Entscheidungsstichwort (Thema)
Wegeunfall. Abweg. Gesamtweg. Hinweg von einem anderen Ort als der Wohnung. Gastwirtschaft als Ausgangspunkt für Hinweg. Dritter Ort
Orientierungssatz
1. Der Weg zur Arbeit iS des § 550 Abs 1 RVO ist allgemein nach dem Gesetz nicht auf die Strecke zwischen Wohnung und Betriebsstätte beschränkt; in § 550 Abs 1 RVO ist lediglich der Tätigkeitsort als Endpunkt für den Hinweg und als Ausgangspunkt für den Rückweg ausdrücklich festgelegt. Durch die Wahl eines anderen Ausgangspunktes als der Wohnung (hier Gaststätte) darf zwar das von der Unfallversicherung zu tragende Unfallrisiko nicht wesentlich erhöht werden. Die Rechtsprechung hat Rechtsgrundsätze festgelegt, die für diese Beschränkung des Unfallrisikos sorgen. Die Gaststätte ist als eigenständiger dritter Ort (vgl BSG 27.4.1961 2 RU 192/58 = SozR Nr 32 zu § 543 RVO aF) anzusehen.
2. Die Wahl eines anderen Ausgangspunktes als der Wohnung für den Weg zur Arbeitsstätte schließt den Unfallversicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO aus, wenn der übliche Weg zur Arbeitsstätte erheblich verlängert wird.
Normenkette
RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 05.06.1986; Aktenzeichen L 7 U 2214/85) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 24.04.1985; Aktenzeichen S 3 U 1812/83) |
Tatbestand
Der Kläger wurde am 2. April 1982 gegen 21.55 Uhr vor der Gastwirtschaft "Kurpfalz" in M., Mittelstraße, auf der Straße überfahren und schwer verletzt, als er sie überqueren und seinen Personenkraftwagen aufsuchen wollte, den er in der Nähe abgestellt hatte. Der Kläger hatte gegen 21.15 Uhr seine Wohnung in der Spelzenstraße verlassen und war mit seinem Wagen abweichend vom direkten Weg zur Arbeitsstätte durch die Lortzingstraße bis zur Kreuzung mit der Mittelstraße gefahren, hatte ihn dort geparkt, war auf der Mittelstraße ein Stück in eine dritte Richtung in die Gaststätte gegangen und hatte dort ein warmes Abendessen zu sich genommen. Um 22.30 Uhr sollte seine Nachtschicht im Werk M.-L. der Firma D. beginnen. Nachdem eine Entschädigung wegen der Unfallfolgen abgelehnt worden war (Bescheid vom 20. Dezember 1982, Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 24. April 1985), hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, dem Kläger Verletztenrente ab Wiedereintritt der Arbeitsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 5. Juni 1986). Das Gericht hat als Voraussetzung des Unfallversicherungsschutzes einen Arbeitsunfall auf dem Weg zur Arbeitsstätte von der Wohnung aus als einen Gesamtweg nach § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) verneint. Aber der Kläger sei deshalb versicherungsrechtlich geschützt gewesen, weil er sich, als er verunglückte, auf dem Weg zum Arbeitsort von der Gastwirtschaft aus befunden habe. Er habe dort eine rechtlich selbständige Fahrt beginnen wollen, nachdem mehr als die Hälfte der Zeit zwischen Verlassen der Wohnung und Schichtbeginn verstrichen gewesen sei. Dieser Weg habe mit insgesamt 3.400 m von der Wohnung aus über Mittelstraße, Ludwig-Jolly-Straße und Untermühlaustraße bei einer Fahrtzeit von vier Minuten, wovon rund 525 m zwischen Wohnung und Parkstelle abzuziehen seien, in angemessenem Verhältnis zum direkten Weg von 2.300 m durch die Waldhofstraße gestanden.
Die Beklagte rügt mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 550 Abs 1 RVO und in verfahrensrechtlicher Hinsicht ein grundloses Abweichen von der Polizeiauskunft über das Verhältnis der beiden Fahrstrecken zueinander (2.100 m zu 1.200 m). Nach dieser Auskunft sei der Umweg nicht angemessen gewesen. Außerdem habe der Kläger ihn nur wegen des Essens, einer privaten Verrichtung, gewählt. Er habe einen einheitlichen Umweg eingeschlagen, auf dem er zur Gaststätte noch einen Abweg in entgegengesetzter Richtung habe einschieben müssen. Das LSG habe die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) über eine Unterbrechung von weniger als zwei Stunden für eine private Tätigkeit nicht beachtet. Erst eine längere Dauer hätte die Gaststätte als Ausgangspunkt für einen neuen Weg zur Arbeit werten lassen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er erklärt seinen Aufbruch zur Arbeit 35 Minuten vor Schichtbeginn damit, daß er längere Zeit für das Aufsuchen eines Parkplatzes im Werksgelände, für den Weg von dort zum Arbeitsplatz und für das Umkleiden einkalkulieren müsse.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg.
Das LSG hat mit Recht dem Kläger eine Unfallentschädigung nach § 547 RVO zugesprochen; denn er hat einen Arbeitsunfall iS des § 550 Abs 1 RVO erlitten.
Nach dieser Vorschrift gilt als Arbeitsunfall ua ein Unfall auf einem Weg nach dem Ort der Tätigkeit, an der ein Beschäftigter seine versicherte Arbeit (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) verrichtet, wenn der "Weg" iS der Fortbewegung in bestimmter Richtung (BSG SozR 2200 § 550 Nr 24) mit der Beschäftigung zusammenhängt. Diese Voraussetzungen waren für den Fußweg des Klägers von der Gastwirtschaft, in der er vor Nachtschichtbeginn gegessen hatte, zu seinem an der Ecke Mittel-/Lortzingstraße geparkten Auto gegeben. Der Weg zur Arbeit iS des § 550 Abs 1 RVO begann für den Kläger mit dem Verlassen der Gaststätte. Er ist allgemein nach dem Gesetz nicht auf die Strecke zwischen Wohnung und Betriebsstätte beschränkt; in § 550 Abs 1 RVO ist lediglich der Tätigkeitsort als Endpunkt für den Hinweg und als Ausgangspunkt für den Rückweg ausdrücklich festgelegt. Durch die Wahl eines anderen Ausgangspunktes als der Wohnung darf zwar das von der Unfallversicherung zu tragende Unfallrisiko nicht wesentlich erhöht werden. Die Rechtsprechung hat Rechtsgrundsätze festgelegt, die für diese Beschränkung des Unfallrisikos sorgen. Das LSG hat aber diese Rechtsgrundsätze nicht verletzt. Insbesondere ist der Weg von der Gaststätte zur Arbeitsstätte nur unwesentlich länger als der Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte (vgl BSGE 22, 60, 62). Die Zahlenangaben der Polizei - 2.100 m und 1.200 m - berücksichtigen nicht die gemeinsame Strecke der beiden Wege.
Der Kläger wäre allerdings nicht geschützt gewesen, wenn er seinen Weg zur Arbeit etwa 1 1/4 Stunde vor Schichtbeginn bereits an der Wohnung als einen Gesamtweg begonnen und dann zwecks Gaststättenbesuchs nur unterbrochen hätte. Denn der Kläger ist verunglückt, bevor er die Straße erreicht hatte, die - als vertretbarer Umweg - zur Arbeitsstätte führt. Das LSG hat aber ohne Rechtsverstoß aus den Umständen des Einzelfalles geschlossen, daß der Kläger zunächst zum Essen als einer privaten, dh nicht unfallversicherungsrechtlich geschützten Verrichtung ging und daß von dort aus der Weg zum Betrieb begann. Dabei durfte auch ins Gewicht fallen, daß der von seiner Familie damals noch getrennt lebende Kläger vor der Nachtschicht regelmäßig in einer Gaststätte - oft auch in der Gaststätte, vor der der Unfall passierte - seine Abendmahlzeiten einnahm. Denn aus dieser Gepflogenheit konnte das LSG schließen, daß der Kläger nicht von dem Gesamtweg von der Wohnung zur Arbeitsstätte nur kurzfristig abgewichen ist. Die Gaststätte konnte als eigenständiger dritter Ort (BSG SozR § 543 RVO aF Nr 32) angesehen werden.
Entgegen der Meinung der Beklagten besteht kein Rechtsgrundsatz des Inhalts, daß ein anderer Ausgangsort als die Wohnung nur dann anerkannt wird, wenn sich der Versicherte mehr als zwei Stunden an diesem Ort aufhält. Wohl verliert ein Weg "von" dem Ort der Tätigkeit (Rückweg) seinen Charakter als nach § 550 Abs 1 RVO geschützter Weg grundsätzlich, wenn er zwei Stunden unterbrochen wird (BSGE 55, 141, 143). Damit ist aber nichts für die Antwort auf die Frage gewonnen, wann und wo ein geschützter Weg zur Arbeitsstätte beginnt, bereits mit Verlassen der Wohnung oder an einem zwischendurch aufgesuchten Ort einer privaten Verrichtung.
Mithin muß die Revision der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1666215 |
BB 1987, 2099 |