGBl. I S. 699) hatte im Fünften Teil, Kapitel II, Abschnitt 1, § 2 die Frage der Rentengewährung für eine MdE. von weniger als 20 v.H. in den für den Vergleich interessierenden Punkten so geregelt, daß Rente bei einem solchen Hundertsatz nicht zu gewähren war (§ 2 Abs. 1), ausnahmsweise jedoch dann gewährt wurde (§ 2 Abs. 2 Satz 1). wenn der Verletzte auf Grund eines früheren Unfalls Anspruch auf bestimmte Geldleistungen der Unfallversicherung hatte. Hier kam es also auf die zeitliche Reihenfolge der einzelnen Unfälle an: Nach dem Gesetzeswortlaut konnte wohl ein früher eingetretener Unfall unter bestimmten Voraussetzungen die Rentengewährung wegen eines später eingetretenen Unfalls ermöglichen, nicht dagegen hatte der spätere Unfall dieselbe Wirkung im Hinblick auf den früheren (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 5. April 1960 - 2 RU 190/59 -). Nach dem Inkrafttreten des 5. Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung (5. ÄndG) vom 17. Februar 1939 (RGBl. I S. 267), das an Stelle der Notverordnung den § 559 a RVO in der jetzt geltenden Fassung einführte, wurde demgemäß alsbald im Schrifttum auf den bedeutsam erscheinenden Unterschied im Gesetzeswortlaut hingewiesen (vgl. Breitbach, "Das Fünfte Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung und die landwirtschaftliche Unfallversicherung", 1939 S. 14 Anm. 4, S 15 Anm. 4 BA). Auch die amtliche Begründung zu Art. 1 Nr. 10 des 5. ÄndG (AN. 1939 S. 99) brachte - allerdings in allgemein gehaltenen Wendungen - zum Ausdruck, daß mit der - im Vergleich zu § 2 des 5. Teiles, Kapitel II Abschnitt 1 der 4. Notverordnung veränderten - Fassung des § 559 a RVO "bisher aufgetretene Härten vermieden" werden sollten, d.h., daß die engen Grenzen, in denen nach dem Notverordnungsrecht eine Rente von weniger als 20 v.H. durch Berücksichtigung der von einem weiteren Arbeitsunfall herrührenden MdE. gezahlt werden durfte, künftig eine Lockerung erfahren würden.
Demgegenüber ist dann aber in den "Grundsätzen zum Recht der kleinen Renten", die das RVA. in der Entscheidung Nr. 5286 (a.a.O., hier Grundsätze Nr. 6 u. 7 nebst Begründung) aufgestellt hat, die Vorschrift des § 559 a Abs. 3 RVO in einer Weise gedeutet worden, die praktisch auf eine weitgehende Übereinstimmung mit der in der 4. Notverordnung getroffenen Regelung hinausläuft. Diese Grundsätze wurden lange Zeit, auch nach dem Kriege, von Rechtsprechung und Verwaltungspraxis befolgt (vgl. Bayer. LVAmt, Breithaupt 1951, S. 666; LVAmt Württemberg-Baden, SozEntsch. IV § 559 a Nr. 2 und 15); seit einigen Jahren sind jedoch in der Rechtsprechung (vgl. LSG. Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1956 S. 797) und im Schrifttum (vgl. Krebs, BG. 1956 S. 521; Schroeder-Printzen, BG. 1959 S. 344) gegenteilige Ansichten geäußert worden, denen auch das angefochtene Urteil - nach Meinung des erkennenden Senats mit überzeugenden Gründen - beigetreten ist.
In den Grundsätzen Nr. 6 und 7 wird die sich aus dem Wortlaut des § 559 a Abs. 3 Satz 1 RVO ergebende Folgerung, daß ein "anderer Unfall" im Sinne dieser Vorschrift auch ein späterer Unfall sein könne, dahin eingeschränkt, daß für einen früheren Unfall zwar dann eine Rente von weniger als 20 v.H. wegen des Hinzutretens des späteren Unfalls zu zahlen sei, wenn die Folgen des früheren Unfalls erst nach dem Zeitpunkt des späteren Unfallereignisses auftreten oder sich (auf 10 oder 15 v.H.) verschlimmern. Die Gewährung einer Rente von weniger als 20 v.H. für den späteren Unfall, wofür der frühere Unfall als "Stütze" dient, soll jedoch nicht ohne weiteres einen Anspruch auf Rente für den früheren Unfall begründen. Diese Grundsätze beruhen, wie sich aus der Begründung ergibt, auf Gedankengängen, die sich eng an das Recht der 4. Notverordnung und die dazu ergangene ältere Rechtsprechung des RVA. anlehnen. Diese Anlehnung erscheint indessen nicht gerechtfertigt.
So ist es schon nicht ganz verständlich, wenn die neue Formulierung "anderer Unfall" mit dem Hinweis auf eine Entscheidung des RVA. (EuM. 33 S. 162) zu erklären versucht wurde, die einer ganz besonderen Sachlage im Zeitpunkt des Inkrafttretens der 4.Notverordnung gerecht werden wollte und deshalb - unter Gesichtspunkten, die beim Inkrafttreten des 5. ÄndG nicht mehr maßgeblich sein konnten - die 4. Notverordnung für einen begrenzten Kreis von Übergangsfällen erweiternd auslegte. Die Schlußfolgerung, auch § 559 a Abs. 3 Satz 1 RVO müsse - trotz des eindeutig und vorbehaltlos geänderten Wortlauts - allein im Hinblick auf jene zur 4. Notverordnung ergangene Entscheidung verstanden werden, erscheint keineswegs zwingend. Desgleichen überzeugt auch nicht, wie das LSG. zutreffend dargelegt hat, der Hinweis des RVA. auf die Begründung zu einem früheren Entwurf des 5. ÄndG; diese Begründung hat in der Formulierung des § 559 a Abs. 3 RVO keinen Niederschlag gefunden. Schließlich vermag der Senat auch nicht der Erwägung des RVA. zu folgen, § 559 a Abs. 3 RVO bringe nicht zum Ausdruck, daß bei Gewährung einer Rente im Hinblick auf einen "anderen Unfall" auch für diesen "anderen Unfall" selbst Rente zu gewähren sei; eine beabsichtigte Änderung des bisherigen Rechts hätte dies aber erfordert. Die vom RVA. vermißte Klarstellung kann vielmehr unbedenklich schon in dem Ersatz des in der Notverordnung verwandten Ausdrucks "früherer" durch den Ausdruck "anderer" erblickt werden. Schon rein begrifflich nötigt die Ausdrucksweise "anderer" zur Vorstellung einer Wechselseitigkeit oder Austauschbarkeit der versicherungsrechtlichen Auswirkungen von mehreren Unfällen untereinander, während die Ausdrucksweise der 4. Notverordnung mit ihrer strengen Betonung der zeitlichen Reihenfolge solche Wechselwirkungen grundsätzlich ausschloß. In der Begründung zum Grundsatz Nr. 7 des RVA. wurde dieser Gesichtspunkt infolge der - wie bereits dargelegt, nicht überzeugenden - Anknüpfung an die Entscheidung in EuM. 33 S. 162 nicht hinreichend gewürdigt.
Kann hiernach der vom RVA. vertretenen Auslegung des § 559 a Abs. 3 RVO schon auf Grund des Gesetzeswortlauts und der rechtshistorischen Entwicklung nicht beigepflichtet werden, so sprechen gegen sie weiter noch die unbilligen Ergebnisse, zu denen sie führt (vgl. Breitbach, "Das Recht der kleinen Renten in der Unfallversicherung", 1939, S. 29 ff. unter VI; Krebs a.a.O.; siehe auch den Entwurf zum Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG), Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucks. 758, § 577 nebst Begründung, S. 56). Auf den hier vorliegenden Streitfall angewendet, würde die Auffassung des RVA. dazu führen, daß der Kläger die Rente von 10 v.H. wegen des Unfalls vom 13. April 1949 zwar erhalten müßte, wenn die durch diesen Unfall verursachte MdE. erst nach dem 22. März 1953 von 20 auf 10 v.H. abgesunken wäre, oder eine Zeitlang weniger als 10 v.H. betragen und erst nach dem 22. März 1953 infolge Verschlimmerung den Grad von 10 v.H. erreicht hätte oder wenn schließlich der landwirtschaftliche Arbeitsunfall sich nicht erst am 22. März 1953, sondern bereits vor dem 1. Dezember 1950 - dem Zeitpunkt, von dem an die Beklagte die Rente von 20 v.H. nicht mehr gewährte - ereignet hätte; weil jedoch tatsächlich die Folgen des Unfalls vom 13. April 1949 seit dem 1. Dezember 1950 unverändert eine MdE. von 10 v.H. bedingen und der spätere Unfall sich in einem Zeitpunkt ereignet hat, der - nach der vom RVA. aufgestellten Systematik - für den "Rentenbeginn" nicht maßgebend war, soll es nach der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5286 nicht mehr zu einer Rentenzahlung für den Unfall vom 13. April 1949 kommen. Diese unterschiedliche Behandlung von Tatbeständen, die hinsichtlich der Entschädigungsbedürftigkeit im wesentlichen übereinstimmen, ist nach Meinung des erkennenden Senats nicht sinnvoll.
Die einschränkende Auslegung des § 559 a Abs. 3 Satz 1 RVO ist mithin - wie auch im angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt worden ist - mit dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift nicht vereinbar. Die Vorschrift soll gewährleisten, daß eine durch Arbeitsunfall hervorgerufene MdE. von weniger als 20 v.H. zwar nicht für sich allein mit Rente entschädigt wird, wohl aber jedenfalls dann, wenn durch die Folgen eines anderen Unfalls der Verletzte zusätzlich so geschädigt wird, daß seine MdE. insgesamt 20 v.H. beträgt; solange dieser Zustand besteht, ist der aus beiden Unfällen verbliebene Schaden mit den jeweils entsprechenden Teilrenten zu vergüten; auf die zeitliche Reihenfolge der einzelnen Unfälle kommt es nach dem richtig verstandenen Sinn des Gesetzes nicht an.
Der Senat hat nicht verkannt, daß bei dieser Auslegung des § 559 a Abs. 3 RVO die in Abs. 5 dieser Vorschrift enthaltene Regelung der "Gesamtrente" erheblich an Bedeutung verliert. Diese Auswirkung erscheint jedoch nicht bedeutsam genug, um zu einer Bestätigung der in den Grundsätzen Nr. 6 und 7 der Entscheidung Nr. 5286 entwickelten Gesetzesauslegung zu nötigen. In der Begründung zum gegenwärtig vorliegenden Entwurf des UVNG (BT-Drucks. 758 a.a.O.) ist übrigens dementsprechend mit Recht eine Übernahme des bisherigen § 559 a Abs. 5 RVO als entbehrlich bezeichnet worden.
Die Revision der Beklagten ist somit unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 58 |
NJW 1960, 1222 |
DVBl. 1961, 345 |