Orientierungssatz

Das LSG überschreitet die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn seine Feststellungen durch den Inhalt der dafür angeführten Beweismittel - hier der ärztlichen Gutachten und Äußerungen sowie der Arbeitgeberauskünfte - nicht gedeckt werden oder wenn die Beweismittel für eine abschließende Würdigung nicht ausreichen, weil es sich hätte gedrängt fühlen müssen, eine weitere Sachaufklärung durchzuführen, zB weitere Fachgutachten einzuholen oder die schon gehörten Sachverständigen zu einzelnen Punkten ihrer Gutachten eingehender zu befragen.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, S. 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1247 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1246 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 17.07.1973; Aktenzeichen L 10 J 475/72)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 13.10.1972; Aktenzeichen S 8 J 107/72)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Juli 1973 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beklagte macht mit der nicht zugelassenen Revision wesentliche Verfahrensmängel des Landessozialgerichts (LSG) durch Verstöße gegen §§ 103, 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geltend. Sie hatte mit Bescheid vom 29. Februar 1972 die Gewährung von Versichertenrente mangels Berufsunfähigkeit (BU) oder Erwerbsunfähigkeit (EU) abgelehnt, da der Kläger noch leichte bis mittelschwere Arbeiten ganztägig verrichten könne. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das LSG hat die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen EU ab Dezember 1971 verpflichtet (Urteil vom 17. Juli 1973). Nach seinen Feststellungen war der 1922 geborene Kläger als Landarbeiter, Zeitungsbote, Lagerarbeiter, Gärtnereiarbeiter und Hausmeister tätig. Seit 1960 habe er keine geregelte Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt. In den letzten Jahren habe er gelegentlich wöchentlich an zwei Stellen zwei bis drei Tage je zwei bis drei Stunden täglich Gartenarbeiten ausgeführt. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei durch eine beiderseitige, durch Brillenglas korrigierbare Sehschwäche, durch spondylotische Veränderungen der Hals- und Lendenwirbelsäule, durch eine beiderseitige Senkfußbildung und durch Minderbegabung eingeschränkt. Nach den medizinischen Befunden auf rein körperlichem Gebiet sei der Kläger in der Lage, noch mittelschwer körperlich im Freien und in geschlossenen Räumen im Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen zu arbeiten. Die bei ihm bestehende Schwäche seiner geistigen Kräfte hindere ihn jedoch, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben. Der leichte Schwachsinn sei mit einer leichten Verlangsamung verbunden. Charakterliche Auffälligkeiten seien nicht vorhanden. Die Denkfähigkeit sei entsprechend gemindert. Er sei unkritisch und urteilsschwach.

Das LSG hatte das Gutachten des Dr. S vom 29. August 1972, das nervenfachärztliche Gutachten des Dr. F vom 27. März 1973 und den Bericht des behandelnden Nervenfacharztes Dr. D vom 18. Juli 1972 herangezogen sowie Dr. D in der mündlichen Verhandlung am 27. April 1973 gehört. Dr. S hat ausgeführt, der Kläger könne bis mittelschwere Arbeiten körperlicher Art und einfache Arbeiten mit einfacher Verantwortung geistiger Art im Freien und in geschlossenen Räumen im Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Gehen täglich 8 Stunden mit den üblichen Arbeitspausen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten. Dr. F hat nach zweitägiger stationärer Untersuchung ausgeführt, der Kläger könne leichte bis mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen oder im Wechsel im Freien und in geschlossenen Räumen in voller Schicht ausführen; Akkordarbeiten, Arbeiten unter Zeitdruck und mit häufigem Schichtwechsel solle er nicht ausführen; geistige Arbeiten seien nicht möglich, auch nicht solche mit einfacher Verantwortung.

In dem Bericht des Dr. D ist u. a. angegeben, er habe den Kläger am 5. Mai, 16. Juni und 4. Juli 1972 untersucht; weitere fachärztliche Befunde hätten ihm nicht zur Verfügung gestanden; wie besonders die Vorgeschichte ergebe, handele es sich um einen debilen Psychopathen. In der mündlichen Verhandlung äußerte Dr. D u. a., er habe den Kläger von Mai bis August 1972 behandelt. Zu der Auffassung, daß der Kläger arbeitsunfähig sei, höchstens Gelegenheitsarbeiten machen könne, komme er aus folgenden Gründen: Der Kläger sei als Debiler nicht fähig, sich zusammenzunehmen, gewisse körperliche Beschwerden auf Grund des Bandscheibenschadens und des Hüftgelenkleidens zu überwinden. Eine Geisteskrankheit im eigentlichen Sinn sei nicht vorhanden. Es zeigten sich allerdings Verstimmungszustände, weil der Kläger einsehe, daß er überall versage.

Das LSG hat weiter ausgeführt, wenn Dr. S meine, die praktische Lebensbewährung sei vorhanden, so sei das eine rein theoretische Betrachtungsweise; ihr gegenüber gebe es den Ausführungen des Dr. D den Vorrang, daß sich beim Kläger auch Verstimmungszustände bemerkbar machten, weil er einsehe, daß er überall versage.

Schließlich hat das LSG noch auf Arbeitgeberauskünfte über kurze Beschäftigungen des Klägers in den Jahren 1961 und 1962 hingewiesen.

Die Beklagte beanstandet mit der Revision die Feststellungen des LSG zur Erwerbsfähigkeit des Klägers. Sie verweist auf die Gutachten mit Befunden und medizinischen Beurteilungen durch Dr. S und Dr. F Sie führt aus, die Behauptung des Dr. D der Kläger sei arbeitsunfähig und höchstens zu Gelegenheitsarbeiten fähig, sei nur mit vier Sätzen begründet worden. Sie meint, derartige Behauptungen eines sachverständigen Zeugen, der den Kläger nur drei- oder viermal gesehen habe, könnten niemals die Grundlage für die Annahme von EU abgeben. Wenn das LSG ihnen den Vorzug gegenüber dem wissenschaftlichen, eingehend begründeten Gutachten von Dr. F hätte geben wollen, so hätte es ein neues Gutachten durch einen unabhängigen Gutachter einholen müssen. Der Kläger biete das typische Bild eines arbeitsscheuen Psychopathen. Nach den meisten der beigezogenen Arbeitgeberauskünften, mit denen das LSG die Behauptungen des Dr. D untermauern wolle, habe der Kläger Tariflohn erhalten, als vollwertige Arbeitskraft gegolten und selbst die Arbeitsverhältnisse gelöst.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Beklagte hat mit ihren Rügen vorliegende wesentliche Verfahrensmängel aufgezeigt. Das LSG hat die §§ 103, 128 Abs. 1 SGG verletzt. Die Revision ist daher zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Sie ist auch begründet.

Die Beklagte macht in erster Linie geltend, das LSG habe die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung bei der Beurteilung der medizinischen Sachverständigengutachten und der Äußerungen des Dr. D sowie der Arbeitgeberauskünfte überschritten. Das LSG ist zwar in der Bewertung und Beurteilung der einzelnen Beweismittel bei der Feststellung des Sachverhalts frei. Es überschreitet aber die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn seine Feststellungen durch den Inhalt der dafür angeführten Beweismittel - hier der ärztlichen Gutachten und Äußerungen sowie der Arbeitgeberauskünfte - nicht gedeckt werden oder wenn die Beweismittel für eine abschließende Würdigung nicht ausreichen, weil es sich hätte gedrängt fühlen müssen, eine weitere Sachaufklärung durchzuführen, zB weitere Fachgutachten einzuholen oder die schon gehörten Sachverständigen zu einzelnen Punkten ihrer Gutachten noch eingehender zu befragen.

Die Äußerungen des Dr. D waren für die Überzeugungsbildung des LSG nicht ausreichend und nicht geeignet, die Gutachten, insbesondere das von Dr. F zu entkräften.

Nach den von Dr. D angegebenen Behandlungstagen (5. Mai, 15. Juni und 4. Juli 1972, möglicherweise noch im August 1972) hat es sich nicht um eine längere und durch häufige und eingehende fachärztliche Untersuchungen gekennzeichnete Behandlung gehandelt. Dr. D ist nach seiner Zusammenfassung in dem Bericht vom 18. Juli 1972 bei seiner Beurteilung des Klägers in erheblichem Maße von der Vorgeschichte ausgegangen. Insofern hatte er als behandelnder Arzt keinen größeren Einblick in die medizinische Vorgeschichte des Klägers als Dr. F bei der stationären Untersuchung. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hat Dr. D seine Auffassung, der Kläger könne höchstens Gelegenheitsarbeit verrichten, nicht mit einzelnen, bei der Behandlung gefundenen Auffälligkeiten oder Besonderheiten, sondern lediglich mit den oben angeführten kurzen Sätzen begründet. Er hat nicht angegeben, welche Untersuchungsmethoden er im einzelnen angewandt hat und welche Ergebnisse diese jeweils gehabt haben, um zu seiner Beurteilung der geistigen Leistungsfähigkeit des Klägers zu kommen. Dr. S und Dr. F haben dies hingegen in ihren Gutachten ausführlich dargelegt. Zwar hatte das LSG in seinem Beschluß über die Ladung des Dr. D als "Sachverständiger" als Beweisthema für dessen Vernehmung bloß angegeben; Erläuterung seiner fachärztlichen Bescheinigung vom 15. Juni 1972. In dieser Bescheinigung, die Dr. D am Tag der zweiten Untersuchung des Klägers ausgestellt hat und die im Klageverfahren vorgelegt wurde, heißt es, der Kläger leide an einer chronischen Ischias beiderseits und einer Hüftarthrose rechts, weniger links; außerdem sei er körperlich schwächlich und in nervöser Beziehung sehr sensibel mit vegetativ-dystonischer Symptomatik; infolge seiner chronischen Ischias und seines Hüftgelenkleidens dürfe er nicht stehen und nicht tragen; er sei praktisch arbeitsunfähig, und zwar schon seit längerer Zeit. Nachdem Dr. D in seinem Bericht vom 18. Juli 1972 angegeben hatte, daß ihm weitere fachärztliche Befunde außer seiner eigenen Untersuchung für die Diagnose nicht zur Verfügung standen, hätte das LSG ihn näher befragen müssen, wenn es bei seiner Entscheidung den Äußerungen des Dr. L mehr Gewicht als nur einer Erläuterung der kurzen Bescheinigung beimessen wollte.

Zur Bedeutung von Äußerungen eines Terminarztes hat das Bundessozialgericht (BSG) schon in der Entscheidung vom 21. Januar 1959 - 11/9 RV 206/57 - (SozR Nr. 42 zu § 128 SGG) ausgeführt, daß das Gutachten eines Terminarztes, das nur auf die Untersuchung während einer Gerichtsverhandlung gestützt ist und deshalb nur auf Untersuchungsmethoden beruht, wie sie bei einer solchen Untersuchung möglich sind, dem Gericht in der Regel kein überzeugendes Bild vom Gesundheitszustand des Untersuchten vermitteln kann, wenn es nicht an Unterlagen über frühere eingehende Untersuchungen (Gutachten, Röntgenbilder, Krankenpapiere) anknüpft. Es ist unklar, ob Dr. D als "Sachverständiger", wie es in der Ladung heißt, gehört werden sollte oder ob er als "sachverständiger Zeuge" seine Bescheinigung erläutern sollte. Jedenfalls ist nicht zu erkennen, daß er wesentlich mehr medizinische Befunde und Unterlagen zur Verfügung hatte als ein Terminsgutachter, wie in der Entscheidung des BSG ausgeführt. Zwar hatte er den Kläger vorher einige Male innerhalb weniger Monate gesehen und untersucht, aber weder seiner Bescheinigung vom 15. Juni 1972 noch seinem Bericht vom 18. Juli 1972 noch seinen mündlichen Erläuterungen ist zu entnehmen, ob seine Untersuchungen des Klägers so umfassend und eingehend waren, daß damit die Schlußfolgerung des Dr. F hätte widerlegt werden können. Das LSG hat nicht beachtet, daß Dr. D im Grunde Behauptungen aufgestellt, sie aber nicht medizinisch-wissenschaftlich begründet hat. Damit können medizinisch begründete Gutachten nicht ohne weiteres ausgeräumt werden. Das Gericht hätte zuvor eine medizinische Begründung für die Behauptungen des Dr. F einholen müssen. Erst dann hätte es abweichende medizinische Auffassungen im Zuge seiner Beweiswürdigung beurteilen und abwägen können.

Das LSG führt gegen das Gutachten des Dr. F an, der Sachverständige verkenne offenbar, daß nicht nur Krankheit, sondern auch Schwäche der körperlichen und geistigen Kräfte EU bewirke. Das LSG hat dem Sachverständigen indes nur die Fragen vorgelegt: "Welche Gesundheitsschäden, insbesondere auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet, bestehen bei dem Kläger? Besteht insbesondere eine neurotische Fehlhaltung...? Welche Beeinträchtigungen ergeben sich hieraus für die Leistungsfähigkeit des Klägers? ..." Der Sachverständige hatte sich nur hierzu zu äußern. Es war danach nicht seine Aufgabe, den Wortlaut von § 1246 Abs. 2 Satz 1 und § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) heranzuziehen und Näheres über die Unterschiede zwischen Krankheit, anderen Gebrechen, Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte für den Fall des Klägers auszuführen. Wenn das LSG der Auffassung war, das Gutachten sei nicht vollständig, weil Dr. F sich nicht über eine Schwäche der geistigen Kräfte des Klägers im Gegensatz zu Geisteskrankheiten geäußert habe, hätte es ihn dazu näher befragen müssen.

Schließlich konnte die Beklagte mit Recht die Beurteilung der Kurzfristigkeit der Arbeitsverhältnisse des Klägers seit 1961 und die Bewertung der Arbeitgeberauskünfte durch das LSG bemängeln. Aus der Tatsache, daß Arbeitsverhältnisse nur kurz gedauert haben, kann nicht schon gefolgert werden, der Beschäftigte sei gesundheitlich oder wegen Schwachsinns nicht imstande gewesen, längere Beschäftigungsverhältnisse durchzuhalten. Zu einer solchen Schlußfolgerung bedürfte es auch ärztlicher Zeugnisse oder Meldungen der Arbeitsunfähigkeit aus der Zeit der Beschäftigungen.

Soweit das LSG meint, die Auffassung von Dr. D decke sich mit einem Gutachten von 1953, ist nicht im einzelnen begründet worden, inwiefern das 20 Jahre zurückliegende Gutachten die Gutachten des Dr. S und des Dr. F von 1972 und 1973 zurückdränge, da es hier nicht auf die damalige Leistungsfähigkeit, sondern auf die seit 1972 bestehende ankommt.

Das angefochtene Urteil war somit mangels gesetzmäßiger Beweiswürdigung und ausreichender Sachaufklärung aufzuheben. Der Rechtsstreit war zu weiteren Ermittlungen an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651759

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