Leitsatz (redaktionell)

Für die Anfechtbarkeit eines Verwaltungsakts kommt es darauf an, daß die Entscheidung der Verwaltungsbehörde rechtlich als Verwaltungsakt zu werten ist.

Hat die Versorgungsverwaltung, nachdem ein früherer Bescheid über die Ablehnung des Anspruches nicht oder erfolglos angefochten worden ist, den Antrag auf Zuerkennung dieses Anspruchs nach sachlicher Prüfung wiederum abgelehnt, so handelt es sich um einen neuen und darum anfechtbaren Verwaltungsakt.

 

Normenkette

KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1955-05-02; SGG § 54 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 16. März 1956 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Bremen zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin, welche an einer Ostitis fibrosa des Beckenknochens und des Pfannendeckels links leidet, stürzte 1943 während eines Fliegeralarms in einen Bombentrichter und verletzte sich auf der linken Seite. Ihren Versorgungsantrag lehnte das Versorgungsamt (VersorgA.) V mit Bescheid vom 7. Juni 1946 ab, weil die Knochenerkrankung des linken Hüftgelenks schon vor dem Unfall bestanden habe und der Unfall damit nicht zusammenhänge. Dieser Bescheid war nach § 3 der Verordnung über das Versorgungswesen vom 2. September 1939 - RGBl. I S. 1686 - endgültig.

1952 wiederholte die Klägerin den Antrag auf Versorgung; das VersorgA. B lehnte ihn nach fachärztlicher Untersuchung der Klägerin mit Bescheid vom 30. Dezember 1952 ab, weil das Hüftgelenksleiden durch den Unfall weder entstanden noch verschlimmert worden sei. Das Sozialgericht (SG.) Bremen wies durch Urteil vom 20. September 1955 die Klage ab, weil sich die Beklagte zu Recht auf § 85 Satz 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) berufen habe. Das Landessozialgericht (LSG.) wies die Berufung der Klägerin zurück. Die Klägerin habe die Jahresfrist des § 85 Satz 2 BVG zur Antragstellung versäumt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand habe sie nicht beantragt. Die Beklagte habe sich am 20. September 1955 auf die Fristversäumnis berufen. Sie habe damit nicht gegen Treu und Glauben verstoßen und habe durch die sachliche Prüfung des Antrags auch nicht auf den Einwand aus § 85 BVG verzichtet. Zwar habe das VersorgA. die Ablehnung des Versorgungsantrags nicht auf die Fristversäumnis nach § 85 BVG gestützt, es habe den Bescheid vom 30. Dezember 1952 aber nicht als Zugunstenbescheid kenntlich gemacht; die Rechtsverbindlichkeit des alten Bescheides lasse daher eine sachliche Prüfung des Anspruchs nicht mehr zu. Das LSG. ließ die Revision zu.

Die Klägerin legte Revision ein und beantragte,

die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Klägerin rügte: In der erneuten sachlichen Bescheidung sei ein Verzicht auf die Rechtsverbindlichkeit des früheren Bescheides zu sehen; die Verwaltung könne sich daher nicht mehr auf § 85 BVG berufen. Daß der Bescheid nicht als Zugunstenbescheid bezeichnet sei, könne ihr nicht zum Nachteil gereichen. Wenn zur Begründung eines Verwaltungsakts auch im Laufe des gerichtlichen Verfahrens Gründe nachgeschoben werden könnten (BSG. 3 S. 209), so sei dies dann nicht zulässig, wenn der Verwaltungsakt dadurch nach Voraussetzung, Inhalt und Wirkung etwas wesentlich anderes werde (BSG. 7 S. 8 (12)). Die nachträgliche Berufung auf die Rechtsverbindlichkeit bedeute eine rechtlich unzulässige Änderung.

Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und, da sie die Klägerin form- und fristgerecht eingelegt und begründet hat, auch zulässig. Sie ist auch sachlich begründet.

Die Klägerin hat den Bescheid des VersorgA. Bremen vom 30. Dezember 1952 angefochten. Mit diesem Bescheid hat die Beklagte den Versorgungsantrag der Klägerin aus sachlich-rechtlichen Gründen abgelehnt; sie hat das Leiden nach Bestand, Entstehungszeit und ursächlichem Zusammenhang mit einer unmittelbaren Kriegseinwirkung unter Beachtung des Ergebnisses einer vorausgegangenen ärztlichen Untersuchung gewürdigt. Der Bescheid enthält also eine sachlich-rechtliche Entscheidung und nicht die Ablehnung des Antrags unter Berufung auf die Rechtsverbindlichkeit einer früheren Entscheidung. Der bindende Bescheid vom 7. Juni 1946, welcher erstmals die Versorgung abgelehnt hat, hat die Versorgungsbehörde nicht gehindert, der Klägerin einen neuen Bescheid zu erteilen; denn die Verwaltungsbehörden sind berechtigt, belastende Verwaltungsakte, auch wenn sie unanfechtbar geworden sind, auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen und neue Verwaltungsakte zu erlassen, welche den Rechtszug erneut oder neu eröffnen (BSG. 10 S. 248); sie dürfen im späteren Bescheid dem Adressaten nur keine höhere Belastung als im vorausgegangenen Bescheid auferlegen. Unerheblich ist, daß die Worte "unter Verzicht auf die Rechtskraft des früheren Bescheides" im Bescheid fehlen, und daß der Bescheid nicht als "Zuungunstenbescheid" bezeichnet ist (BSG. 10 S. 248 (250)). Der Bescheid vom 30. Dezember 1952 enthält die Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts; er ist deshalb ein Verwaltungsakt und als solcher durch Form, Inhalt und Rechtsbehelfsbelehrung auch nach außen zum Ausdruck gebracht.

Der angefochtene Bescheid vom 30. Dezember 1952 ist der Klägerin mit Einschreibebrief vom 2. Januar 1953 (Aufgabe zur Post) zugegangen (§ 135 der Reichsversicherungsordnung - RVO - i. Verb. mit § 1 des Gesetzes über Leistungen an Körperbeschädigte der Freien Hansestadt Bremen - Brem. KBLG -); keiner der Beteiligten hat gerügt, daß diese Zustellung mangelhaft gewesen sei. Mit der Zustellung dieses Bescheides war der frühere Bescheid zurückgenommen und die Verwaltung an den zweiten Bescheid gebunden.

Schönleiter-Hennig, Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG - 1957 -) § 40 Anm. 3 Abs. 2, halten zwar einen Verzicht auf die Bindung lediglich zu dem Zweck, den Rechtszug neu zu eröffnen, entgegen der früheren Rechtsprechung nach heutigem Recht nicht mehr für zulässig, da dies allein "keine Änderung des materiellen Bescheidinhalts" sei. Darauf kommt es aber für die Anfechtbarkeit des Verwaltungsaktes nicht an. Es genügt, daß die neue Entscheidung der Versorgungsbehörde rechtlich als Verwaltungsakt zu werten ist. Hat aber die Versorgungsverwaltung, nachdem ein früherer Bescheid über die Ablehnung des Anspruchs nicht oder erfolglos angefochten worden ist, den Antrag auf Zuerkennung dieses Anspruches nach sachlicher Prüfung wiederum abgelehnt, so handelt es sich um einen neuen Verwaltungsakt, der wie sonst im Verwaltungsrechtsweg anfechtbar ist (BSG. 11 S. 248 ff.). Der angefochtene Verwaltungsakt verstößt auch nicht gegen den zur Zeit seines Erlasses noch geltenden § 30 Abs. 4 des Brem. KBLG vom 26. Juni 1947 (GBl. S. 109) i. Verb. mit § 84 Abs. 3 BVG. Die Versorgungsverwaltung hat zwar den Antrag auf die begehrte Leistung wiederum abgelehnt, sie hat damit aber den früheren bindenden Bescheid nicht "zu Ungunsten" der Klägerin geändert. Auch der Umstand, daß der angefochtene Bescheid vor dem 1. Januar 1954 - Inkrafttreten des SGG - erlassen ist, hindert nicht, ihn als Verwaltungsakt zu behandeln, zumal er alle für diese Beurteilung maßgebenden Merkmale erfüllte.

Dem Erlaß eines neuen Verwaltungsaktes stand auch nicht entgegen, daß der vor dem 1. Januar 1954 ergangene Bescheid nach § 77 SGG bindend gewesen ist. Diese Bindung bedeutete nicht, daß die Regelung der Versorgungsbehörde nunmehr unabänderlich gewesen wäre und die Verwaltung gehindert hätte, zugunsten der Klägerin eine andere Regelung zu treffen. Sie hat einen neuen Verwaltungsakt des vorliegenden Inhalts erlassen dürfen. Diesen müssen die Gerichte wie sonstige Bescheide in vollem Umfange nachprüfen. Das SG. war daher befugt und verpflichtet, über den Bescheid vom 30. Dezember 1952 sachlich-rechtlich und unter Würdigung des ganzen Sachverhalts (§ 128 SGG) zu entscheiden (BSG. 10 S. 248 (251)). Zu Unrecht hat das LSG. die sachlich-rechtliche Nachprüfung des Versorgungsanspruches der Klägerin und des angefochtenen Bescheides unterlassen. Es ist damit dem Anspruch der Klägerin nicht gerecht worden und hat sich zu Unrecht auf § 85 Satz 2 BVG berufen.

Die Beklagte ist auch nicht in der Lage, ihren Bescheid vom 30. Dezember 1952 nachträglich darauf zu stützen, daß die Klägerin die Antragsfrist des § 85 Satz 2 BVG versäumt habe und die Bindung an den früheren Bescheid vom 7. Juni 1946 die Verwaltung gehindert habe, den Versorgungsanspruch neu zu untersuchen. Wenn es auch grundsätzlich zulässig ist, Gründe zur Aufrechterhaltung des angefochtenen Bescheides nachzuschieben, so darf doch dadurch der Bescheid nach Inhalt und Wirkung nicht etwas wesentlich anderes werden (BSG. 3 S. 209 (216) und 7 S. 8 (12); ebenso BVerwG. vom 15.4.1959 in NJW 1959 S. 2033). Die nachgeschobene Begründung würde aber eine Sachentscheidung in eine Entscheidung ohne Prüfung des Sachverhalts umwandeln, mag auch der Ausspruch (Ablehnung des Antrags) unverändert bleiben.

Die Revision ist danach begründet. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Da das LSG. eigene Feststellungen über die Anspruchsvoraussetzungen nicht getroffen hat, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324557

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