Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsplätze für Pförtner und Wächter. Verschlossensein des Arbeitsmarktes. übliche Arbeitsbedingungen. Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit
Orientierungssatz
1. Daß es Arbeitsplätze für Pförtner und Wächter in großer Anzahl gibt, ist eine allgemeinkundige Tatsache (vgl zu diesem Begriff: BSG 1978-10-31 4 BJ 149/78 = SozR 1500 § 128 Nr 15). Diese Tätigkeiten sind auch in Tarifverträgen erfaßt.
2. Bei Vollzeitarbeitskräften kommt es auf das etwaige Verschlossensein des Arbeitsmarktes nicht an; das gilt jedenfalls für die von Tarifverträgen erfaßten Tätigkeiten (vgl BSG 1978-04-19 4 RJ 55/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 30). Ausnahmen können nur in Betracht kommen, wenn der Versicherte entweder die Vollzeittätigkeit nicht "unter den im Betrieb in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen" verrichten oder Arbeitsplätze dieser Art nicht von seiner Wohnung aus aufsuchen kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 07.12.1978; Aktenzeichen L 6 J 964/77) |
SG Kassel (Entscheidung vom 05.08.1977; Aktenzeichen S 8 J 115/76) |
Tatbestand
Der im Jahr 1925 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er arbeitete bis 1971 überwiegend als Aufbereiter in einem Tonwerk. Wegen gesundheitlicher Beeinträchtigung ist er jetzt nur noch in der Lage, körperlich leichte Arbeiten "einarmig" (der Kläger hat - als Kriegsbeschädigung - den rechten Arm im oberen Drittel des Unterarms verloren) zu verrichten.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 4. Mai 1976 den im Januar 1976 gestellten Rentenantrag des Klägers ab. Das Sozialgericht Kassel hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Februar 1976 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Zwar kämen für den Kläger Tätigkeiten als Fahrstuhlführer, Pförtner, Wächter und Sicherungsposten in Betracht. Für diese Tätigkeiten seien aber geeignete Arbeitsplätze nicht in nennenswerter Anzahl vorhanden. Das Arbeitsamt Kassel habe dem Kläger keine geeigneten Arbeitsplätze nachweisen können. Aufgrund der geringen Bandbreite der Einsatzfähigkeit des Klägers sei nach der seit 1972 bestehenden Arbeitslosigkeit des Klägers der Nachweis der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes geführt. Der Kläger sei unter den üblichen Arbeitsbedingungen nicht mehr einsatzfähig.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1247 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 128 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie ist der Rechtsansicht, daß vollschichtig Arbeitsfähigen der Arbeitsmarkt grundsätzlich nicht verschlossen sei. Soweit das LSG annehme, daß bei dem Kläger ein besonderer Ausnahmefall vorliege, fehle es an der Angabe der Gründe, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen seien.
Sie beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts
vom 7. Dezember 1978 aufzuheben und die Berufung
des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel
vom 5. August 1977 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten als unbegründet
zurückzuweisen.
Er regt die Zurückverweisung an, damit das LSG die für seine Überzeugungsbildung maßgebend gewesenen Gründe darlegen könne.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als die Sache zurückverwiesen werden mußte. Die Feststellungen des LSG reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Der Antrag des Klägers auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ist nur dann begründet, wenn der Kläger erwerbsunfähig ist und wenn die Wartezeit erfüllt ist (§ 1247 Abs 1 RVO). Erwerbsunfähig ist der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (§ 1247 Abs 2 Satz 1 RVO). Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger (an sich) noch als Fahrstuhlführer, Pförtner, Wächter oder Sicherungsposten arbeiten könne. Es meint aber, daß es für diese Tätigkeiten praktisch keine Arbeitsplätze mehr gebe und daß deshalb der Kläger eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausüben könne. Seine tatsächlichen Feststellungen erwecken Zweifel, seine Rechtsausführungen sind irrig.
Die Beklagte hat die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht mit Revisionsgründen angegriffen; deshalb ist der Senat insoweit gebunden (§ 163 SGG). Auf die Bedenken, die gegen die Richtigkeit der Feststellungen bestehen, soll jedoch hingewiesen werden. Daß es Arbeitsplätze mindestens für Pförtner und Wächter in großer Anzahl gibt, ist eine allgemeinkundige Tatsache (vgl zu diesem Begriff: BSG SozR 1500 § 128 Nr 15). Diese Tätigkeiten sind auch in Tarifverträgen erfaßt, zB im Lohngruppenverzeichnis des Mantel-Tarifvertrages für Arbeiter des Bundes nach dem Stand vom 1. Juni 1977. Gerade diese Tätigkeiten werden in beachtlichem Umfang von einarmigen Kriegsbeschädigten ausgeübt; ob auch das allgemeinkundig ist, mag dahinstehen, es läßt sich jedoch unschwer ermitteln, zB durch die Vernehmung des Schwerbeschädigtenvermittlers eines Arbeitsamtes. Da bei dem Kläger, abgesehen von dem Verlust des rechten Armes, weitere Behinderungen wesentlicher Art nicht bestehen, dürfte an dem Vorhandensein von für ihn geeigneten Arbeitsplätzen - seien sie frei oder besetzt - kaum ein Zweifel bestehen. Daß der Kläger nicht in einen solchen Arbeitsplatz vermittelt worden ist (und vielleicht auch vom Arbeitsamt Kassel nicht vermittelt werden konnte), vermag das Fehlen solcher Arbeitsplätze weder zu beweisen noch auch nur glaubhaft zu machen. Das alles mag jedoch dahinstehen.
Entgegen der Rechtsansicht des LSG kommt es nämlich bei Vollzeitarbeitskräften auf das etwaige Verschlossensein des Arbeitsmarktes nicht an; das gilt jedenfalls für die von Tarifverträgen erfaßten Tätigkeiten (ständige Rechtsprechung des BSG: Urteile vom 27. Mai 1977 - 5 RJ 28/76 - BSGE 44, 39 = SozR 2200 § 1246 Nr 19, vom 21. September 1977 - 4 RJ 131/76 - SozR aaO Nr 22 und vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 - SozR aaO Nr 30). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten, zumal da das LSG seine Ablehnung nicht näher begründet hat.
Nach der genannten Rechtsprechung können Ausnahmen allenfalls dann in Betracht kommen, wenn der Versicherte entweder die Vollzeittätigkeit nicht "unter den im Betrieb in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen" verrichten oder Arbeitsplätze dieser Art nicht von seiner Wohnung aus aufsuchen kann. Das LSG meint, aufgrund der geringen Bandbreite seiner Einsatzfähigkeit sei der Kläger unter den üblichen Arbeitsbedingungen nicht mehr einsatzfähig. Ob es sich hier um eine tatsächliche Feststellung iS des § 163 SGG handelt, mag dahinstehen. Denn die Beklagte hat mit ihrer Revisionsrüge darauf hingewiesen, daß das LSG entgegen § 128 Abs 1 Satz 2 SGG nicht die Gründe angegeben hat, die für seine richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Zu dieser Angabe bestand hier deshalb besonderer Anlaß, weil zum einen die Entscheidung letztlich von der Frage abhängt, ob der Kläger unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen arbeiten kann, und zum anderen es der Lebenserfahrung widerspricht, daß ein Versicherter, der damals (bei Erlaß des angefochtenen Urteils) 53 Jahre alt und "nur" durch den Verlust des rechten Unterarmes beeinträchtigt war, nicht betriebsüblich als Pförtner oder Wächter sollte arbeiten können. Wenn das LSG trotzdem von der Angabe von Gründen abgesehen hat, so liegt ein Verfahrensfehler vor, der zur Aufhebung des Urteils nötigt. Die Sache war deshalb zurückzuverweisen.
Bei der erneuten Verhandlung wird das LSG diejenigen Einzeltatsachen ermitteln und im Urteil angeben müssen, die für die Fähigkeit oder Unfähigkeit des Klägers, unter den im Betrieb in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu arbeiten, wesentlich sind. Da der Begriff der üblichen Bedingungen nur im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) genannt ist (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1), wird es dabei die Rechtsprechung zum AFG heranziehen können (vgl Urteile vom 21. Juli 1977 - 7 RAr 132/75 - BSGE 44, 164, 172 = SozR 4100 § 134 Nr 3, vom 1. Juni 1978 - 12 RK 23/77 - BSGE 46, 244, 249 = SozR 4100 § 168 Nr 7, vom 20. Juni 1978 - 7 RAr 45/77 - SozR 4100 § 103 Nr 17, vom 19. Juni 1979 - 7 RAr 12/78 - SozR 4100 § 103 Nr 23 und vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 67/78 -). Zunächst wird zu ermitteln sein, welcher Art die üblichen - also bei einer beachtlichen Zahl von Arbeitsverhältnissen vorhandenen - Arbeitsbedingungen der Fahrstuhlführer, Pförtner, Wächter und Sicherungsposten sind. Dann ist zu untersuchen, ob der Kläger diesen Bedingungen voraussichtlich entsprechen wird. Nur wenn die Aufklärung ergibt, daß es von der zu unterstellenden Regel, für diese Tätigkeiten gesunde und voll leistungsfähige Arbeitnehmer zu verwenden, keine in beachtlicher Zahl vorhandenen Ausnahmen gibt, daß also die Beschäftigung einarmiger Personen in diesen Tätigkeiten unüblich (gleich nahezu ausgeschlossen) ist, könnte der Kläger als berufs- oder gar erwerbsunfähig angesehen werden. Ist die Lage, wofür die Lebenserfahrung spricht, anders, müßte die Klage abgewiesen werden.
Über die Kosten wird das LSG entscheiden.
Fundstellen