Entscheidungsstichwort (Thema)
Wehrdienst. Familienheimfahrt. Baustelle. Umweg. Abweg. Unterbrechung. dienstlicher Zweck. Beweislast
Leitsatz (amtlich)
Wer auf einer Familienheimfahrt ohne erkennbaren Grund eine kilometerlange gesperrte Baustelle statt der daneben verlaufenden öffentlichen Straße befährt, steht für diesen Wegesabschnitt nicht unter Versorgungsschutz.
Normenkette
SVG §§ 80, 81 Abs. 1, 4; RVO § 550
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 1991 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob dem auf der Fahrt zur Kaserne mit dem Motorrad verunglückten Kläger Anspruch auf Soldatenversorgung zusteht, obwohl sich der Unfall auf einer wegen Bauarbeiten gesperrten abgetrennten Verkehrsfläche ereignet hat.
Der 1960 geborene Kläger war von Oktober 1982 bis Ende September 1984 Soldat auf Zeit und zuletzt in einer Kaserne in I.… stationiert. Im Zivilleben wohnte er bei seinen Eltern in K.…. Auf dem Rückweg von dort zur Kaserne benutzte er nach 21.00 Uhr die Autobahn A 46 in Richtung I.…/H.…. Zwischen km 1,1 und 3,591, also etwa 2 1/2 km, befuhr der Kläger die rechte Fahrbahn, obwohl sie wegen Bauarbeiten gesperrt und der gesamte Verkehr auf die Gegenfahrbahn umgeleitet war. Auf dieser Fahrbahn standen Bauwagen und Baufahrzeuge, die umfahren werden mußten; teilweise war die Fahrbahndecke 15 cm tief abgetragen. Bei km 3,591 fuhr der Kläger mit einer Geschwindigkeit von 50 bis 90 km/h auf die Trümmer der dort aufgebrochenen Fahrbahndecke auf. Beim Sturz vom Fahrzeug erlitt er – vor allem im Schädelbereich – erhebliche Verletzungen. An seine Fahrt sowie das Unfallgeschehen kann er sich nicht mehr erinnern.
Das beklagte Land hat den Versorgungsantrag mit Bescheid vom 11. September 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1986 abgelehnt. Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ Köln vom 17. Februar 1989 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 1991). In den Entscheidungsgründen hat das LSG ausgeführt, der Kläger sei einer selbstgeschaffenen Gefahr erlegen; denn sein Fahrverhalten, gemessen an seinem Einsichtsvermögen, sei unvernünftig und leichtsinnig gewesen. Dieser Gesichtspunkt wäre nur dann nicht ausschlaggebend, wenn das Befahren des Baustellenabschnitts ausschließlich dienstlichen Zwecken gedient hätte. Davon habe sich das LSG aber nicht überzeugen können. Es habe sich nicht einmal feststellen lassen, daß für das Fahrverhalten des Klägers dienstliche Motive wenigstens gleichwertig mit dienstfremden Motiven maßgeblich gewesen seien. Insbesondere hätte die Benutzung der gesperrten Fahrbahn weder einen nennenswerten Zeitgewinn noch größere Sicherheit gebracht.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung des § 81 Absätze 1 und 4 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG) sowie von §§ 103 und 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG habe seine Feststellungen zur Dienstbezogenheit der Baustellenfahrt aufgrund unzureichender Ermittlungen bzw unter Überschreitung seines Rechts zur freien Beweiswürdigung getroffen. Außerdem habe es den Begriff der “selbstgeschaffenen Gefahr” verkannt, da es hierfür nicht auf die objektive Gefahrenlage, sondern auf die subjektive Vorstellungsebene des Klägers angekommen wäre. Schließlich habe das LSG die Nichterweislichkeit von Umständen, die für eine innere Beziehung der Baustellenfahrt zum Wehrdienst hätten sprechen können, zu Unrecht dem Kläger angelastet.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 1991 sowie des Urteils des Sozialgerichts Köln vom 17. Februar 1989 und unter Aufhebung des Bescheides vom 11. September 1985 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1986 zu verurteilen, die durch den Verkehrsunfall vom 26. September 1984 verursachten Gesundheitsstörungen des Klägers als Folgen einer Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen und ihm ab 1. September 1984 Rente nach einer entsprechenden Minderung der Erwerbsfähigkeit zu gewähren.
Der Beklagte und die Beigeladene beantragen
Zurückweisung der Revision.
Sie halten das landessozialgerichtliche Urteil für zutreffend.
Sämtliche Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht haben die Vorinstanzen ebenso wie der Beklagte einen Anspruch des Klägers auf Versorgung verneint. In der Begründung ist dem LSG allerdings nur teilweise zu folgen.
Gemäß § 80 Satz 1 SVG erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Wehrdienstbeschädigung ist gemäß § 81 Abs 1 SVG eine gesundheitliche Schädigung, die durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall herbeigeführt worden ist. Als Wehrdienst in diesem Sinn gilt auch das Zurücklegen des mit dem Wehrdienst zusammenhängenden Weges nach und von der Dienststelle (§ 81 Abs 4 Satz 1 Nr 2 SVG). Hat der Soldat wegen seiner Kasernierungspflicht eine Unterkunft am Dienstort, gilt diese Bestimmung auch für den Weg von und nach der Familienwohnung (§ 81 Abs 4 Satz 3 SVG). Der Kläger befand sich zum Unfallzeitpunkt nicht auf einem solchen versorgungsrechtlich geschützten Weg.
Zu Recht ist das LSG nach seinen Feststellungen davon ausgegangen, daß der Weg zwischen den beiden Endpunkten in K.… und I.… grundsätzlich einen geschützten Weg von der Familienwohnung zum Dienstort iS des § 81 Abs 4 Satz 3 SVG darstellte. Das LSG hat auch nicht verkannt, daß die Frage, ob ein versorgungsrechtlich geschützter Weg vorliegt, nach den im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung entwickelten Grundsätzen zu beurteilen ist (vgl BSG SozR 3200 § 81 Nr 24 S 96 ff mwN; vgl auch SozR 3200 § 81 Nr 25 S 101 ff). Zu Unrecht hat das LSG aber offengelassen, ob sich der Kläger im Augenblick des Unfalls noch auf dem geschützten Weg befand oder ob er sich zu diesem Zeitpunkt dadurch vom Dienst gelöst hatte, daß er die Zurücklegung dieses Weges im Rechtssinne unterbrochen hatte. Bei der Prüfung der Frage, ob ein Fall der sogenannten “selbstgeschaffenen Gefahr” (vgl dazu BSG SozR 2200 § 548 Nr 60 S 163 mwN) vorliegt, ist zu untersuchen, ob der unfallträchtige Weg (bzw die Verrichtung der unfallbringenden Tätigkeit ≪vgl BSG aaO und BSGE 64, 160, 161≫) ausschließlich dem geschützten Zweck dient oder ob zusätzlich eigenwirtschaftliche, dh im Unfallversicherungsrecht betriebsfremde, im Soldatenversorgungsrecht wehrdienstfremde Zwecke verfolgt werden, so daß eine “gemischte Tätigkeit” (vgl dazu Brackmann, Sozialversicherungsrecht, S 484i, 481r, 480q, 486 f) bzw ein “gemischter Weg” vorliegt. Lassen sich solche eigenwirtschaftlichen Einflüsse auf das Verhalten bei der Zurücklegung des Weges nicht feststellen, so schließt selbst ein in hohem Grade vernunftwidriges Verhalten des Betroffenen den versicherungs- bzw versorgungsrechtlichen Schutz nicht aus. Ist dagegen der zum Unfallzeitpunkt benutzte Weg auf Grund seiner objektiven Beschaffenheit überhaupt kein Dienst- oder Arbeitsweg – wie im Fall des erheblichen Umwegs oder des Abweges, für dessen Wahl sich betriebsbezogene (dienstliche) Beweggründe nicht feststellen lassen –, so bleibt dieser Weg bzw Wegeabschnitt schon deswegen ungeschützt, ohne daß es auf die “selbstgeschaffene Gefahr” noch ankäme. So liegt der Fall hier.
Zum Unfallzeitpunkt befand sich der Kläger nicht mehr auf einem geschützten Weg. Nach den Feststellungen des LSG benutzte er zur maßgebenden Zeit eine abgegrenzte, für den öffentlichen Verkehr nicht freigegebene mehrere Kilometer lange Baustelle. Die Benutzung dieses Fahrbahnabschnittes hätte nur dann unter Versorgungsschutz stehen können, wenn sie in innerem Zusammenhang mit dem Dienst oder der Zurücklegung des geschützten Weges gestanden hätte. Bei der Feststellung dieses inneren Zusammenhangs zwischen dem zum Unfall führenden Verhalten und dem Wehrdienst geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versorgungsschutz reicht. Dies ist wertend zu entscheiden (so für den Bereich der Unfallversicherung BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 1 S 2 ff). Daß sich das LSG angesichts der Erinnerungslücken des Klägers außerstande gesehen hat, Feststellungen über die Motivation des Klägers für das Verlassen des öffentlichen Verkehrsraums zu Gunsten der Baustelle zu treffen, geht nicht zu Lasten der Versorgungsverwaltung. Erst wenn sich der Unfall auf einem zu geschützten Zwecken verfolgten Weg ereignet, geht es zu Lasten des Trägers, wenn sich eigenwirtschaftliche Gründe nicht feststellen lassen (vgl SozR Nr 10 zu § 543 RVO aF). Für die Qualifizierung einer zurückgelegten Strecke als Heimweg ist maßgeblich die Handlungstendenz des Versicherten, wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird (st Rspr des Unfallsenats: vgl die Nachweise in BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 4; zuletzt Urteil vom 25. Juni 1992 – 2 RU 31/91 – NJW 1993, 87). Den objektiven Umständen des Falles konnte das LSG zuverlässig entnehmen, daß die Handlungstendenz des Versicherten durch die Zurücklegung eines Weges bestimmt war, für den – unbeschadet des grundsätzlich frei wählbaren Verkehrsmittels und der im Rahmen des Vertretbaren auch freien Wahl der Wegstrecke – der Geschädigte unter Rechtfertigungszwang steht, weil er den öffentlichen Verkehrsraum verlassen hat. Dies ist grundsätzlich eine Unterbrechung. Äußere Umstände und Gegebenheiten sowie die objektive Angemessenheit der Wegewahl sind dabei geeignete Sachverhalte, die Rückschlüsse auch auf die innere Handlungstendenz zulassen (vgl BSG SozR 3-2200 § 550 Nrn 5 und 6).
Der hier zu entscheidende Fall ist rechtlich einem Umweg vergleichbar, auf dem der Betroffene die Absicht hat, auf den direkten Weg zurückzukehren (vgl hierzu Watermann/Lauterbach, RdZiff 19 Buchst m zu § 550 RVO; Brackmann, aaO S 486 m I ff; vgl auch BSGE 4, 219, 222). Zwar liegt nach den Feststellungen des LSG kein Umweg im Wortsinn vor, weil die Wegstrecke auf beiden Fahrspuren praktisch gleich lang war (die Verlängerung des Weges durch die sogenannte “Fahrbahnverschwenkung” hat als geringfügig außer Betracht zu bleiben). Nach Sinn und Zweck der zum Umweg ergangenen Rechtsprechung bestehen aber keine Bedenken dagegen, den Fall der Benutzung einer als Baustelle gesperrten Fahrspur einem erheblichen Umweg gleichzustellen, jedenfalls wenn diese Wegewahl erhebliche, auf der üblichen Wegstrecke nicht vorhandene Gefahren mit sich bringt. Beim Umweg wird, obwohl der Weg auf den Endpunkt des geschützten Weges zuführt, der Versicherungsschutz wegen der objektiven Erhöhung der Wegegefahr ausgeschlossen, wenn sich für seine Benutzung sprechende Umstände aus dem Bereich der geschützten Tätigkeit nicht feststellen lassen. Entsprechendes gilt für die Fahrt auf einer abgesperrten Straßenbaustelle Solange ein für das Zurücklegen des Weges gerade auf dieser gefährlichen Strecke dienender betrieblicher Zweck – auch aus den objektiven Umständen – nicht zu erkennen ist, gilt der sozialrechtlich geschützte Weg insoweit als unterbrochen. Lassen sich solche betriebsbezogenen Umstände nicht feststellen, so trifft der Nachteil der Beweislosigkeit – wie beim Umweg – nicht den Sozialleistungsträger, sondern den Benutzer der gefährlichen Wegstrecke. Dabei ist nicht ausschlaggebend, daß der Betroffene gegen ein Verbot verstoßen hat. Vielmehr gilt im Versorgungsrecht – auch ohne eine der Vorschrift des § 548 Abs 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) vergleichbare Norm – der Grundsatz, daß verbotswidriges Handeln nicht den ursächlichen Zusammenhang zwischen geschützter Tätigkeit und der durch das verbotene Verhalten mitverursachten Schädigung auszuschließen braucht (vgl dazu zB SozR 3200 § 81 Nr 16 auf S 64). Der Betroffene verliert bei dem hier umschriebenen Unterbrechungstatbestand den Versorgungsschutz nur deswegen, weil für die gewählte unübliche Wegstrecke ein dienstbezogener Grund nicht erkennbar ist.
Mit der Entscheidung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu der zurückliegenden Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. Juli 1958 (SozR Nr 10 zu § 543 aF). In dem damals entschiedenen Fall besaß der Versicherte nämlich ein betriebsdienliches Motiv für die Benutzung der gesperrten – kürzeren – Wegstrecke. Ebensowenig weicht der Senat von der Entscheidung des BSG vom 31. Oktober 1972 (Az 2 RU 118/71 – USK 72182) ab. In dem seinerzeit entschiedenen Fall war die für den öffentlichen Verkehr freigegebene Fahrspur einer Autobahn – möglicherweise unter Alkoholeinfluß – in falscher Fahrtrichtung befahren worden. Das BSG hat seinerzeit die Wahlfeststellung des LSG zwischen selbstgeschaffener Gefahr und Trunkenheitsfahrt gebilligt. Das LSG hatte dabei festgestellt, daß, wenn der Kläger nicht infolge Trunkenheit enthemmt gewesen sein sollte, er seine eigene Gefährdung und die anderer Verkehrsteilnehmer bewußt auf sich genommen hatte. Es waren also seinerzeit, anders als hier, wahlweise eigenwirtschaftliche bzw betriebsfremde Motive für die Benutzung der Gegenfahrbahn festgestellt worden.
Der vorliegende Fall ist indessen nach den vom Senat vorstehend aufgestellten Grundsätzen zu beurteilen, wonach der Kläger zum Unfallzeitpunkt den geschützten Weg unterbrochen hatte. Nach den – vom Kläger nicht wirksam angegriffenen – Feststellungen des LSG hat die Benutzung der wegen Bauarbeiten gesperrten Fahrbahn, auf welcher jeder Benutzer mit unerwarteten Hindernissen und Gefährdungen rechnen mußte, keinerlei erkennbaren dienstlichen Zwecken gedient. Sie versprach, verglichen mit der angezeigten Benutzung der Gegenfahrbahn, weder einen merklichen Zeitgewinn noch eine erhöhte Sicherheit. Zu Unrecht greift der Kläger diese Feststellungen des LSG an. Das LSG hat die von ihm erhobenen Beweise (ua Verwaltungsakten des Beklagten, Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft, Akten des Sozialgerichts mit den Aussagen der von diesem vernommenen Zeugen, Kartenmaterial und das von ihm eingeholte verkehrstechnische Gutachten) nachvollziehbar und ohne Verstoß gegen sein Recht zur freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) verwertet. Auch ein Verstoß gegen seine in § 103 SGG festgesetzte Ermittlungspflicht liegt nicht vor. Es ist nicht ersichtlich, welche weiteren Ermittlungsmaßnahmen das LSG noch hätte anstellen sollen, zumal andere als die vernommenen Zeugen nicht vorhanden waren und der Kläger sich selbst an den Unfallhergang nicht erinnern kann. Der Kläger hat denn auch selbst keine konkreten Ermittlungsmaßnahmen benannt, die das LSG noch hätte ergreifen können und sollen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen