Leitsatz (amtlich)
AVG § 42 S 2 Nr 1 (= RVO § 1265 S 2 Nr 1) ist auch dann anwendbar, wenn eine nur für den Fall des Notbedarfs vorgesehene Unterhaltsverpflichtung zur Zeit des Todes des Versicherten wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat (Anschluß an BSG 1980-09-11 5 RJ 60/79).
Normenkette
RVO § 1265 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16; AVG § 42 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 18.06.1979; Aktenzeichen L 6 An 1585/78) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 22.08.1978; Aktenzeichen S 5 An 2105/77) |
Tatbestand
Die 1934 geschlossene Ehe der 1911 geborenen Klägerin mit dem Versicherten wurde durch Urteil vom 22. März 1961 aus Verschulden des Versicherten geschieden. Die früheren Eheleute haben nicht wieder geheiratet. Zur Auseinandersetzung sämtlicher vermögensrechtlicher Ansprüche schlossen sie im Juli 1961 eine Vereinbarung, in der es ua heißt: "Herr Dr B ist bei der gegenwärtigen Situation nicht verpflichtet, an Frau B Unterhalt zu zahlen ... Eine Unterhaltsverpflichtung des Herrn Dr B entsteht erst für den Fall einer unverschuldeten Notlage von Frau B".
Der Versicherte ist am 25. September 1976 verstorben. Den im Oktober 1976 gestellten Antrag der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenrente lehnte die Beklagte ab. Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Nach Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) sind die Voraussetzungen des § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nicht erfüllt. Der Versicherte habe weder zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt zu leisten gehabt noch habe er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet. Einem Unterhaltsanspruch habe entgegengestanden, daß die Klägerin vom 1. Januar 1975 bis zum 25. September 1976 über ein monatliches Nettoeinkommen von 500,-- DM, nach Angabe der Klägerin davon 250,-- DM aus Erwerbstätigkeit, verfügt habe; außerdem habe ihr ein dingliches Wohnrecht an einer Dreizimmerwohnung zugestanden. Ein Anspruch aus § 42 Satz 2 AVG sei schon deswegen nicht gegeben, weil eine Unterhaltsverpflichtung nicht nur wegen der in Nr 1 der genannten Vorschrift bezeichneten Einkommens- und Vermögensverhältnisse, sondern auch wegen der von den früheren Ehegatten getroffenen Vereinbarung nicht bestanden habe.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 42 Satz 2 Nr 1 AVG. Das LSG habe verkannt, daß gerade die in dieser Vorschrift genannten Umstände eine Unterhaltspflicht des Versicherten ausgeschlossen hätten. Ohne ihr seinerzeitiges Arbeitseinkommen hätte sie sich nämlich in einer Notlage befunden und daher einen Unterhaltsanspruch gehabt.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen und den angefochtenen
Bescheid aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung
einer Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG zu
verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend; für das Fehlen eines Unterhaltsanspruchs sei primär die Vereinbarung vom Juli 1961 ursächlich. Sollte § 42 Satz 2 Nr 1 AVG jedoch auch Unterhaltsverpflichtungen nur für Fälle einer - nicht eingetretenen - "unverschuldeten Notlage" erfassen, so müsse noch der angemessene Unterhalt zur Zeit der Scheidung festgestellt und auf die Zeit des Todes projiziert werden; hiervon seien die nicht auf Erwerbstätigkeit beruhenden Einkünfte der Klägerin abzuziehen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen war.
Das LSG hat zu Recht die Voraussetzungen des § 42 Satz 1 AVG verneint. Soweit es jedoch auch Satz 2 dieser Vorschrift nicht für anwendbar hielt, vermag der Senat dem LSG nicht zu folgen.
Da eine Witwenrente nicht zu gewähren ist und die Klägerin zur Zeit der Scheidung das 45. (vgl § 42 Satz 2 Nr 2 AVG) und zur Zeit des Todes des Versicherten das 60. Lebensjahr (vgl § 42 Satz 2 Nr 3 AVG) vollendet hatte, kommt es insoweit allein darauf an, ob eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten wegen der in § 42 Satz 2 Nr 1 AVG bezeichneten Umstände, dh wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit, nicht bestanden hat. Die hieran gescheiterte Unterhaltspflicht kann eine Unterhaltspflicht nach der ersten oder nach der zweiten Alternative des § 42 Satz 1 AVG, also eine Unterhaltspflicht nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder eine solche aus sonstigen Gründen gewesen sein.
Nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 22. August 1978 (SozR 2200 § 1265 Nr 6) hat eine derartige Unterhaltsverpflichtung wegen der in § 42 Satz 1 Nr 1 AVG bezeichneten Umstände dann nicht bestanden, wenn gerade diese Umstände für das Fehlen der Unterhaltsverpflichtung zur Zeit des Todes des Versicherten erheblich gewesen sind. Das bedeutet, daß ohne diese Umstände eine Unterhaltsverpflichtung zu dieser Zeit gegeben gewesen sein muß. Demgemäß sind, wie bereits der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 11. September 1980 - 5 RJ 60/79 - entschieden hat, die Voraussetzungen des § 42 Satz 2 Nr 1 AVG auch dann erfüllt, wenn eine Verpflichtung des Versicherten zum Unterhalt nur im Falle des Notbedarfs bestanden hätte, ein solcher Notbedarf aber durch Erwerbseinkünfte der früheren Ehefrau ausgeschlossen war. Die gescheiterte Unterhaltsverpflichtung kann nämlich auch eine nur für den Notbedarf eingegangene Verpflichtung sein. Bei seiner Berufung auf das Urteil des erkennenden Senats (SozR 2200 § 1265 Nr 6) übersieht das LSG, daß dort auf jeglichen Unterhalt, also auch für den Fall des Notbedarfs, verzichtet worden war; die in § 42 Satz 2 Nr 1 AVG bezeichneten Umstände waren deshalb dort irrelevant (vgl auch SozR 2200 § 1265 Nr 40); in dem damals entschiedenen Fall konnte eine Unterhaltsverpflichtung wegen des generellen Unterhaltsverzichts nicht an den in § 42 Satz 2 Nr 1 genannten Umständen scheitern. Im vorliegenden Falle ist es jedoch möglich, daß diese Umstände eine Unterhaltsverpflichtung, wenn auch nur eine solche für einen Notbedarf, verhindert haben.
Die vom LSG getroffenen Feststellungen erlauben dem Senat nicht die Beurteilung, ob eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten zur Zeit seines Todes aus den in § 42 Satz 2 Nr 1 AVG genannten Gründen nicht bestanden hat. Die Anwendung der Nr 1 verlangt eine doppelte Fiktion: Zum einen ist hier zu fingieren, daß der Versicherte genügend Mittel (Erwerbseinkommen, Vermögen) hatte, um einer Unterhaltspflicht nach dem Ehegesetz oder aus sonstigen Gründen gegenüber der früheren Ehefrau nachzukommen. Zum anderen ist zu fingieren, daß die frühere Frau keine Erträgnisse aus einer Erwerbstätigkeit hatte; es sind hier also die - vom LSG nicht festgestellten - Erwerbseinkünfte der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten, nicht aber die ihr sonst zur Verfügung gestandenen Mittel außer acht zu lassen. Auf dieser wesentlich fiktiven, zum Teil aber noch realen Grundlage ist für den vorliegenden Fall zu prüfen, ob unter solchen Umständen der in der Vereinbarung von 1961 geregelte Notlagefall eingetreten wäre mit der Folge, daß der Versicherte dann Unterhalt in einer für die Anwendung des § 42 AVG ausreichenden Höhe der Klägerin hätte zahlen müssen.
Da der Senat die hierzu erforderlichen Feststellungen nicht selbst zu treffen vermag, war nach alledem das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisions- und des vorangegangenen Beschwerdeverfahrens, an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen