Leitsatz (amtlich)
ZPO § 543 idF vom 1976-12-03 ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht entsprechend anwendbar.
Leitsatz (redaktionell)
SGG § 136 trifft eine Inhaltsbestimmung für die Urteile aller Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit. Für einen Rückgriff auf ein generelles Normengebot aus der ZPO ist kein Raum. So ist neben SGG § 136 Abs 1 Nr 5 und 6 und Abs 2 eine entsprechende Anwendung des ZPO § 543 idF des Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle) vom 1976-12-03 (BGBl I 1976, 3281) über SGG § 202 nicht zulässig.
Normenkette
SGG § 136 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 313 Fassung: 1976-12-03, § 543 Fassung: 1976-12-03; SGG § 136 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1953-09-03, Nr. 6 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 29.09.1977; Aktenzeichen L 11 V 16/77) |
SG Münster (Entscheidung vom 07.12.1976; Aktenzeichen S 12 V 48/74) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. September 1977 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1971 verstorbene Ehemann der Klägerin hatte von 1950 bis 1953 Versorgung wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH erhalten. Sein Antrag auf Wiedergewährung der Rente aus dem Jahre 1965 war abgewiesen worden. Am 29. Juni 1973 stellte die Klägerin den Antrag auf Hinterbliebenenversorgung im Wege des Härteausgleichs. Dieses Begehren wurde abgelehnt (Bescheide vom 17.8.1973, 8.2.1974). Die Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 7. Dezember 1976 abgewiesen. Es hat dazu ausgeführt: Der Ehemann der Klägerin sei nicht an einem Leiden, das als Folge einer Schädigung rechtsverbindlich anerkannt war, und auch nicht an den Folgen einer Schädigung verstorben. Sein Tod sei auch nicht um mindestens ein Jahr durch Schädigungsfolgen vorverlegt worden. Ein Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach § 38 Abs 1 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) bestehe daher nicht. Die Gewährung einer Witwenbeihilfe gemäß § 48 BVG sei von der Versorgungsverwaltung ebenfalls zu Recht abgelehnt worden. Voraussetzung hierfür sei, daß im Zeitpunkt des Todes schädigungsbedingte Gesundheitsstörungen vorgelegen hätten, die eine MdE von wenigstens 50 vH bedingt hätten. Im Zeitpunkt des Todes hätten bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin jedoch keinerlei schädigungsbedingte Gesundheitsstörungen vorgelegen.
Die Berufung gegen dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Es hat die Revision zugelassen. Im Tatbestand seines Urteils hat das LSG lediglich angeführt, daß die Klägerin mit dem beklagten Land über die Gewährung von Hinterbliebenenversorgung streite sowie daß das Land mit den erwähnten Bescheiden die Leistung auf Witwenrente, Witwenversorgung im Härteausgleich und Witwenbeihilfe abgelehnt habe. Ferner führt das LSG die Anträge der Beteiligten im ersten und zweiten Rechtszug auf, teilt mit, daß das SG die Klage abgewiesen habe, und verweist wegen weiterer Einzelheiten auf das angefochtene Urteil und den Inhalt der im einzelnen aufgeführten Akten und Berichte. In den Entscheidungsgründen führt das LSG aus, daß der Senat von einer ausführlichen Darstellung des Tatbestandes und einer ins einzelne gehenden Darstellung der Entscheidungsgründe absehe, weil nach seiner Auffassung gem § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) § 543 der Zivilprozeßordnung (ZPO) idF des Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle) vom 3. Dezember 1976 (BGBl I S 3281) entsprechend anwendbar sei. Das LSG stellt dann fest, daß es den Gründen des angefochtenen Urteils des SG folge. Der Klägerin stehe weder ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente gem § 38 Abs 1 Satz 1 BVG noch ein Anspruch auf Witwenbeihilfe gem § 48 BVG zu.
Die Klägerin hat die Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung des § 136 Abs 1 Nr 5 und Nr 6 SGG. Sie ist der Meinung, daß die erhobenen Ansprüche ausreichend gekennzeichnet werden müßten und sowohl der Grund als auch der Gegenstand des Berufungsbegehrens darzustellen sei. In den Entscheidungsgründen müsse zumindest ausgeführt sein, aus welchen Gründen die durch Urteil ausgesprochene Entscheidung Rechtens sei.
Die Klägerin beantragt,
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1. |
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das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen, |
in Abänderung des angefochtenen Urteils weiterhin des Urteils des Sozialgerichts sowie unter Aufhebung der angegriffenen Bescheide den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin ab 1. Juni 1973 Hinterbliebenenversorgung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Meinung, das LSG-Urteil sei mit seinen Bezugnahmen auch im Hinblick auf § 128 Abs 1 Satz 2 und § 136 Abs 1 Ziffer 6 SGG in ausreichender Weise begründet, da das schriftlich abgesetzte erstinstanzliche Urteil den Beteiligten ebenso zugänglich sei wie dem Revisionsgericht.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat Erfolg; der Rechtsstreit ist an das LSG zurückzuverweisen.
Das Berufungsurteil ist aufzuheben, weil Tatbestand und Entscheidungsgründe keine eigenen Ausführungen des LSG zum Sach- und Streitstand enthalten, sondern nahezu ausschließlich aus Bezugnahmen, insbesondere aus der Bezugnahme auf das erstinstanzliche Urteil bestehen. Dieser Urteilsinhalt entspricht nicht § 136 Abs 1 Nr 5 und 6 und Abs 2 SGG. Daneben ist eine "entsprechende" Anwendung des § 543 ZPO idF des Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle) vom 3. Dezember 1976 (BGBl I 3281) über § 202 SGG nicht zulässig (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 1977, § 136, Anm 1 und § 153, Anm 3). Der gegenteiligen Ansicht des Berufungsgerichts kann nicht zugestimmt werden.
Über § 202 SGG wäre die Norm der ZPO entsprechend nur anzuwenden, sofern das SGG keine einschlägige Bestimmung enthielte. So ist es jedoch nicht. Das SGG führt in § 136 Abs 1 und 2 eingehend aus, wie der Inhalt des Urteils im Verfahren vor den Sozialgerichten auszusehen hat. Dabei handelt es sich nicht, wie angenommen worden ist (Stöver, Sozialgerichtsbarkeit 1978 S 225, 226), um eine Vorschrift, die den Inhalt des Urteils der ersten Instanz der Sozialgerichtsbarkeit beschreibt und die deshalb für das Berufungsverfahren nur über die Bezugsvorschrift in § 153 Abs 1 SGG Geltung erhält. Vielmehr trifft § 136 SGG eine Inhaltsbestimmung für die Urteile aller Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit. In § 153 Abs 1 SGG werden zwar für das Verfahren vor den Landessozialgerichten "die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug" in Bezug genommen. Dabei handelt es sich aber um die Vorschriften, die im zweiten Teil des SGG, Erster Abschnitt, im 4. Unterabschnitt mit der Überschrift "Verfahren im ersten Rechtszug" die §§ 87 bis 122 betreffen. Der 5. Unterabschnitt des 1. Abschnittes über gemeinsame Verfahrensvorschriften befaßt sich hingegen mit den Urteilen und Beschlüssen ohne Einschränkung auf das erstinstanzliche Verfahren. Außerdem behandelt § 153 Abs 2 SGG insonderheit die Urteile der Berufungsinstanz, es wird in Abweichung von § 134 SGG vorgeschrieben, daß das Urteil nicht nur von dem Vorsitzenden, sondern von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben ist. Bei dieser detaillierten Normierung der Urteile im Sozialgerichtsverfahren ist es kein Raum für den Rückgriff auf ein generelles Normengebot aus der ZPO.
Mit dieser Ansicht steht der Senat nicht in Widerspruch zu dem Beschluß des 5. Senats des BSG vom 27. September 1974 in 5 RJ 140/74, in welchem § 543 ZPO alter Fassung für entsprechend anwendbar erklärt worden ist. Diese frühere Vorschrift besagte lediglich, daß bei der Darstellung des Tatbestands im Urteil eine Bezugnahme auf das Urteil des vorigen Rechtszuges nicht ausgeschlossen ist, gab also nur eine punktuelle Regelung an und schloß insbesondere nicht die Vorschrift in § 136 Abs 2 Satz 2 SGG aus, nach der jedoch in jedem Fall die erhobenen Ansprüche genügend zu kennzeichnen und die dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel ihrem Wesen nach hervorzuheben sind.
Zwar haben sich für die Anwendbarkeit des § 543 ZPO nF in der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) Baumbach/Albers, Zivilprozeßordnung, 35. Aufl, § 543 ZPO, Anm 4 und Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl, RdNr 6 zu § 117 ausgesprochen. Albers hat indessen diese Meinung in der 37. Auflage (1979) nicht wiederholt, sondern ausdrücklich angegeben, daß § 117 Abs 3 VwGO für den Tatbestand gelte. Eyermann/Fröhler haben aaO lediglich dargelegt, daß eine Bezugnahme auf vorbereitende Schriftsätze etc im Rahmen des § 313 Abs 2 und des § 543 ZPO wohl zulässig sei. Ob diese Ansicht den Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Gremien gerecht wird, erscheint zweifelhaft. In dem Bericht des Rechtsausschusses des Bundestags zur Vereinfachungsnovelle heißt es ausdrücklich, daß der in § 117 VwGO von dem Ausschuß eingefügte Abs 3 als Sonderregelung den neuen § 313 Abs 2 ZPO für den Verwaltungsgerichtsprozeß ausschließe (BT-Drucks 7/5250, S 18, Art 4 zu Nr 3a - 117 VwGO -); dies wird auch dadurch bestätigt, daß durch das Gesetz zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31.3.1978 (BGBl I S 446) in Art 2 § 6 ausdrücklich geregelt ist, daß das Oberverwaltungsgericht im Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen kann, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist. Insbesondere ist dadurch für die VwGO der stark gekürzte Tatbestand, wie er durch die Neufassung des § 313 Abs 2 ZPO ermöglicht worden ist, nicht eingeführt worden. Für das Verfahren vor den Sozialgerichten ist darüber hinaus zu beachten, daß der Rechtsausschuß eine gleiche Sondervorschrift, wie sie in § 117 Abs 3 VwGO eingefügt worden ist, für entbehrlich hielt, weil § 136 SGG bereits eine eigenständige Regelung über den Urteilstatbestand enthalte (BT-Drucks 7/5250, S 18, Art 4 zu Nr 3a - § 117 VwGO -).
In dem Urteil des LSG fehlt der Tatbestand mit dem Mindestinhalt, wie er nach § 136 SGG zu fordern ist. Darauf hat das LSG selbst hingewiesen. Die erhobenen Ansprüche der Klägerin sind nicht genügend gekennzeichnet und die dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel nicht ihrem Wesen nach hervorgehoben (§ 136 Abs 2 Satz 2 SGG).
Im übrigen würden die Ausführungen im Urteil des LSG nicht einmal in vollem Umfang den neuen Vorschriften der ZPO entsprechen. Es fehlen in den Ausführungen des LSG Hinweise über die von der Klägerin im Wege des Härteausgleichs begehrte Witwenversorgung. Dem LSG war nicht verborgen geblieben, daß der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid gerade auch über den Härteausgleich entschieden hatte, denn es hat in den wenigen Ausführungen seines Tatbestandes darauf hingewiesen, daß das Land die Leistung von Witwenrente, Witwenversorgung im Härteausgleich und Witwenbeihilfe abgelehnt hatte. In den Entscheidungsgründen, die jenseits der Begründung für die Anwendbarkeit des § 543 ZPO nF im wesentlichen aus der Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG bestehen, wird lediglich erklärt, daß der Klägerin weder ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente gem § 38 Abs 1 Satz 1 BVG noch ein Anspruch auf Witwenbeihilfe gem § 48 BVG zustehe.
Ausführungen über den Härteausgleich läßt aber auch das erstinstanzliche Urteil vermissen. Lediglich in dem Satz, der über den ablehnenden Bescheid vom 17. August 1973 referiert, heißt es, eine Witwenversorgung könne auch nicht im Wege des Härteausgleichs gewährt werden, da über die Ursache des Leidens des Verstorbenen keine Ungewißheit bestehe. Diese Ausführungen, die nicht eine Rechtsansicht des SG wiedergeben, sondern im Tatbestand den Inhalt des angefochtenen Bescheides darstellen, so wie ihn das SG aufgefaßt hat, lassen Zweifel darüber aufkommen, ob sich das SG von einer gesetzeskonformen Vorstellung über die Witwenversorgung aus Gründen besonderer Härte hat leiten lassen. Das SG ist ausdrücklich auf die Ansprüche nach § 38 Abs 1 Satz 1 BVG und § 48 BVG eingegangen und hat dargelegt, aus welchen Gründen seiner Ansicht nach diese Ansprüche nicht bestünden. Dabei hat es auch ausgeführt, daß im Zeitpunkt des Todes bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin keinerlei schädigungsbedingte Gesundheitsstörungen vorgelegen hätten. Ersichtlich sind diese Überlegungen jedoch nicht angestellt bei Prüfung der Frage, ob als Härteausgleich trotz der fehlenden bindenden Feststellung über die Schwerbeschädigteneigenschaft entsprechend dem Rundschreiben des Bundesarbeitsministers vom 25. August 1965 (BVBl 1965, S. 118) eine Versorgungsleistung für die Klägerin möglich sei (vgl BSG SozR 3100 § 89 Nr 2, S 12; BMA vom 8.7.1976, BVBl 1976, S 98, s. Verwaltungsvorschrift Nr 1 zu § 48 mit Verwaltungsvorschrift Nr 5 zu § 40a BVG).
Es fehlen somit jegliche tatsächliche Feststellungen über die Voraussetzungen des Härteausgleichs. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, ob die Klägerin diesen Härteausgleich lediglich mit der Behauptung begehrt, die Schädigungsfolgen hätten bei ihrem verstorbenen Ehemann - unter Umständen unter Einbeziehung eines besonderen beruflichen Betroffenseins - eine MdE um wenigstens 50 vH bewirkt, oder ob sie etwa vortragen will, die schweren Verhältnisse während der jugoslawischen Kriegsgefangenschaft hätten sich jedenfalls insoweit ausgewirkt, daß der Tod mindestens ein Jahr früher eingetreten sei, auch wenn eine einzelne klar umschriebene Erkrankung allein dafür nicht angeschuldigt werden könnte. Infolgedessen ist dem Revisionsgericht die rechtliche Nachprüfung nicht möglich. Dieser Mangel im Tatbestand des Berufungsurteils ist von Amts wegen, also ohne ausdrückliche Rüge, zu berücksichtigen (BSGE Bd 41, 80. 81).
Schließlich dürfte es auch bedenklich sein, daß das LSG in seinem Urteil auf die eingehende Berufungsbegründung der Klägerin nicht eingegangen ist, zumal diese meinte, daß dem SG ein wesentlicher Mangel im Verfahren bei der Sachaufklärung unterlaufen sei und es die medizinischen Ausführungen wohl unvollständig gewürdigt habe.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
DRiZ 1979, 316 |
Breith. 1980, 345 |