Entscheidungsstichwort (Thema)
Für die Beurteilung der Unrichtigkeit maßgebender Zeitpunkt
Leitsatz (redaktionell)
1. Das BSG hat bereits in seinem Urteil vom 1957-11-15 9 RV 212/57 = BSGE 6, 106 die Auffassung vertreten, die Unrichtigkeit eines Bescheides (iS des KOV-VfG § 41 Abs 1) sei nach dem Stand der wissenschaftlichen Forschung im Zeitpunkt des Erlasses des aufzuhebenden Bescheides zu beurteilen.
Es besteht kein Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen; sie muß vielmehr auch bei der neuen (durch das 1. NOG KOV eingeführten) Fassung des KOV-VfG § 41 Abs 1 aufrechterhalten werden.
Der Senat folgt insoweit der Auffassung des 8. Senats, der in seinem Urteil vom 1968-11-26 8 RV 403/66 = BSGE 29, 37 dargelegt hat, daß die Neufassung des KOV-VfG § 41 Abs 1 S 1 durch das 1. NOG KOV am sachlichen Gehalt dieser Vorschrift nichts geändert habe.
2. Der Senat schließt sich der ständigen Rechtsprechung des BSG an, wonach die Unrichtigkeit nach dem Stand der wissenschaftlichen Forschung im Zeitpunkt des Erlasses des aufzuhebenden Bescheides zu beurteilen ist (vergleiche BSG 1957-11-15 9 RV 212/57 = BSGE 6, 106; BSG 1968-11-26 8 RV 403/66 = BSGE 29, 37). Änderungen der wissenschaftlichen Erkenntnisse nach dem Erlaß des aufzuhebenden Bescheides, die zu einer Revidierung der früheren medizinischen Auffassung führen, müssen bei Anwendung des KOV-VfG § 41 - auch nach dessen Neufassung durch das 1. NOG KOV - also unberücksichtigt bleiben.
Normenkette
KOVVfG § 41 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 1971 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger hat im 2. Weltkrieg Wehrdienst geleistet; anschließend kam er in Kriegsgefangenschaft, aus der er am 27. Juli 1945 entlassen wurde. Mit der Angabe, daß er im Jahre 1943 in Südfrankreich ein Tropenfieber mit Hirnhautentzündung durchgemacht habe, beantragte er im November 1945 Versorgung u. a. wegen "Hodenatrophie, plötzlichen Lähmungserscheinungen an beiden Beinen, mit heftigen Schwindelanfällen, Übelkeit, ständigem Druck im Kopf (Zustand nach Hirnhautentzündung)". Nachdem der Kläger durch den Facharzt für Nervenkrankheiten und Psychiatrie Dr. U untersucht worden war, erkannte die damals zuständige Landesversicherungsanstalt R (LVA) als Schädigungsfolgen nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 durch Bescheid vom 18. September 1950 an:
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"1. |
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Funktionsstörungen von Blutdrüsen und des Zwischenhirnbereichs nach Hirnentzündung mit allgemeiner körperlicher und geistiger Leistungsschwäche, |
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3. |
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Schwerhörigkeit rechts nach Mittelohrentzündung". |
Dem Kläger wurde eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v. H. bewilligt. Dieser Bescheid ist nach erfolglosem Einspruch bindend geworden.
Das Versorgungsamt (VersorgA) W übernahm Schädigungsfolgen und MdE ohne besondere Untersuchung in den Umanerkennungsbescheid nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 10. Juni 1952. Wegen eines Verschlimmerungsantrages des Klägers wurde im Juli 1955 eine stationäre Beobachtung und Untersuchung in der Rheinischen Landesklinik für Hirnverletzte in B durchgeführt. Prof. Dr. P bezeichnete das Krankheitsbild als unklar und hielt es wegen der widersprüchlichen Angaben des Klägers für erforderlich, zunächst weitere Unterlagen über die Vorgeschichte zu erlangen. Die Deutsche Dienststelle in B übersandte darauf verschiedene Krankenunterlagen. In einem neuen Gutachten vom Juni 1957 führte Prof. Dr. P aus, bei Kenntnis der objektiven Unterlagen lasse sich eine Wehrdienstbeschädigung auch nicht annähernd wahrscheinlich machen; welcher Krankheitsprozeß dem Leiden zugrunde liege, lasse sich nicht entscheiden. Das Landesversorgungsamt (LVersorgA) sah jedoch von dem Erlaß eines Berichtigungsbescheides nach § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) ab, nachdem Dr. U und Dr. H darauf hingewiesen hatten, daß der Kläger als Soldat einen Infekt durchgemacht habe, der offenbar mit meningitischen Erscheinungen einhergegangen sei.
Im September 1966 stellte der Kläger wiederum einen Verschlimmerungsantrag; daraufhin wurde der Kläger in den Universitätskliniken D untersucht. Das Institut für Humangenetik (Prof. Dr. Sch) führte eine Chromatinbestimmung und Chromosomenanalyse durch. Dabei ergab sich, daß beim Kläger ein überzähliges X-Chromosom vorhanden ist und somit eine anlagebedingte Anomalie, ein sogenanntes chromatin-positives Klinefelter-Syndrom, vorliegt. Die Professoren Dr. O und Dr. Z äußerten in ihrem Hauptgutachten vom 30. Mai 1968, dem beim Kläger bestehenden Hypogonadismus liege eine anlagebedingte genetische Anomalie zugrunde und nicht - wie bisher vermutet - eine Zwischenhirnschädigung. Dr. St erklärte in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme, die jetzt durchgeführten Untersuchungen, durch die das Krankheitsbild eindeutig geklärt worden sei, seien zum ersten Mal 1959 in der Weltliteratur beschrieben worden.
Das VersorgA D erließ mit Zustimmung des LVersorgA am 4. November 1968 einen Berichtigungsbescheid gemäß § 41 VerwVG. Unter Abänderung der Bescheide der LVA R vom 18. September 1950 und des VersorgA W vom 10. Juni 1952 wurde vom 1. Dezember 1968 ab nur noch wegen "Herzmuskelschädigung" und "Schwerhörigkeit rechts nach Mittelohrentzündung" Versorgungsrente nach einer MdE um 25 v. H. gewährt. Die für die Vergangenheit gezahlten Leistungen wurden nicht zurückgefordert. Der Bescheid ist damit begründet, daß die ursprünglich anerkannten Gesundheitsstörungen zu 1) nicht durch Einflüsse des Wehrdienstes, sondern durch eine anlagebedingte genetische Anomalie verursacht seien. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid des LVersorgA N vom 26. Juni 1969).
Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten von Prof. Dr. K eingeholt. Dieser kam zu dem Ergebnis, es stehe außer Zweifel, daß die Anerkennung der unter 1) aufgeführten Leiden als Schädigungsfolgen zu Unrecht erfolgt sei; sie seien nicht die Folge einer während des Wehrdienstes durchgemachten Infektionskrankheit im Bereich des Hirns und seiner Häute, sondern es handele sich um ein sogenanntes Klinefelter-Syndrom, um eine anlagebedingte Anomalie. Diese Feststellung habe allerdings bei Erlaß der Bescheide vom 18. September 1950 und 10. Juni 1952 noch nicht getroffen werden können. Die sichere diagnostische Abklärung des Klinefelter-Syndroms sei vielmehr erst durch neue Untersuchungsmethoden, nämlich die Entwicklung der Chromosomenanalyse seit dem Jahre 1959 möglich. Das SG hat durch Urteil vom 28. April 1971 die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG sowie den Bescheid des Beklagten vom 4. November 1968/26. Juni 1969 aufgehoben. Es hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt, auch Verwaltungsakte, die vor dem Inkrafttreten des VerwVG am 1. April 1955 erlassen worden seien, könnten nach § 41 VerwVG zurückgenommen werden; dessen Voraussetzungen seien jedoch nicht gegeben. Zwar stehe aufgrund der Gutachten fest, daß die Anerkennung der Schädigungsfolgen zu 1) unrichtig gewesen sei. Zu Unrecht sei eine wehrdienstbedingte Hirnhautentzündung als Ursache der vorliegenden Störungen angesehen worden. Diese seien vielmehr hervorgerufen durch eine angeborene Anomalie, das sogenannte Klinefelter-Syndrom. Die Unrichtigkeit der früheren Bescheide stehe jedoch nicht "außer Zweifel". Dieses "Außer-Zweifel-Stehen" bedeute, daß jede aus dem festgestellten Sachverhalt sich ergebende, wenn auch fernliegende Möglichkeit, es könne anders sein, ausgeschlossen sein müsse. Nach den heutigen Erkenntnismöglichkeiten der medizinischen Wissenschaft bestehe zwar kein vernünftiger Zweifel daran, daß die Anerkennung der unter 1) aufgeführten Leiden als Schädigungsfolgen nach dem BVG unrichtig gewesen sei. Dies reiche aber für den Erlaß eines Berichtigungsbescheides nicht aus. Das Bundessozialgericht (BSG) habe bereits entschieden, daß auch nach § 41 Abs. 1 VerwVG idF des 1. NOG darauf abzustellen sei, ob nach den Erkenntnismöglichkeiten zur Zeit des Erlasses des zu berichtigenden Bescheides feststehe, daß der frühere Bescheid außer Zweifel unrichtig sei. Änderungen der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Zeit zwischen dem Erlaß des aufzuhebenden und des Berichtigungsbescheides müßten außer Betracht bleiben. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergebe sich, daß eine Berichtigung nicht möglich sei. Zunächst lasse sich nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, daß der Kläger 1943 eine Hirnhautentzündung als Folge seines militärischen Dienstes durchgemacht habe. Objektive Unterlagen für eine solche Erkrankung seien zwar nicht gegeben; immerhin sei sie aber in der Vorgeschichte des Krankenblattes des Kriegsgefangenenlazaretts Munster und in einer früheren ärztlichen Bescheinigung erwähnt. Die Lazarettaufenthalte des Klägers schienen durch die Deutsche Dienststelle auch nicht vollständig wiedergegeben. Lasse sich somit nicht ausschließen, daß der Kläger 1943 eine Hirnhautentzündung durchgemacht habe, so seien die Bescheide von 1950/52 nicht unrichtig im Sinne des § 41 Abs. 1 VerwVG. Mit den damaligen ärztlichen Erkenntnismöglichkeiten habe sich eine Hirnhautentzündung als Ursache der aufgetretenen Funktionsstörungen nicht ausschließen lassen. Die vom SG vorgenommene Unterscheidung zwischen einem "Wandel in den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen" und "Fortschritten bei der Entwicklung diagnostischer Erkenntnismittel" finde im Gesetz keine Grundlage.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Dieses Urteil wurde dem Beklagten am 13. Januar 1972 zugestellt, der dagegen am 10. Februar 1972 Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 14. April 1972 am 13. März 1972 begründet hat.
Er beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 1971 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28. April 1971 zurückzuweisen.
Zur Begründung führt er aus, das LSG habe § 41 VerwVG unrichtig ausgelegt. Es habe nicht beachtet, daß § 41 VerwVG durch das 1. NOG geändert worden sei. Diese Vorschrift verlange nach ihrem Wortlaut nicht, daß die Unrichtigkeit aufgrund bestimmter Beweismittel zweifelsfrei feststehen müsse oder daß bestimmte Beweismittel nicht berücksichtigt werden dürften. Nach ihrer Stellung im Satzgefüge beziehe sich die Zeitbestimmung "im Zeitpunkt ihres Erlasses" auf die Unrichtigkeit selbst und nicht auf deren Nachweis, das "Außer-Zweifel-Stehen". Diese Textinterpretation setze allerdings den üblichen Sprachgebrauch voraus; es sei aber nicht gerechtfertigt, bei der Auslegung des § 41 Abs. 1 Satz 1 VerwVG einen unüblichen und ungenauen Sprachgebrauch zu unterstellen. Wenn die Änderung dieser Vorschrift durch das 1. NOG, wie der 8. Senat des BSG meine, keine inhaltliche Änderung, sondern nur eine Klarstellung bezweckt habe, so bestehe kein Grund zu der Annahme, daß die Änderung der Wortfassung nicht zu einer Klarstellung, sondern dazu geführt habe, daß der Wille des Gesetzes schwerer als zuvor zu erkennen sei. Auch der Wesensgehalt des § 41 VerwVG rechtfertige es nicht, den zweifelsfreien Nachweis der Unrichtigkeit durch Beweise zu verlangen, die schon zur Zeit des Erlasses des unrichtigen Bescheides möglich waren. Die Ansicht des BSG, daß Änderungen bindend gewordener Bescheide sich in den engsten Grenzen halten müßten, sei durchaus zu bejahen. Dies verlange aber nicht, daß die Berücksichtigung neuer Erkenntnismöglichkeiten ausgeschlossen sei. Die Zulassung der Berichtigung bindend gewordener Bescheide diene der Verwirklichung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Das Interesse des Beschädigten am Schutz seines Vertrauens auf den Fortbestand der bindend gewordenen Regelung werde dadurch geschützt, daß die Unrichtigkeit des früheren Bescheides zweifelsfrei nachgewiesen sein müsse. In § 41 VerwVG seien demnach das öffentliche Interesse an der Beseitigung fehlerhafter Bescheide und das private Interesse am Vertrauensschutz gegeneinander abgewogen. Diese Güterabwägung verlange aber nicht, daß die Unrichtigkeit eines bindenden Bescheides nicht nur zweifelsfrei, sondern mit bestimmten Beweismitteln nachgewiesen werden müsse. Nach der Rechtsprechung des BSG müsse auch im sozialen Rechtsstaat eine ungerechtfertigte formale Rechtstellung, die zu dauernden Leistungen der Öffentlichkeit an den Empfänger führen würde, beseitigt werden. Schon das Reichsversorgungsgericht habe die Berichtigung eines Bescheides von dessen unzweifelhafter Unrichtigkeit abhängig gemacht. Es habe aber nicht gefordert, daß "die Prüfung der Unrichtigkeit des früheren Bescheides nur aus der Kenntnis und Erkenntnis zur Zeit der früheren Bescheiderteilung vorgenommen" werde. Gehe man entsprechend der vorstehend dargelegten Rechtsauffassung davon aus, daß es nach § 41 Abs. 1 Satz 1 VerwVG nicht darauf ankomme, mit welchen Mitteln die Unrichtigkeit bindender Bescheide zweifelsfrei nachgewiesen werde, dann seien auch nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt die Voraussetzungen der mit dem angefochtenen Bescheid durchgeführten Berichtigung erfüllt.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist von dem Beklagten frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG); sie ist daher zulässig. Die Revision ist jedoch unbegründet.
Der Kläger hat vor dem LSG ausdrücklich erklärt, daß er eine Neufeststellung seiner Versorgungsbezüge nicht mehr geltend macht. Im Streit ist daher lediglich noch die Rechtmäßigkeit des auf § 41 VerwVG gestützten Berichtigungsbescheides vom 4. November 1968/26. Juni 1969. Dieser Bescheid ist ein Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung. Seine Rechtmäßigkeit ist daher aufgrund des im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung - 26. Juni 1969 - geltenden Rechts zu beurteilen. Das ist § 41 Abs. 1 Satz 1 VerwVG idF, die diese Vorschrift durch das Erste Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (vom 27. Juni 1960 - BGBl I S. 453 - 1. NOG -) erhalten hat (vgl. Art. II Nr. 5 des Gesetzes). Nach dieser Vorschrift können Bescheide über Rechtsansprüche zuungunsten des Berechtigten von der zuständigen Verwaltungsbehörde geändert oder aufgehoben werden, wenn außer Zweifel steht, daß sie im Zeitpunkt ihres Erlasses tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sind. Das LSG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß die Berichtigung der früheren Anerkennungsbescheide (aus den Jahren 1950 und 1952) nach § 41 VerwVG nicht deshalb ausgeschlossen ist, weil diese Bescheide vor dem Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes (am 1. April 1955; vgl. § 51 des Gesetzes) erlassen sind (vgl. BSG in BVBl 1965, 128). Die vom BSG (aaO; vgl. auch SozR Nr. 9 zu § 41 VerwVG) gemachte Einschränkung, wonach die Abänderung oder Rücknahme eines Bescheides nach § 41 VerwVG grundsätzlich auf den Zeitpunkt zurückwirkt, in dem der rechtswidrige Bescheid erlassen worden ist, jedoch nicht auf die Zeit vor dem Inkrafttreten des VerwVG, kann hier unbeachtet bleiben, weil der Beklagte die neue Regelung erst mit Wirkung vom 1. Dezember 1968 an getroffen und auf die Rückforderung der in der Vergangenheit gezahlten Leistungen ausdrücklich verzichtet hat.
Die Rücknahme eines Bescheides nach § 41 VerwVG setzt sowohl die tatsächliche als auch die rechtliche Unrichtigkeit des abgeänderten oder aufgehobenen Bescheides voraus. Das LSG hat aufgrund der Gutachten der Professoren Dr. Z, Dr. Sch und Dr. K festgestellt, daß die Anerkennung von "Funktionsstörungen von Blutdrüsen und des Zwischenhirnbereichs nach Hirnentzündung mit allgemeiner körperlicher und geistiger Leistungsschwäche" als Schädigungsfolge unrichtig gewesen ist, weil diese Störungen nicht auf eine wehrdienstbedingte Hirnhautentzündung, sondern auf eine angeborene Anomalie (sog. Klinefelter-Syndrom) zurückzuführen sind. Diese Feststellungen über die tatsächliche Unrichtigkeit sind von dem Beklagten mit Revisionsrügen nicht angegriffen; sie sind daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Daraus folgt weiter, daß die Anerkennung der Störungen als Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG auch rechtlich nicht richtig gewesen sein kann, da die Versorgungsbehörde nach § 1 BVG versorgungsrechtlich nur eine Gesundheitsstörung hätte anerkennen können und dürfen, die als Folge einer Schädigung durch eine militärische Dienstverrichtung (vgl. §§ 1 ff BVG) herbeigeführt oder verschlimmert worden ist (vgl. BSG aaO).
Die tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit reicht aber für sich allein nicht aus, um einen bindend gewordenen Bescheid aufzuheben. Vielmehr knüpft § 41 VerwVG die Berichtigung noch an die weitere Voraussetzung, daß die Unrichtigkeit "außer Zweifel steht". Das LSG hat dazu weiter - gleichfalls unangegriffen - festgestellt, daß unter Zugrundelegung der heutigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten keine vernünftigen Zweifel mehr daran bestehen, daß die Anerkennung der genannten Störungen als Schädigungsfolge unrichtig gewesen ist, daß aber diese zweifelsfreie Unrichtigkeit nach dem damaligen Stand (1950 bzw. 1952) der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten noch nicht festgestellt werden konnte. Das LSG hat alsdann die Auffassung vertreten, daß diese, erst nachträglich feststellbare Unrichtigkeit nicht ausreiche, um einen bindend gewordenen Bescheid abzuändern oder aufzuheben, sondern daß das "Außer-Zweifel-Stehen" nach den Erkenntnismöglichkeiten zur Zeit des Erlasses des zu berichtigenden Bescheides, nicht des Berichtigungsbescheides, beurteilt werden müsse. Dieser Auffassung ist zuzustimmen; sie rechtfertigt sich aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck des § 41 Abs. 1 Satz 1 VerwVG. Der geänderte Wortlaut dieser Vorschrift steht einer derartigen Rechtsanwendung nicht entgegen.
§ 41 Abs. 1 Satz 1 VerwVG in der ursprünglichen Fassung lautete:
"Bescheide über Rechtsansprüche können zuungunsten des Versorgungsberechtigten von der zuständigen Verwaltungsbehörde durch neuen Bescheid nur geändert oder aufgehoben werden, wenn ihre tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit im Zeitpunkt ihres Erlasses außer Zweifel steht".
Demgegenüber besagt § 41 Abs. 1 Satz 1 idF des Art. II Nr. 5 des 1. NOG:
"Bescheide über Rechtsansprüche können zuungunsten des Berechtigten von der zuständigen Verwaltungsbehörde geändert oder aufgehoben werden, wenn außer Zweifel steht, daß sie im Zeitpunkt ihres Erlasses tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sind".
Beide Vorschriften stimmen also im Wortlaut nicht völlig überein. Das "Außer-Zweifel-Stehen" ist bei der ursprünglichen Fassung sprachlich mit dem Zeitpunkt des Erlasses des zu berichtigenden Bescheides eng gekoppelt. Infolgedessen hatte die ursprüngliche Fassung zu der Auffassung geführt, das "Außer-Zweifel-Stehen" müsse in Fällen der vorliegenden Art nach der ärztlichen Erkenntnis zur Zeit des Erlasses des zu berichtigenden Bescheides beurteilt werden (vgl. BSG 6, 106, 111; Schönleiter-Hennig, Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung, § 41 Anm. 6 S. 111). Durch die neue Fassung ist diese enge Verbindung gelöst und das "Außer-Zweifel-Stehen" vor die in einem Nebensatz enthaltene "Unrichtigkeit" gesetzt worden. Hieraus folgert der Beklagte jedoch zu Unrecht, das "Außer-Zweifel-Stehen" beziehe sich nicht mehr auf die ärztlichen Erkenntnismöglichkeiten zur Zeit des zu berichtigenden Bescheides. Dieses Tatbestandsmerkmal kann sich vielmehr auf den Zeitpunkt sowohl des Berichtigungsbescheides als auch des zu berichtigenden Bescheides beziehen. Die Vorschrift ist demnach mehrdeutig und bedarf der Auslegung (vgl. BSG 29, 37, 39).
Die Entstehungsgeschichte spricht nach Auffassung des Senats eindeutig gegen die Ansicht des Beklagten. Das Reichsversorgungsgericht (RVGer) hatte nach anfänglichem Schwanken (vgl. RVGer 5, 41; 5, 282; 6, 181; 6, 232) entschieden, eine Berichtigung nach § 65 Abs. 2 Verfahrensgesetz (Gesetz über das Verfahren in Versorgungssachen vom 10. Januar 1922 - RGBl S. 59 - VerfG -) sei auch dann zulässig, wenn erst durch weitere Erhebungen und spätere Feststellungen die Unrichtigkeit des früheren Bescheides sicher dargetan ist. Die Einschränkung, daß ein Anerkennungsbescheid dann nicht unrichtig sei oder vielmehr, daß ein unrichtiger Bescheid dann nicht berichtigt werden dürfe, wenn eine Dienstbeschädigung nur aufgrund fortgeschrittener ärztlich-wissenschaftlicher Kenntnis zu verneinen sei, sei weder aus dem Wortlaut noch der Entstehungsgeschichte des § 65 Abs. 2 VerfG noch aus allgemeinen rechtlichen Erwägungen zu entnehmen (vgl. GE des Großen Senats vom 6. März 1929 - Bd. 8 S. 182, 187). Nach dieser Entscheidung des Großen Senats des RVGer ist in der Folgezeit von den Versorgungsbehörden und -instanzen verfahren worden. Bei den Beratungen zu dem Entwurf des Verwaltungsverfahrensgesetzes (1953/54) wurde ausdrücklich betont, daß die Berichtigung an die strengen Voraussetzungen geknüpft sei, die das frühere Reichsversorgungsgericht "in seiner Rechtsprechung" verlangt habe (vgl. Entwurf der Bundesregierung - Drucks. Nr. 68 - zum Gesetz über das Verwaltungsverfahren der KOV, Begründung zu §§ 40 - 44). Das hätte - ohne besondere gesetzliche Regelung - auch die Übernahme der Rechtsprechung des RVGer zu § 65 Abs. 2 VerwVG bedeutet, wie sie eben aufgezeigt worden ist. Auf Beschluß des Ausschusses für Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen (Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953, Druck. 1128). wurden jedoch hinter die Worte: "rechtliche Unrichtigkeit" die Worte eingefügt: "im Zeitpunkt ihres Erlasses". Der Senat teilt die Auffassung aus der Entscheidung des 9. Senats vom 15. November 1957 (Bd. 6, 106, 111), wonach durch diese Abänderung erreicht werden sollte, daß die Unrichtigkeit nach dem Stand der wissenschaftlichen Forschung im Zeitpunkt des Erlasses des aufzuhebenden Bescheides zu beurteilen ist. Diese Auffassung entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG zu § 41 VerwVG (vgl. BSG 29, 37).
In Kenntnis dieser Rechtsprechung hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) den Entwurf für das 1. NOG verfaßt. Nach der Begründung zu Nr. 8 des Art. II dieses Gesetzes (Druck. Nr. 1239, 35) sollte in § 41 Abs. 1 VerwVG lediglich das "und" zwischen tatsächlicher und rechtlicher Unrichtigkeit durch ein "oder" ersetzt werden. Eine weitergehende, für die Berechtigten ungünstigere Regelung war jedoch nicht beabsichtigt. Den schriftlichen Unterlagen und den Beratungen kann insbesondere nicht entnommen werden, daß an dem maßgeblichen Zeitpunkt, in dem Zweifel begründet sein könnten, durch die neue sprachliche Fassung etwas geändert werden sollte. Der Senat kann auch nicht annehmen, daß der Gesetzgeber - oder gar die Verwaltung - gleichsam "stillschweigend" eine Änderung herbeiführen wollte, die sich eindeutig zuungunsten der Versorgungsberechtigten auswirken mußte. Demnach hat es sich lediglich um eine redaktionelle Änderung aus rein sprachlichen Gründen gehandelt.
Der Beklagte bestätigt im übrigen in seiner Revisionsbegründung, daß an eine sachlich-rechtliche Änderung nicht gedacht war, sondern daß lediglich eine "klarstellende" Fassung beabsichtigt war. Lag aber eine gefestigte Rechtsprechung des BSG zu der Auslegung der Vorschrift des § 41 Abs. 1 Satz 1 VerwVG vor, d. h. wurde diese Vorschrift mit einem bestimmten materiell-rechtlichen Inhalt ausgefüllt, dann konnte eine andere Gesetzesanwendung nur durch eine sachlich-rechtliche Änderung erreicht werden. Zumindest müßte aber gefordert werden, daß die beabsichtigte "Klarstellung" bei der Gesetzesvorbereitung und den Beratungen ihren Niederschlag gefunden hätte.
Zu dem gleichen, oben dargelegten Ergebnis führt auch der Wesensgehalt dieser Vorschrift. Eine Berichtigung gem. § 41 VerwVG greift in die Bestandskraft bindender Bescheide ein und rührt ebenso wie ein Eingriff in die Rechtskraft ergangener gerichtlicher Entscheidungen an die Rechtssicherheit. Infolgedessen muß sich eine Berichtigung in den engsten Grenzen halten; dies ist ständige Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG 1, 56, 60; 6, 288, 291; 29, 37, 40). Sie ergibt sich aus den Grundsätzen des Versorgungsrechts. Die Auffassung des Beklagten, daß eine Durchbrechung des Prinzips der Rechtskraft bereits dann gerechtfertigt sei, wenn eine zweifellos unrichtige Entscheidung zu dauernden Leistungen der Öffentlichkeit an einen Empfänger führen würde, der dem materiellen Recht nach mit Sicherheit keinen Anspruch auf diese Leistungen hat, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Ein Blick auf § 42 VerwVG und die damit unmittelbar zusammenhängende strenge Fristvorschrift des § 43 Abs. 2 VerwVG - wonach eine erneute Prüfung von Amts wegen nach Ablauf von fünf Jahren vom Tage der früheren Entscheidung an nicht mehr zulässig ist - zeigt bereits, daß der Gesetzgeber durchaus davon ausgegangen ist, daß fehlerhafte Entscheidungen, die bereits längere Zeit bestanden haben, auf die Dauer bestehen bleiben, und zwar sogar dann, wenn der Berechtigte Tatsachen, die für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung waren, wissenschaftlich falsch angegeben oder verschwiegen hat (vgl. § 42 Abs. 1 Nr. 3 VerwVG). Die Rücksicht auf die Allgemeininteressen gebietet es durchaus nicht, fehlerhafte begünstigende Verwaltungsakte im Versorgungsrecht auch dann aufzuheben, wenn sich die Fehlerhaftigkeit erst aufgrund neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse nach Jahren oder gar nach Jahrzehnten herausstellt. Der Vertrauensschutz des Berechtigten in den Bestand begünstigender Verwaltungsakte darf nicht geringer veranschlagt werden, insbesondere dann nicht, wenn der Berechtigte auf das Zustandekommen des früheren Bescheides keinen wesentlichen Einfluß gehabt hat. Nach Auffassung des Senats kann es dabei keinen Unterschied machen, ob es sich um ein Fortschreiten auf dem Wege der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse oder um neuartige Untersuchungsmethoden handelt, die zu neuen Erkenntnissen und als Folge davon zu einer Revidierung der früheren medizinischen Auffassung führen (vgl. Schönleiter-Hennig aaO). In beiden Fällen handelt es sich gleichermaßen darum, daß die frühere medizinische Auffassung durch ein Fortschreiten der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungen einem Wandel unterworfen ist. Ein Recht des Beklagten auf eine Berichtigung nach § 41 VerwVG läßt sich daraus nicht herleiten.
Die Feststellungen des LSG reichen für eine Entscheidung des Senats nach § 170 Abs. 1 SGG aus. Die im Institut für Humangenetik der Universität Düsseldorf durchgeführten Untersuchungen, die den sicheren Nachweis erbracht haben, daß beim Kläger eine anlagebedingte genetische Anomalie (sog. Klinefelter-Syndrom) vorliegt, sind in der Weltliteratur erstmalig 1959 beschrieben worden. In den Jahren 1950/52 hat es dagegen noch keine medizinisch-wissenschaftliche Möglichkeit gegeben, die richtige Diagnose zu stellen. Müssen aber die aufgrund der späteren medizinischen Forschungsmethoden gewonnenen Erkenntnisse unberücksichtigt bleiben, dann erweist sich das Urteil des LSG als zutreffend. Die Revision des Beklagten war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen