Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Verfahrensfehler liegt jedenfalls dann vor, wenn das LSG auf die Einwendungen des Klägers, Dr H habe ihm gegenüber Angaben gemacht, die mit seinem schriftlichen Gutachten in Widerspruch stünden, im Urteil überhaupt nicht eingegangen ist. Wenn sich das LSG trotz dieser Einwendungen bei seiner Entscheidung auf dieses Gutachten stützen wollte, etwa weil ihm das schriftliche Gutachten maßgebend erschien, so hätte es auf die Einwendungen des Klägers eingehen und dartun müssen, weshalb sie auch ohne Rückfrage bei Dr H nicht geeignet seien, die Beweiskraft des schriftlichen Gutachtens zu beeinträchtigen.
2. Zur Pflicht des Gerichts, Einwendungen des Klägers gegen ein Gutachten sachentsprechend zu würdigen.
Normenkette
SGG § 103 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 106 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. April 1964 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Nachdem ein Antrag des Klägers auf Anerkennung eines Magenleidens als Wehrdienstbeschädigung mit Bescheid vom 8. Juli 1949 abgelehnt worden war, beantragte der Kläger 1959 erneut Beschädigtenrente wegen dieses Leidens. Mit Bescheid vom 17. Juli 1959 wurde der Antrag unter Hinweis auf den früheren rechtskräftigen Bescheid abgewiesen, mit weiterem Bescheid vom 13. August 1959 aus sachlichen Gründen abgelehnt. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Im Berufungsverfahren wurde zunächst auf Antrag des Klägers gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Dr. B gutachtlich gehört und sodann von Amts wegen ein Gutachten von Dr. B/Dr. H (Dr. B./Dr. H.) vom 9. März 1964 eingeholt. Mit Urteil vom 8. April 1964 wies das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurück. Nach dem Gutachten vom 9. März 1964 könne ein ursächlicher Zusammenhang des Magenleidens mit Einflüssen des Wehrdienstes nicht wahrscheinlich gemacht werden. Es seien weder Zeichen einer chronischen Leberentzündung (Hepatitis) noch einer sonstigen Leberschädigung festgestellt worden; die wesentlichen gastritischen Beschwerden seien erst nach dem Krieg aufgetreten; die Gastritis sei anlagebedingt.
Die früheren Prozeßbevollmächtigten des Klägers haben Revision eingelegt, danach aber die Vertretung niedergelegt. Mit Beschluß des Senats vom 10. Dezember 1965 - dem Kläger zugestellt am 4. Januar 1966 - wurde dem Kläger das erbetene Armenrecht verweigert, da er nicht arm im Sinne des Gesetzes ist; gleichzeitig wurde die Revision wegen nicht formgerechter Begründung als unzulässig verworfen.
Mit Schriftsatz vom 31. Januar 1966, eingegangen am 1. Februar 1966, haben die nunmehrigen Prozeßbevollmächtigten des Klägers vorgetragen, daß der Kläger zu dem Gutachten vom 9. März 1964 keine Einwendungen habe erheben können, weshalb eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliege. Am 3. Februar 1966 wurde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und erneut Revision eingelegt. Diese wurde mit Schriftsatz vom 28. Februar 1966, eingegangen am 1. März 1966, dahin begründet, der Kläger habe im Berufungsverfahren Bedenken gegen das Gutachten von Dr. B./Dr. H. erhoben und vor allem darauf hingewiesen, daß der Mitunterzeichner des Gutachtens, Dr. H, dem Kläger gegenüber nach der Untersuchung Angaben gemacht habe, die mit dem Gutachten im Widerspruch stünden. Angesichts dieses Sachverhalts hätte das LSG sich nicht damit begnügen dürfen, das Gutachten zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen, sondern hätte Dr. H und evtl. auch Dr. B persönlich laden müssen. Hierbei wäre eine Gegenüberstellung mit dem Kläger notwendig gewesen. Dies sei nicht geschehen, der Kläger habe zum Termin nicht selbst erscheinen können. Sein persönliches Erscheinen sei auch nicht angeordnet gewesen, weil er erkrankt gewesen sei. Da das beanstandete Gutachten zur Grundlage der Entscheidung gemacht worden sei, liege in der unterbliebenen Aufklärung ein Verfahrensmangel.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen. Das LSG habe den Sachverständigen nicht vernehmen müssen, da das schriftliche Gutachten maßgebend sei.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 164, 166 SGG). Dem Kläger war Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da er innerhalb eines Monats nach Zustellung des Armenrechtsverweigerungsbeschlusses den Wiedereinsetzungsantrag gestellt und - nach Verwerfung der Revision durch den Beschluß des Senats vom 10. Dezember 1965 (vgl. insoweit BSG in SozR Nr. 6 zu § 67 SGG) - entsprechend dem Hinweis des Senatsvorsitzenden vom 2. Februar 1966 erneut formgerecht Revision eingelegt sowie diese binnen eines weiteren Monats begründet hat (vgl. BSG in SozR Nr. 19 zu § 67 SGG). Die nicht zugelassene Revision ist sonach zulässig; sie ist auch statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Mit dem Vorbringen des Klägers, er habe im Berufungsverfahren darauf hingewiesen, daß Dr. H ihm gegenüber Angaben gemacht habe, die mit dem Gutachten im Widerspruch stünden, das LSG hätte sich nicht damit begnügen dürfen, dieses Gutachten zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen, ist in noch ausreichender Form gerügt, daß das LSG auf diese Einwendungen des Klägers im Urteil überhaupt nicht eingegangen ist.
Der Kläger hat mit Schriftsatz an das LSG vom 3. April 1964 vorgetragen, Dr. H habe ihm nach Durchführung einer Laparoskopie und einer Saugbiopepsie erklärt, bei ihm, dem Kläger, sei "schon etwas zurückgeblieben", die durchgemachte Gelbsucht sowie die Magen- und Darmerkrankung hätten die vorhandenen Leiden hinterlassen; daraus habe er schließen müssen, seine Erkrankung werde als KB-Folge anerkannt. Außerdem habe ihm die Sekretärin am 3. März 1964 erklärt: "jetzt wird es schon klappen". Das Gutachten vom 9. März 1964 hat im Gegensatz hierzu die Wahrscheinlichkeit, daß die chronische Gastritis auf Einflüsse des Wehrdienstes im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung zurückzuführen ist, verneint und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) durch KB-Folgen mit 0% beurteilt. Wenn sich das LSG trotz der Einwendungen des Klägers bei seiner Entscheidung auf dieses Gutachten stützen wollte, so hätte es dies zumindest zum Ausdruck bringen, d. h. auf diese Einwendungen des Klägers eingehen und dartun müssen, weshalb sie auch ohne Rückfrage bei Dr. H nicht geeignet seien, die Beweiskraft des schriftlichen Gutachtens zu beeinträchtigen; dies umsomehr , als der Kläger vorgetragen hatte, Dr. H könne von der Richtigkeit dieses Gutachtens nicht überzeugt gewesen sein, nachdem er ihm gegenüber das Gegenteil ausgesprochen habe. Zwar mußte das LSG nicht der Meinung sein, daß diese Auffassung des Klägers zutraf. Eine Rückfrage bei dem Gutachter, die in einem solchen Falle angezeigt gewesen wäre, hätte möglicherweise ergeben, daß der Kläger Dr. H mißverstanden hat; es ist auch nicht unwahrscheinlich, daß Dr. H nach Auswertung aller Untersuchungsergebnisse oder nach Rücksprache mit dem Mitgutachter, Oberarzt Dr. B, später zu einem anderen Ergebnis gelangt ist. Es war aber andererseits auch nicht ausgeschlossen, daß Dr. H, wenn ihm die Behauptungen des Klägers vorgehalten worden wären, vielleicht auf gewisse Zweifel an der Eindeutigkeit der Diagnose hingewiesen und das LSG hiernach einen anderen Eindruck von der Beweiskraft des Gutachtens gewonnen hätte. Es heißt im Gutachten, daß sowohl die Laparoskopie als auch die histologische Untersuchung des bioptisch gewonnenen Lebergewebes eine Fettleber ergeben hätten, die Traubenzucker-Doppelbelastung nach Staub-Traugott habe jedoch für eine prädiabetische Stoffwechsellage (als Anzeichen eines anlagebedingten Leidens) gesprochen. Dieser Teil des Gutachtens könnte dafür sprechen, daß sich die Gutachter möglicherweise erst im Verlauf weiterer Untersuchungen ein anderes Bild von der Art der Erkrankung des Klägers gemacht und danach die Zusammenhangsfrage anders als vorher beurteilt haben. Die Frage, ob sich damit die Einwendungen des Klägers etwa bereits ohne Rückfrage bei Dr. H als glaubhaft erwiesen oder ob andererseits der Inhalt des Gutachtens dafür sprach, daß der Kläger lediglich durch eine verfrühte Mitteilung des Dr. H zur Annahme eines Widerspruchs gelangte, war damit aber nicht eindeutig geklärt, zumal man davon ausgehen muß, daß der Kläger, der 9 Tage stationär beobachtet worden ist, bis zum Abschluß der Untersuchungen noch zugegen war und daß im allgemeinen der Gutachter dem Patienten vorher nichts über das Ergebnis der Untersuchungen mitteilt bzw. eine verfrüht angegebene falsche Diagnose berichtigt. Zumindest hätten diese Fragen aber vom LSG erörtert werden müssen, weil sie für die Beweiskraft des Gutachtens von Bedeutung waren. Das Gericht muß zwar nicht auf jedes einzelne Vorbringen eines Beteiligten ausdrücklich eingehen, aus dem Urteil muß sich jedoch ergeben, daß das Berufungsgericht alle für seine Entscheidung maßgebenden Umstände - hierzu gehörte auch der vom Kläger behauptete Widerspruch - sachentsprechend gewürdigt hat (BSG 1, 91). Wenn das LSG stattdessen diese wesentlichen Einwendungen einfach übergangen hat, so liegt hierin ein wesentlicher Verfahrensmangel, da nicht ersichtlich ist, daß sich das Gericht seine Überzeugung insoweit aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet hat (vgl. BSG in SozR Nr. 8 zu § 128 SGG).
Dieser Verstoß gegen § 128 SGG macht die Revision bereits statthaft, weshalb nicht mehr geprüft zu werden brauchte, ob auch noch weitere Verfahrensmängel vorliegen. Die Revision ist auch begründet, da die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß das LSG, wenn es sich mit den Einwendungen des Klägers auseinandergesetzt hätte, zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Der Senat konnte mangels ausreichender verfahrensrechtlich einwandfrei zustandegekommener Feststellungen in der Sache nicht selbst entscheiden. Daher war der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen