Leitsatz (amtlich)
Wird die umgestellte Versichertenrente nach ArVNG Art 2 § 38 Abs 3 S 1 auf 15/13 des Zahlbetrages erhöht, so entsteht der Anspruch auf einen Kinderzuschuß auch dann, wenn das Pflegekindschaftsverhältnis erst nach dem Eintritt der Invalidität, aber vor der Vollendung des 65. Lebensjahres begründet worden ist.
Normenkette
RVO § 1262 Abs. 2 Nr. 7 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 38 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. April 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Revisionsbeklagten die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Revisionsbeklagte ist die Witwe und Rechtsnachfolgerin des im Dezember 1896 geborenen und im April 1969 verstorbenen Versicherten. Dieser bezog vom 1. August 1954 bis zu seinem Tode Versichertenrente nach einer Versicherungszeit von weit über 780 Wochen. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Kinderzuschuß zu dieser Rente für das Enkelkind L, geboren am 13. Mai 1955, vom 1. Dezember 1961 an.
Die Beklagte lehnte die Gewährung des Kinderzuschusses ab, weil der Versicherungsfall der Invalidität bereits vor der Geburt des Enkelkindes und somit vor der Aufnahme in den Haushalt des Versicherten eingetreten sei und die Vollendung des 65. Lebensjahres durch den Versicherten keinen neuen Versicherungsfall, sondern nur ein auslösendes Moment für die Rentenerhöhung nach Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) darstelle (während des Berufungsverfahrens ergangener Bescheid vom 12. Mai 1967).
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte am 25. April 1968 verurteilt, dem Versicherten den Kinderzuschuß zu gewähren. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der Revision. Sie beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Revisionsbeklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Revision ist unbegründet.
Die Beklagte ist verpflichtet, zu der Rente des Versicherten vom 1. Dezember 1961 an nach den damals geltenden Vorschriften einen Kinderzuschuß für das Enkelkind L zu gewähren.
Dieses Enkelkind war seit einem vor dem 1. Dezember 1961 liegenden Zeitpunkt bis zum Tode des Versicherten sein Pflegekind im Sinne des § 1262 Abs. 2 Nr. 7 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (idF vor dem Inkrafttreten - 1. Juli 1964 - des Bundeskindergeldgesetzes - BKGG -) i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2 des Kindergeldgesetzes; es galt als Pflegekind, weil es in den Haushalt seines Großvaters aufgenommen war. Das Pflegekindschaftsverhältnis war auch "vor Eintritt des Versicherungsfalles" begründet worden. Die Vollendung des 65. Lebensjahres, die nach Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 ArVNG (in der durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz - RVÄndG - vom 9. Juni 1965 nicht geänderten Fassung) zur Erhöhung der Rente des Versicherten auf fünfzehn Dreizehntel des bisherigen monatlichen Zahlbetrags führte, war das dafür maßgebende Ereignis.
Das Bundessozialgericht - BSG - (BSG 22, 133) hat entschieden, daß sich die Worte "vor Eintritt des Versicherungsfalles" in § 1262 Abs. 2 Nr. 7 auf den der jeweiligen Rente zugrunde liegenden Versicherungsfall beziehen; wird eine Rente ununterbrochen in mehreren Stufen - z. B. als Berufsunfähigkeits-, Erwerbsunfähigkeits- und zuletzt als Altersrente - bezogen, so steht der Ausschluß des Kinderzuschusses für ein Pflegekind nach einem früheren Versicherungsfall seiner Gewährung beim Eintritt eines neuen Versicherungsfalls nicht entgegen, wenn das Pflegekindschaftsverhältnis vor dessen Eintritt begründet worden ist. Der Senat macht sich diese Rechtsauffassung zu eigen, sie entspricht dem Aufbau und der Systematik des neuen Rechts der Rentenversicherung. Der Zweck der Einschränkung in § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO (vgl. § 1262 Abs. 2 Nr. 7 und 8 RVO idF des BKGG) wird hierdurch nicht vereitelt; er will lediglich "einer mißbräuchlichen Annahme von Pflegekindern vorbeugen" (Begründung zum Regierungsentwurf des Kindergeldergänzungsgesetzes, BT-Drucks. II/1539, Anl. 1 S. 16/17, zu § 13 Nr. 1 und 5). Während sonst das Hinzutreten eines Kindes nach Eintritt des Versicherungsfalles ohne weiteres den Anspruch auf einen Kinderzuschuß begründet, soll der Versicherte auf die Höhe einer bereits gewährten Rente nicht dadurch Einfluß nehmen können, daß er ein Pflegekind annimmt (BSG, aaO). Dagegen hat die Vorschrift nicht den Zweck, Kinderzuschüsse für Pflegekinder in der Zukunft ganz auszuschließen, wenn bisher nur einer der möglichen Versicherungsfälle eingetreten ist. Entscheidend ist, daß der Versicherte vom 1. Dezember 1961 an ein Altersruhegeld bezog, während er vorher eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhielt. Das Ereignis, das die Beklagte zwang, ein Altersruhegeld zu bewilligen, ist ein "Versicherungsfall" jedenfalls i. S. des § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO.
Dieser Lösung wird - in Übereinstimmung mit der Revision - im Schrifttum (vgl. Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Bd. II Anhang A, Anm. 1 zu Art. 2 § 38 ArVNG; Mitt. LVA Rheinprovinz 1967, 451/454) entgegengehalten, die Rentenerhöhung in diesem Sonderfall beruhe nicht auf einem Versicherungsfall im eigentlichen Sinne, die Vollendung des 65. Lebensjahres stelle nur ein auslösendes Moment dar; es handele sich lediglich um eine Berechnungsvorschrift. Andererseits soll aber ein neuer Versicherungsfall vorliegen, wenn das Altersruhegeld nach Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 2 ArVNG aF (Satz 4 ArVNG nF) gemäß den Vorschriften der §§ 1254 bis 1262 RVO berechnet wird. Diese Unterscheidung kann hier nicht von Bedeutung sein. Beiden Fällen ist gemeinsam, daß der Versicherte das 65. Lebensjahr vollendet hat, beide Vorschriften sind Berechnungsvorschriften. Der Unterschied liegt nur darin, daß der Versicherte im zweiten Fall noch eine bestimmte Anzahl von Beiträgen entrichtet hat, was eine Berechnung des Altersruhegeldes durch schematische Erhöhung des bisherigen Zahlbetrags als unbillig erscheinen läßt. Eine weitere Beitragsentrichtung ist aber kein Kriterium für den Begriff des Versicherungsfalles.
Eine Rechtfertigung dafür, der Vollendung des 65. Lebensjahres eine anspruchsbegründende Wirkung beizumessen, liegt auch im Umfang der Umstellung der Invalidenrenten zum 1. Januar 1957 und in der Behandlung der Rentenbezieher von diesem Zeitpunkt an. Die nach dem 31. Dezember 1891 geborenen Invalidenrentenbezieher wurden benachteiligt. Ihre neuen Renten waren niedriger als diejenigen der vergleichbaren älteren Rentenbezieher. Dies war nicht selbstverständlich. Bis zur Rentenumstellung wurden Invaliden- und Altersinvalidenrenten in gleicher Weise berechnet. Von diesem Grundsatz abzuweichen, bestand kein zwingender sozialversicherungsrechtlicher Anlaß. Die Rentenreform 1957 brachte die Fiktionen des Art. 2 § 38 Abs. 1 und 2 ArVNG. Im Schrifttum findet man immer wieder die Bemerkung, es handele sich nicht um Altersruhegelder und um Renten wegen Erwerbsunfähigkeit, die Renten gälten nur als solche. Dabei wird übersehen, daß die Rentenbezieher in diesen Fällen kraft der gesetzlichen Fiktionen in jeder Hinsicht wie Empfänger eines Altersruhegeldes (Versicherungsfreiheit, Unwirksamkeit freiwilliger Beiträge) bzw. wie Empfänger einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Versicherungspflicht, Beschneidung der Bezugsdauer des Krankengeldes) zu behandeln sind. Wer auf diese Weise in die neue Rechtsordnung eingegliedert ist und die Nachteile seiner Rechtsstellung hinnehmen muß, hat auch Anspruch darauf, die Rechtswohltaten zu empfangen, die mit dieser Rechtsstellung verknüpft sind. Der Empfänger einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hat nach neuem Recht die Chance, das 65. Lebensjahr zu vollenden und damit Anspruch auf das Altersruhegeld zu erlangen.
Ob die Rentenbezieher, die unter Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 1 ArVNG fallen, die große Wartezeit erfüllt haben oder nicht, dürfte ebensowenig wie in den Fällen des Art. 2 § 38 Abs. 1 ArVNG von Bedeutung sein. Ist diese Wartezeit aber - wie hier - erfüllt, so zeigt sich besonders klar, daß sich eine unterschiedliche Behandlung gegenüber den anderen Altersruhegeldempfängern nur schwerlich rechtfertigen ließe.
Dem hier gefundenen Ergebnis kann nicht entgegengehalten werden, daß die nach Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 1 ArVNG erhöhten Renten bereits an der nächsten Rentenanpassung teilnehmen (vgl. §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 1 Satz 3 des Vierten Rentenanpassungsgesetzes). Wird die Rente völlig neu berechnet (Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 2 ArVNG aF), so ist bereits die für das Jahr des "Versicherungsfalles" geltende allgemeine Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen; diese wirkt sich bei der Rentenerhöhung um zwei Dreizehntel noch nicht aus. Aus der Rentenanpassung kann also weder zwingend auf das Fehlen eines neuen "Versicherungsfalles" noch auf eine entsprechende Vorstellung des Gesetzgebers geschlossen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen