Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsschadensausgleich. Berufswechsel. Sachaufklärungspflicht

 

Orientierungssatz

1. Der wirtschaftliche Schaden, der nach § 30 Abs 3 und 4 BVG ausgeglichen werden soll, kann nur durch einen Vergleich des Zustandes, der ohne die Schädigungsfolgen bestehen würde, mit dem Zustand, der infolge der Schädigung im Sinne des § 1 BVG entstanden ist, ermittelt werden (vgl BSG 1970-07-08 10 RV 189/68 = SozR Nr 44 zu § 30 BVG).

2. Der derzeitige Beruf kann nur dann zur Feststellung des Durchschnittseinkommens, von dem der Einkommensverlust iS des § 30 Abs 3 und 4 BVG abhängt, herangezogen werden, wenn nach den den in § 30 Abs 4 S 1 BVG aufgeführten Merkmalen wahrscheinlich ist, daß der Beschädigte ihn ohne die Schädigungsfolgen ausüben würde.

3. Der Umstand, daß ein Kläger sein Vorbringen, das von ihm eingereichte Beweismaterial und seine im Gerichtsverfahren gestellten Anträge darauf ausrichtet, er habe eine Einkommensverlust in seinem derzeitigen Beruf als Bundesbahnbeamter durch die Schädigungsfolgen erlitten, entbindet das LSG nicht von der Pflicht, den rechtserheblichen Sachverhalt nach den Maßstäben des § 30 Abs 4 S 1 BVG ohne Bindung an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten von Amts wegen aufzuklären und darauf zu drängen, daß sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 3 Fassung: 1966-12-28, Abs. 4 S. 1; SGG § 103

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 28.02.1968)

SG Konstanz (Entscheidung vom 27.10.1967)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Februar 1968 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der 1911 geborene Kläger ist gelernter Maurer und war als solcher, ferner als Dachdecker und Steinhauer sowie nach einem 1933 erlittenen Unfall, bis er 1941 zum Kriegsdienst einberufen wurde, als Maschinenarbeiter und Bürogehilfe tätig. Am 31. August 1943 wurde er wegen Dienstunfähigkeit aus der Wehrmacht entlassen. Im September 1943 nahm er eine Tätigkeit als technischer Angestellter bei der Reichsbahn auf und wurde 1945 bis 1950 zum technischen Reichsbahn- bzw. Bundesbahnassistenten ausgebildet. 1954 bestand er die Maurermeisterprüfung.

Das Versorgungsamt (VersorgA) R anerkannte mit Neufeststellungsbescheid vom 1. September 1952 "geringe Bewegungsbeschränkung im rechten Schultergelenk und Ellenbogengelenk, Versteifung im rechten Handgelenk, hochgradige Bewegungsbeschränkung der Finger rechts nach Splitterverletzung des rechten Unterarms und beginnende Veränderungen im rechten Schultergelenk" als Schädigungsfolgen im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und gewährte dem Kläger wegen der hierdurch bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v.H. Rente ab 1. November 1951.

Am 15. Oktober 1959 zog sich der Kläger, inzwischen zum technischen Bundesbahnsekretär befördert, bei einem Sturz mit seinem Moped eine Verletzung des linken Armes zu, die die Gebrauchsfähigkeit des Armes und der Hand eingeschränkt hat. Der Unfall ist als Arbeitsunfall mit einem Rentenanspruch nach einer MdE von 40 v.H. anerkannt. Nach einer Untersuchung durch den Bahnarzt Dr. G am 8. Juli 1960 wurde der Kläger mit Ablauf des 31. August 1961 wegen dauernder Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt.

Am 26. Juni 1964 beantragte der Kläger die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs nach § 30 Abs. 3 BVG. Zum Nachweis seines Einkommensverlustes berief er sich auf eine Bescheinigung der Bundesbahndirektion K vom 16. Juni 1964, wonach er gegenüber den damaligen Pensionsbezügen in Höhe von monatlich 453,22 DM brutto beim Verbleiben im aktiven Dienst ein Gehalt von monatlich 831,- DM brutto erhalten hätte, in beiden Fällen zuzüglich einer Kinderzulage von 50,- DM. Außerdem legte der Kläger einen Bericht des Bahnarztes Dr. R vom 15. September 1965 vor, wonach er vorwiegend auf Grund der mit einer MdE um 60 v.H. anerkannten Kriegsbeschädigung in den Ruhestand versetzt worden sei, weil ohne die Kriegsbeschädigung der weitere Unfallschaden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht eingetreten wäre, andererseits der Unfallschaden für sich allein nicht zur Dienstunfähigkeit geführt hätte.

Mit Bescheid vom 3. Januar 1967 lehnte das VersorgA den Antrag auf Berufsschadensausgleich mit der Begründung ab, für das Aufgeben sowohl des Berufes eines Maurers als auch der Tätigkeit als Bundesbahnbeamter seien schädigungsunabhängige Ereignisse verantwortlich zu machen. Der Kläger wäre trotz seiner Kriegsbeschädigung ohne die Unfallfolgen in der Lage gewesen, seinen Dienst weiter zu verrichten. Im anschließenden Widerspruchsverfahren trug der Kläger ua vor, beim Verbleiben im Amt wäre er jetzt mindestens Bundesbahnobersekretär, so daß er bei seinen derzeitigen Gesamteinnahmen von 832,13 DM (Pensionsbezüge: 533,93 DM, Unfallrente: 194,20 DM, Invaliden-(Versicherten-)rente: 104,- DM einen Einkommensverlust von mehr als 75,- DM monatlich erlitten habe. Diese finanzielle Einbuße sei durch die Schädigungsfolgen als wesentliche Mitbedingung verursacht worden und müsse im Rahmen des Berufsschadensausgleichs ersetzt werden; die Unfallfolgen mit einer MdE um 40 v.H. hätten nicht allein zur Versetzung in den Ruhestand geführt. Der Widerspruch wurde unter Hinweis auf die Stellungnahme der Bahnärzte Dr. G und Dr. H zurückgewiesen (Bescheid vom 28. Juli 1967). Das Sozialgericht (SG) Konstanz verurteilte den Beklagten am 27. Oktober 1967, dem Kläger Berufsschadensausgleich auf der Grundlage des Einkommens eines Beamten des mittleren Dienstes nach Vollendung des 45. Lebensjahres (A 8) zu gewähren: Anders als bei der Festsetzung der MdE nach § 30 Abs. 1 und 2 BVG seien bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Schädigungsfolgen und Einkommensverlust (Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 BVG) "Nachschäden" nach der Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung zu berücksichtigen. Die vorzeitige Pensionierung sei nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 17. Mai 1967 wesentlich durch Schädigungsfolgen mitverursacht worden.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 28. Februar 1968 (Breithaupt 1968, 766) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen: Die Frage der Verursachung bei einem Anspruch auf Berufsschadensausgleich müsse nach den Grundsätzen beantwortet werden, die für die Feststellung der MdE nach § 30 Abs. 1 BVG und wegen besonderen beruflichen Betroffenseins (§ 30 Abs. 2 BVG) gelten. Bei der Festsetzung der MdE werde aber ein sogenannter "Nachschaden" unberücksichtigt gelassen. Ein solcher "Nachschaden" liege im Fall des Klägers vor, da dieser trotz der schädigungsbedingten MdE um 60 v.H. imstande gewesen sei, seinen Dienst bei der Bundesbahn zu verrichten, und nur wegen des Hinzutretens der Unfallfolgen vorzeitig habe pensioniert werden müssen. Schon aus diesem Grunde sei dem Kläger kein Berufsschadensausgleich zu gewähren, so daß dahingestellt bleiben könne, ob er überhaupt einen wirtschaftlichen Schaden im geforderten Umfange erlitten habe.

Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe § 30 Abs. 3 und 4 BVG iVm der Durchführungsverordnung vom 30. Juli 1964 verletzt. Er ist mit dem SG der Rechtsauffassung, daß unter Berücksichtigung des durch den Unfall vom 15. Oktober 1959 eingetretenen "Nachschadens" die anerkannten Schädigungsfolgen eine wesentliche Mitursache für die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand gewesen seien.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Konstanz vom 27. Oktober 1967 als unbegründet zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Er hält die Rechtsauffassung des LSG für richtig.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1, §§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch im Sinne einer Zurückverweisung erfolgreich.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger ein Berufsschadensausgleich zu gewähren ist. Der Anspruch auf diese Versorgungsleistung setzt nach § 30 Abs. 3 BVG (idF des Zweiten Neuordnungsgesetzes vom 21. Februar 1964 - BGBl I S. 85 - und des 3. NOG vom 28. Dezember 1966 - BGBl I S. 750 -) einen Einkommensverlust durch die Schädigungsfolgen voraus. Einkommensverlust in diesem Sinne ist nach der Legaldefinition des § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen des Beschädigten zuzüglich der Ausgleichsrente und dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten sowie dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte. Das LSG hat nicht festgestellt, welchen Beruf der Kläger unter Berücksichtigung der genannten Anhaltspunkte wahrscheinlich ohne seine Schädigungsfolgen seit 1964 ausüben würde. Die Nachprüfung von Rechtsfragen durch das Revisionsgericht (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) setzt aber voraus, daß das angefochtene Urteil eindeutige Feststellungen tatsächlicher Art, die unter das anzuwendende Gesetz subsumiert werden können, enthält (§ 163 SGG). Wohl ist das LSG - ebenso wie schon das SG - ohne eine entsprechende Tatsachenwürdigung zu § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG davon ausgegangen, daß der Unterschied zum Einkommen in dem vom Kläger erst nach der Schädigung ausgeübten Beruf eines technischen Bundesbahnbeamten des mittleren Dienstes rechtserheblich sei. Damit hat es den § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG verletzt; denn diesen Beruf hat der Kläger erst nach der kriegsdienstbedingten Schädigung im Sinne des § 1 BVG ergriffen. Dieser Beruf kann daher gerade nicht ohne weiteres als die Berufstätigkeit angesehen werden, die der Kläger ohne die Schädigungsfolgen nach dem vom LSG festgestellten Berufsweg in der Zeit vor seinem Wehrdienst - Maurer, Dachdecker, Steinhauer, Maschinenarbeiter und Bürogehilfe - wahrscheinlich ausgeübt hätte. Der wirtschaftliche Schaden, der nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG ausgeglichen werden soll, kann nur durch einen Vergleich des Zustandes, der ohne die Schädigungsfolgen bestehen würde, mit dem Zustand, der infolge der Schädigung im Sinne des § 1 BVG entstanden ist, ermittelt werden (vgl. BSG SozR Nr. 44 zu § 30 BVG).

Dies hat das LSG - ebenso wie schon das SG - verkannt. Der "derzeitige" Beruf kann nur dann zur Feststellung des Durchschnittseinkommens, von dem der Einkommensverlust i.S. des § 30 Abs. 3 und 4 BVG abhängt, herangezogen werden, wenn nach den in § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG aufgeführten Merkmalen wahrscheinlich ist, daß der Beschädigte ihn ohne die Schädigungsfolgen ausüben würde. Im vorliegenden Fall hat der Kläger nicht vorgetragen, er wäre nach dem Wehrdienst auch ohne die Schädigungsfolgen technischer Bundesbahnbeamter geworden. Sein tatsächlicher Berufsweg bis 1941, den das LSG nicht ausgewertet hat, bietet im übrigen keinen Anhalt für eine solche Berufsentwicklung nach dem Krieg für den Fall, daß der Kläger unversehrt heimgekehrt wäre. Der Umstand, daß er sein Vorbringen, das von ihm eingereichte Beweismaterial und seine im Gerichtsverfahren gestellten Anträge darauf ausgerichtet hat, er habe einen Einkommensverlust als Bundesbahnbeamter durch die Schädigungsfolgen erlitten, hat das LSG nicht von der Pflicht entbunden, den rechtserheblichen Sachverhalt nach den Maßstäben des § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG ohne Bindung an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten von Amts wegen aufzuklären und darauf zu drängen, daß sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden (§§ 103, 106 SGG).

Da das LSG möglicherweise von einem rechtlich nicht maßgebenden Beruf ausgegangen ist und keine tatsächlichen Feststellungen über den Beruf, den der Kläger ohne die Schädigungsfolgen nach § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG wahrscheinlich ausüben würde, getroffen hat, mußte nach § 170 Abs.2 Satz 2 SGG das Urteil, gegen das sich die zugelassene Revision richtet, auch ohne formgerechte Rüge dieses Verfahrensmangels (§ 164 Abs. 2 Nr. 2 SGG) aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen werden (BSG SozR Nr. 6 zu § 163 SGG).

Das LSG wird in erster Linie auf Grund der vom Kläger zu seinem Antrag auf Berufsschadensausgleich gemachten Angaben klären und entscheiden müssen, welchen Beruf er ohne die Schädigungsfolgen ausüben würde und ob er im Vergleich mit dem Durchschnittseinkommen in diesem Beruf durch die Schädigung einen Einkommensverlust erlitten hat. Je nach dem Ausgang dieser Prüfung könnte erneut darüber zu entscheiden sein, ob ein noch nicht durch die Schädigung i.S. des § 1 BVG bedingter Einkommensverlust erst mit dem 1959 erlittenen Arbeitsunfall eingetreten und wie dieser Schaden rechtlich zu bewerten ist. Der Senat hatte über diese Streitfrage, die den Rechtsstreit bisher beherrscht hat, noch nicht zu befinden, weil sich nicht absehen läßt, ob es rechtlich darauf ankommen wird, nachdem erst der gemäß § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG maßgebende Beruf festgestellt und der Einkommensvergleich durchgeführt ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648696

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