Leitsatz (amtlich)
Die Zeit der privaten Vorbereitung auf die Reifeprüfung mit Hilfe eines Fernunterrichtslehrgangs kann nicht als weitere Schulausbildung iS der AVG § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b ( = RVO § 1259 Abs 1 Nr 4 Buchst b) angesehen werden.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. September 1972 aufgehoben, soweit ihre Berufung zurückgewiesen wurde.
Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
In dem vorliegenden Rechtsstreit geht es jetzt nur noch darum, ob die Zeit vom 1. Juni 1967 bis 30. September 1968 während der sich die Klägerin in Deutschland mit Hilfe eines Fernunterrichtlehrgangs auf die als Nichtschüler abgelegte Reifeprüfung vorbereitet hat, als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (weitere Schulausbildung) in ihre Versicherungskarte einzutragen ist.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) war die im Mai 1941 geborene Klägerin nach dem Besuch der Realschule (1951 bis 1957), dann der Höheren Handelsschule (zwei Jahre) und anschließendem einjährigen Amerikaaufenthalt von April 1960 bis Ende September 1966 angestelltenversicherungspflichtig beschäftigt. Vom 1. Oktober 1966 bis zum 10. Juni 1967 hielt sie sich in Spanien auf, wo sie sich - neben Teilnahme an einem spanischen Sprachkursus - täglich fünf Stunden auf das Abitur vorbereitete. Anschließend setzte sie in Deutschland diese Vorbereitungen mit Hilfe eines 1963 von dem H Fernlehrinstitut W S KG. käuflich erworbenen Fernunterrichtlehrgangs - bei einer täglichen Vorbereitungszeit von 10 bis 12 Stunden - bis zur erfolgreichen Reifeprüfung am 30. September 1968 fort. In der Folgezeit wurden wiederum Pflichtbeiträge für die Klägerin entrichtet, bis sie im April 1970 mit dem Studium der Zahnmedizin begann.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 23. Februar 1971 den Antrag der Klägerin, die Zeit vom 1. Oktober 1966 bis 30. September 1968 als Ausfallzeit vorzumerken, abgelehnt, weil die Teilnahme an einem Fernkursus nicht als Schulausbildung im Sinne des Gesetzes anzusehen sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg. Das Sozialgericht (SG) gab ihrer Klage statt. Das LSG wies die Klage ab, soweit die Beklagte verurteilt worden war, die Zeit vom 1. Oktober 1966 bis 31. Mai 1967 als Ausfallzeit in die Versicherungskarte der Klägerin einzutragen; im übrigen wies es die Berufung der Beklagten zurück.
Nach der Ansicht des LSG ist die Teilnahme an einem Fernunterrichtlehrgang zur Vorbereitung auf das Abitur als Schulausbildung im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG anzusehen, auch wenn das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26. April 1968 (SozR Nr. 33 zu § 1267 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) eine andere Auffassung erkennen lasse. Nach dem Sinn des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG solle ein Versicherter entschädigt werden, der sich aus volkswirtschaftlich erwünschten Gründen zunächst eine gründlichere Ausbildung verschafft habe und deshalb keine Beitragszeiten erwerben konnte. Unter diesen Umständen sei das Abitur nach Fernunterricht dem Abitur nach Ausbildung am Gymnasium gleichwertig; es sei daher nicht einzusehen, weshalb beide Ausbildungen nicht gleichbehandelt werden sollten. Dafür spreche auch, daß nach den neueren Vorschriften über die individuelle Ausbildungsförderung die Teilnahme an einem Fernunterrichtlehrgang unter bestimmten Voraussetzungen als förderungswürdig anerkannt sei. Daraus sei die grundsätzliche Anerkennung des Fernunterrichts als Schulausbildung zu folgern. Allerdings könne nur die Zeit vom 1. Juni 1967 bis 30. September 1968 als Ausfallzeit anerkannt werden, weil der Klägerin in dieser Zeit neben der Ausbildung eine Erwerbstätigkeit nicht möglich gewesen sei. Das gelte aber nicht für die in Spanien verbrachte Zeit vom 1. Oktober 1966 bis 31. Mai 1967, in der sie vormittags zumindest halbschichtig einer Erwerbstätigkeit hätte nachgehen können.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte (sinngemäß), das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit ihre Berufung zurückgewiesen worden ist, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Beklagte rügt die Verletzung von § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG. Nach der Rechtsprechung des BSG werde die Schulausbildung vor allem durch den regelmäßigen Unterricht durch ausgebildete Lehrkräfte gekennzeichnet. Diese und andere notwendige Voraussetzungen seien aber bei einem Fernunterrichtlehrgang zur Vorbereitung auf das Abitur nicht erfüllt. Das BSG habe bereits in dem vom LSG genannten Parallelfall (SozR Nr. 33 zu § 1267 RVO), bei dem es sich um einen Lehrgang desselben Instituts gehandelt habe, die Teilnahme am Fernunterricht nicht als Schulausbildung angesehen. Die vom LSG gegen diese Entscheidung vorgebrachten Einwände seien nicht überzeugend und fänden auch keine Stütze in den neueren gesetzlichen Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes. Wenn dort unter gewissen Voraussetzungen Fernunterricht der Schulausbildung gleichgestellt werde, so folge hieraus nur, daß der Gesetzgeber den Fernunterricht zwar unter bestimmten Voraussetzungen für förderungswürdig ansehe, daß er aber zwischen Schulausbildung schlechthin und Fernunterricht klar unterscheide, denn andernfalls hätte es solcher Gleichstellung nicht bedurft. Zur Erfüllung eines Ausfallzeittatbestandes im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG seien klar abgrenzbare und beweisbare Tatsachen Voraussetzung; bei einem Fernunterrichtlehrgang fehle es an der Möglichkeit derartiger Nachweise.
Die Klägerin ist vor dem BSG nicht vertreten; sie hat sich jedoch ebenso wie die Beklagte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Ob die jetzt noch streitige Zeit vom 1. Juni 1967 bis 30. September 1968 Ausfallzeit ist, ist allein davon abhängig, ob die private Vorbereitung zum Abitur mit Hilfe eines Fernunterrichtlehrgangs als weitere Schulausbildung im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG angesehen werden kann. Das LSG hat das bejaht; seine Argumente sind jedoch nicht überzeugend.
Was unter dem Begriff Schulausbildung im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG zu verstehen ist, kann dem Gesetz nicht entnommen werden. Da derselbe Begriff auch in § 1267 RVO verwendet wird, bietet die hierzu ergangene Rechtsprechung einen gewissen Anhaltspunkt. Die Begriffe "Schule" und "Schulausbildung" mögen sich zwar gerade in den letzten Jahren inhaltlich nicht unerheblich gewandelt haben; man wird deshalb heute wohl nicht mehr darauf abstellen können, ob alle im Urteil des BSG vom 26. April 1968 zu § 1267 RVO (SozR Nr. 33 zu § 1267) verlangten Merkmale (wie z. B. Zusammenfassung bestimmter Schüler in Klassen, regelmäßige Zeugnisse und dergleichen) vorliegen. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 16. November 1972 - 11 RA 166/72 (SozR Nr. 49 zu § 1259 RVO) dargelegt hat, ist jedoch grundsätzliches Erfordernis, daß sich die Ausbildung an einer Einrichtung vollzieht, die als Schule zu bezeichnen ist. In der Regel wird es sich bei der weiteren Schulausbildung um eine solche auf einer weiterführenden Schule (Real-, Mittel- oder Oberschule) handeln. Jedenfalls aber muß es eine Ausbildung sein, die zumindest annähernd derjenigen entspricht, die den Schülern auf einer weiterführenden Schule zuteil wird (BSG 30, 3, 6). Hieran fehlt es bei der privaten Vorbereitung der Klägerin auf das Abitur mit Hilfe des 1963 käuflich erworbenen Fernunterrichtlehrgangs. Die Teilnahme an einem solchen Lehrgang kann in der Regel nicht als Schulausbildung im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG gewertet werden, weil die Ausbildung nicht in der an Schulen üblichen Weise erfolgt (SozR Nr. 38 zu § 1259 RVO). Bei der Schulausbildung steht nach wie vor der regelmäßige Unterricht durch ausgebildete Lehrkräfte im Vordergrund. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG ergeben keinen Anhalt dafür, daß bei dem Fernunterrichtlehrgang, an dem die Klägerin teilgenommen hat, diese Anforderungen auch nur annähernd erfüllt gewesen sind.
Das Gesetz spricht allerdings nicht von Schulbesuch, sondern von Schulausbildung, was auf ein bestimmtes Ausbildungsziel wie z. B. die Reifeprüfung hindeutet; ein Abschluß der Schulausbildung wird aber - im Gegensatz zur Fachschul- oder Hochschulausbildung - nicht verlangt. Es ist daher für die Anerkennung der streitigen Zeit als Ausfallzeit rechtlich ohne Bedeutung, ob und wie die Klägerin ihre Reifeprüfung abgelegt hat. Gerade weil die weitere Schulausbildung nicht abgeschlossen zu sein braucht, kommt es aber für ihre Anerkennung als Ausfallzeit um so mehr darauf an, daß sie nach Art und Dauer konkret nachgewiesen werden kann.
Die private Vorbereitung auf das Abitur mit Hilfe eines Fernunterrichtlehrgangs ist der Schulausbildung im Sinne des Gesetzes auch nicht gleichwertig. Die Tatsache, daß Fernunterricht - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - unter bestimmten Voraussetzungen durch das Arbeitsförderungsgesetz als förderungswürdig anerkannt wird, ändert daran nichts. Denn das hat mit der Berücksichtigung einer solchen Ausbildung als Ausfallzeit nichts zu tun, weil die Motive für die jeweilige Regelung unterschiedlich sind. Die Beklagte weist insofern zu Recht darauf hin, daß die Gleichstellung von Fernunterricht und Schulausbildung im Rahmen der staatlichen Ausbildungsförderung gerade deutlich macht, daß der Gesetzgeber grundsätzlich zwischen beiden unterscheidet; andernfalls wäre diese Gleichstellung überflüssig. Die Zeit, in der sich ein Versicherter mit Hilfe eines Fernunterrichtlehrgangs - mag er auch von einem staatlich anerkannten Institut herausgegeben sein - lediglich privat weitergebildet hat, kann demnach nicht als Ausfallzeit nach § 36 AVG berücksichtigt werden. Die Anrechnung beitragsloser Ausfallzeiten findet dort ihre Grenze, wo eine Schulausbildung nicht vorliegt. Der Gesetzgeber hat nicht das jeweils Erforderliche, sondern ausgleichsweise das Vertretbare begünstigt (vgl. Koch-Hartmann/v. Altrock/Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, 3. Aufl., Bd. IV, § 36, Anm. V 1). Vertretbar ist aber allein die Anrechnung der nach Art und Dauer konkret erfaßbaren und nachweisbaren Schulausbildung.
Auf die Revision der Beklagten muß nach alledem unter teilweiser Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage in vollem Umfang abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen