Entscheidungsstichwort (Thema)
Entrichtung von Pflichtbeiträgen
Leitsatz (amtlich)
Beiträge, die nach Ablauf der Ausfalltatbestände des AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 1 und 3 (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1 und 3) gemäß AnVNG Art 2 § 44a Abs 3 (= ArVNG Art 2 § 46 Abs 3) für Zeiten vorher nachentrichtet worden sind, stehen rechtzeitig entrichteten Pflichtbeiträgen nicht gleich (Weiterführung von BSG 1973-05-25 11 RA 236/72 = BSGE 36, 32, BSG 1976-06-15 11 RA 108/75 = SozR 5750 Art 2 § 46 Nr 1, BSG 1976-03-31 1 RA 73/75 = SozR 2200 § 1251 Nr 20, BSG 1977-10-27 1 RA 9/76).
Leitsatz (redaktionell)
Von nicht fristgerecht entrichteten Pflichtbeiträgen ist dann auszugehen, wenn nach Ablauf von Ausfalltatbeständen Beiträge für Zeiten vorher nachentrichtet wurden.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1972-10-16, Nr. 3 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1972-10-16, Nr. 3 Fassung: 1972-10-16; AnVNG Art. 2 § 44a Abs. 3 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 46 Abs. 3 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 09.08.1977; Aktenzeichen L 2 An 531/76) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 18.05.1976; Aktenzeichen S 7 An 101/76) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. August 1977 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
In Streit ist, ob dem Kläger Ausfalltatbestände, nachdem Beiträge nachentrichtet worden sind, als Ausfallzeiten vorzumerken sind.
Der 1920 geborene Kläger war nach dem Besuch der Oberrealschule in der Zeit von 1936 bis 1951 - unterbrochen durch längere, zum Teil auf Arbeitsunfall, zum Teil auf eine Tbc-Erkrankung (mit Aufenthalt in der Schweiz) zurückgehende Krankheitszeiten - versicherungsfrei als Technikumslehrling und Praktikant tätig und absolvierte ein Ingenieurstudium. In der Zeit vom 1. August 1951 bis 20. Januar 1952 war er arbeitslos. Seit 21. Januar 1952 ist er als Ingenieur versicherungspflichtig beschäftigt.
Nach Schaffung des Art 2 § 44 a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) durch Art 2 § 2 Nr 12 des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 entrichtete der Kläger nach dessen Absatz 3 Beiträge für seine versicherungsfreien Praktikantenzeiten von 1936 bis 1940 nach.
Die Beklagte anerkannte zwar die Zeiten der Internierung und Verhinderung der Rückkehr des Klägers in bzw aus der Schweiz sowie die Schul- und Fachschulausbildung des Klägers als Ersatz bzw als Ausfallzeiten, lehnte es jedoch mit den streitbefangenen Bescheiden vom 2. Januar 1975 und 14. Oktober 1975 ab, die weiteren beitragsfreien Zeiten des Klägers (Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit) vor Aufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung als Ausfallzeiten nach § 36 Abs 1 Nrn 1 und 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vorzumerken; diese Zeiten hätten keine versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen.
Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg. Mit dem angefochtenen Urteil vom 9. August 1977 hat das Landessozialgericht (LSG) die klageabweisende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) bestätigt. In der Begründung heißt es, die geltend gemachten Zeiten hätten nicht eine zuvor bestehende versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unterbrochen. Sie seien auch nicht durch die Beitragsnachentrichtung zu Pflichtbeitragszeiten geworden. Bei den nachentrichteten Beiträgen handele es sich nämlich um freiwillige Beiträge. Die Krankheitszeit des Klägers habe sich auch nicht an die Zeit der Internierung in der Schweiz bis zum 31. März 1948 "angeschlossen", so daß auch eine Anerkennung als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 2 AVG ausscheide.
Gegen dieses Urteil hat der erkennende Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 18. Januar 1978).
Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er bringt vor, die Praktikantenzeit, für die er in vollem Umfange Beiträge nachentrichtet habe, müsse einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt werden. Er, der Kläger sei immer pflichtversichert gewesen. Er habe an der Pflichtversicherung auch festgehalten, als er 1956 die Beitragsbemessungsgrenze überschritten gehabt habe. Diese von ihm bewußt vollzogene Entscheidung müsse bei der Beurteilung der hier streitigen Frage berücksichtigt werden. Das gelte in gleicher Weise für den von ihm erlittenen Arbeitsunfall. Hätte er den Arbeitsunfall nicht erlitten, so wäre der Versicherungsverlauf ohne irgendeine Lücke. Im übrigen spreche das Gesetz bezüglich der nachentrichteten Beiträge nicht von freiwilligen Beiträgen. Praktikantenzeiten seien heute Pflichtversicherungszeiten. Nach Nachentrichtung der Beiträge müsse die Praktikantenzeit als Vorversicherungszeit im Sinne des § 36 AVG angesehen werden.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 18. Mai 1976 und des Urteils des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. August 1977 sowie unter Aufhebung der Bescheide der Beklagten vom 2. Januar 1975, 31. Januar 1977, 18. Mai 1977, unter Abänderung des Bescheides vom 14. Oktober 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 1976 die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 28. November 1938 bis 14. März 1940, vom 21. Dezember 1942 bis zum 7. Mai 1945, vom 17. Juni 1950 bis zum 12. März 1951 und vom 1. August 1951 bis zum 20. Januar 1952 als Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 1 und 3 anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die vom Kläger nachentrichteten Beiträge könnten nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht wie Pflichtbeiträge behandelt werden. Nach einer Entscheidung des erkennenden Senats könnten den nach Art 2 § 44 a Abs 3 AnVNG nachentrichteten Beiträgen nur dann die Eigenschaft von Pflichtbeiträgen beigelegt werden, wenn dies das Gesetz ausdrücklich bestimme. Das gleiche müsse aber auch für die Anerkennung von Ausfallzeiten gelten. Schließlich habe der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) entschieden, daß Beiträge der hier streitigen Art keine Anschlußpflichtversicherung nach § 36 Abs 1 Nr 4 AVG aF schaffen könnten. Ein Grund, warum bei der Anwendung des § 36 Abs 1 Nr 1 bis 3 AVG anders entschieden werden sollte, sei nicht ersichtlich. Auch für den vorliegenden Fall handele es sich bei den nachentrichteten Beiträgen um nicht rechtzeitig entrichtete freiwillige Beiträge.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, in der Sache aber nicht begründet.
Nach § 36 Abs 1 Nrn 1 und 3 AVG (= § 1259 Abs 1 Nrn 1 und 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO) sind bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (§ 35 AVG = § 1258 RVO) anrechnungsfähig Zeiten, in denen eine "versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" durch eine infolge Krankheit oder Unfall bedingte Arbeitsunfähigkeit bzw - unter bestimmten weiteren Voraussetzungen - durch eine mindestens einen Kalendermonat andauernde Arbeitslosigkeit "unterbrochen" worden ist. Unterbrochen durch Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit kann eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nach Wortlaut und Sinngehalt des Gesetzes nur dann sein, wenn diesen Ausfalltatbeständen eine solche Beschäftigung oder Tätigkeit unmittelbar vorausliegt (vgl zB BSGE 32, 229, 230 = SozR Nr 32 zu § 1259 RVO). Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Kläger erstmals am 21. Januar 1952 in eine versicherungspflichtige Beschäftigung eingetreten, während die nach seiner Auffassung anrechenbaren Ausfalltatbestände alle vor diesem Zeitpunkt liegen.
Die Auffassung des Klägers, dies sei deswegen rechtlich unschädlich, weil er für die Zeit seiner Ausbildung als Technikumslehrling und Praktikant von 1936 bis 1940 Beiträge nach dem durch das RRG vom 16. Oktober 1972 eingefügten Art 2 § 44a Abs 3 AnVNG nachentrichtet habe, trifft nicht zu. Es kann dahinstehen, ob dies - abgesehen von der Frage, ob sich der Kläger als Lehrling und Praktikant überhaupt einer "wissenschaftlichen" Ausbildung unterzogen hat und der unmittelbare Anschluß an die nachentrichteten Beiträge überhaupt gewahrt wäre - schon allein daran scheitern muß, daß es sich bei ihnen um "freiwillige Beiträge" handelt (vgl den 11. Senat des BSG in SozR 5750 Art 2 § 46 Nr 1); der Gesetzgeber könnte immerhin - was dann im einzelnen zu prüfen wäre - auch freiwilligen Beiträgen im Rahmen der Anwendung der Vorschriften des § 36 Abs 1 Nrn 1 und 3 AVG die Wirkung rechtzeitig entrichteter Pflichtbeiträge beigelegt haben (vgl dazu den erkennenden Senat in SozR 2200 § 1251 Nr 20). Die vom Kläger begehrte Anerkennung der Ausfalltatbestände scheitert jedenfalls an folgendem:
Der 11. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 25. Mai 1973 (BSGE 36, 32, 34 = SozR Nr 66 zu § 1251 RVO) bereits entschieden, daß im Sinne des Ersatzzeitenrechts (§ 28 Abs 2 Satz 1 AVG = § 1251 Abs 2 Satz 1 RVO) die dort geforderte Pflicht-Vorversicherung nur vorliege, wenn die Versicherung "tatsächlich" schon vor dem Ersatzzeittatbestand begonnen habe, dessen Vormerkung als Ersatzzeit begehrt werde. Das BSG hat dies mit der Überlegung begründet, daß der Gesetzgeber nur dann generell vermute, der Ersatzzeittatbestand würde den Versicherten gehindert haben, Beiträge zur Rentenversicherung - weiterhin - zu leisten, wenn die Versicherung tatsächlich schon vorher begonnen habe. Nur diese auf eine "tatsächliche vorherige Beitragsleistung" zu gründende generelle Vermutung, der Versicherte würde bei Fehlen des Ersatzzeittatbestandes die bereits aufgenommene Beitragsleistung fortgeführt haben, rechtfertige aber allein die Anerkennung eines beitragsfreien Zeitraumes als Ersatzzeit. Anderes könne deshalb nur dann gelten, wenn eine besondere Vorschrift nachentrichteten Beiträgen ausdrücklich die Wirkung von vorher tatsächlich entrichteten Beiträgen verleihe. Diese Rechtsprechung des 11. Senats hat der erkennende Senat in der oa Entscheidung sowie in dem weiteren Urteil vom 27. Oktober 1977 - 1 RA 9/76 - weitergeführt und entschieden, daß Zeiten, für die Beiträge erst nach Ablauf des Ersatzzeittatbestandes nachentrichtet werden, nur dann als vorhergehende Pflichtversicherungszeiten im Sinne des § 28 Abs 2 Satz 1 AVG angesehen werden könnten, "wenn ihnen das Gesetz ausdrücklich die Eigenschaft rechtzeitig entrichteter Beiträge zugesteht". Der Senat hat hierbei insbesondere darauf hingewiesen, daß im Ersatzzeitenrecht in bezug auf spezielle Sachverhalte eine Anzahl solcher Vorschriften mit Ausnahmecharakter tatsächlich bestehe (vgl § 124 Abs 4 Satz 1 AVG; Art 2 § 5a Abs 2 AnVNG; §§ 8 Abs 1 Satz 3, 10 Abs 1 Satz 3 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung).
Was für das Ersatzzeitenrecht gilt, muß im Grundsatz in gleicher Weise für das Recht der Ausfallzeiten nach § 36 Abs 1 Nrn 1 und 3 AVG gelten. Hier wie dort handelt es sich um Zeiten, in denen die Leistung von Pflichtbeiträgen ohne Verschulden des Versicherten unterblieben ist; die Ersatzzeiten (§ 28 AVG) unterscheiden sich von den Ausfallzeiten (§ 36 AVG) nur dadurch, daß jene wie Beitragszeiten Versicherungszeiten sind, während letztere nur die Rentenhöhe beeinflussen (§§ 27 Abs 1, 26 AVG = §§ 1250 Abs 1, 1249 RVO; vgl dazu den erkennenden Senat an der letztgenannten Stelle). Da die Ersatzzeiten mithin im Vergleich zu den Ausfallzeiten eine umfassendere Rechtsqualität haben, kann für die in § 36 Abs 1 Nrn 1 und 3 AVG geforderte unmittelbare Vor-Pflichtversicherung ("Unterbrechung") nichts anderes gelten, was für die Vor-Pflichtversicherung als Voraussetzung für die Anerkennung von Ersatzzeiten nach § 28 Abs 2 Satz 1 AVG gilt.
Hieraus aber folgt, daß der Kläger unter Bezug auf die nach dem 16. Oktober 1972 für die Ausbildungszeiten vor Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung im Januar 1952 nachentrichteten Beiträgen Ausfallzeiten nur anerkannt erhalten könnte, wenn eine Vorschrift bestünde, die diesen Beiträgen die Rechtsqualität rechtzeitig entrichteter Pflichtbeiträge zumäße. Eine solche Vorschrift besteht indessen nicht. Auch der Kläger selbst behauptet nichts in dieser Richtung. Auch die Stellung des Art 2 § 44a Abs 3 aaO innerhalb des Gefüges des Beitrags- und Ausfallzeitenrechts des AVG stützt den Anspruch des Klägers nicht; eine Gleichstellung mit rechtzeitig entrichteten Pflichtbeiträgen läßt sich auch hieraus nicht entnehmen.
Nach alledem trifft das angefochtene Urteil zu, so daß die Revision des Klägers hiergegen mit der Kostenentscheidung aus § 193 SGG als unbegründet zurückzuweisen war.
Fundstellen